Tuesday, May 03, 2011

Zum Welttag der Pressefreiheit: kleine statistische Anmerkung zu Art 10 EMRK-Urteilen

Heute ist "Welttag der Pressefreiheit" (siehe auch die Erklärung des UN-Generalsekretärs). In den vergangenen Jahren wurden (auch) aus diesem Anlass immer wieder Statistiken des EGMR zitiert, nach denen Österreich gleich nach der Türkei an zweiter Stelle der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung verurteilten Staaten steht.

Nimmt man die Gesamtzahl der Verurteilungen wegen Verletzungen des Art 10 EMRK seit der Etablierung des EGMR in seiner neuen Form 1998, so liegt Österreich tatsächlich mit 23 Fällen im Zeitraum 1998-2010 noch immer auf dem zweiten Platz; der Abstand zur Türkei (197 Verurteilungen) ist allerdings beträchtlich (nach den ersten Monaten 2011 hat die Türkei mittlerweile schon die Zahl von 200 Verurteilungen überschritten; siehe auch meine Übersicht über die Art 10 EMRK-Urteile).

Wirft man aber einen näheren Blick auf diese Zahlen, so zeigt sich, dass die Verurteilungen Österreichs in den letzten Jahren deutlich weniger wurden: 2008 gab es nur eine, in den Jahren 2009 und 2010 gar keine Verurteilung. Dafür haben die Finnen "aufgeholt": in den letzten zwei Jahren kommen sie auf die dritthöchste Zahl von Verurteilungen, nach der Türkei und Russland. Ist also Finnland nun "bösester EU-Staat in Sachen Pressefreiheit"? Meines Erachtens kann man diesen Schluss sicher nicht ziehen.

Denn die Zahlen der Art 10 EMRK-Verurteilungen durch den EGMR sind, falls überhaupt, nur äußerst begrenzt aussagekräftig. Die Gründe dafür sind vielfältig, hier nur stichwortartig ein paar Beispiele:
  • unterschiedliche nationale Rechtssysteme und -traditionen, die den Zugang zum EGMR unterschiedlich schwierig gestalten können (zB mehr oder weniger komplexer innerstaatlicher Instanzenzug, den es vor der EGMR-Anrufung auszuschöpfen gilt; eine Zeitung im Vereinigten Königreich muss etwa schon ziemlich standhaft sein, um defamation oder libel-Verfahren bis zum Ende durchzuhalten; das in Österreich typische zweiinstanzliche medienrechtliche Verfahren ist dagegen schon von den Verfahrenskosten her ein wahres Diskontangebot);
  • die "Stichprobengröße" ist für statistische Aussagen viel zu gering, historische oder auch verfahrenstechnische Zufälligkeiten (wie zB Parallelverfahren vor den nationalen Gerichten geführt werden, ob von mehreren Betroffenen jeweils einzeln oder gemeinsam Beschwerde erhoben wird) können entscheidenden Einfluss haben; 
  • die den Urteilen zugrundeliegenden Sachverhalteliegen in der Regel mindestens drei, manchmal auch mehr Jahre zurück, aus den Verurteilungen in bestimmten Jahren lässt sich nicht auf zu bestimmten Jahren erfolgte Verstöße schließen (das hängt schon mit unterschiedlichen Verfahrensdauern vor den nationalen Gerichten zusammen, aber auch vom EGMR werden die Entscheidungen nicht in geordneter chronologischer Reihenfolge getroffen); auch hier gibt es aufgrund der geringen absoluten Zahl von Verurteilungen kein "averaging out";
  • Nicht alle Art 10 Fälle sind Mediensachen: ob und wie Anwälte Werbung machen dürfen, wird genauso nach Art 10 EMRK beurteilt wie Transparente oder Parolen auf Demonstrationen (zB auch wenn man dem französischen Präsidenten mitteilt: "Hau ab, du armer Depp!" ["casse toi pov'con"]);
  • Dafür sind nicht alle "Pressefreiheitsfälle" auch Art 10 EMRK-Fälle: die berühmten "Caroline"-Urteile etwa sind - genauso wieder Fall Mosley, in dem das Urteil am kommenden Dienstag veröffentlicht wird - Verfahren, in denen die Verletzung des Art 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens) durch die Presse geltend gemacht wird;
  • Die Verurteilungen sind auch beim EGMR nur die Spitze des Eisbergs; aus den Zahlen geht nicht hervor, in wievielen Fällen keine Verletzung festgestellt wird, vor allem aber wie viele Fälle schon vorweg als unzulässig zurückgewiesen werden und wie oft es etwa nach erhobener Beschwerde zu einer Einigung zwischen dem Beschwerdeführer und dem betroffenen Europarats-Mitgliedstaat kommt, sodass das Verfahren nicht fortgesetzt wird.
Die Zahlen über die Verurteilungen habe ich aus den Jahresberichten des EGMR; eine vom Gerichtshof erstellte Analyse der Rechtsprechung des Jahres 2010 ist hier; ich habe die Zahlen aus den Jahresberichten kommentarlos in ein Spreadsheet gestellt, aus dem man die Zahl der Verurteilungen nach Art 10 EMRK in den letzten Jahren, verteilt auf die einzelnen Staaten, ersehen kann.

PS - nur zur Sicherheit: hier geht es um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der kein "EU-Gericht" ist und auch nicht als EuGH abgekürzt wird (was nicht nur die Zeitung "Österreich" gelegentlich verwechselt, sondern immerhin auch die amtliche Zeitung der Republik Österreich).

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