Dass fast eine halbe Million Menschen im Konsultationsverfahren zu den BEREC-Leitlinien Stellung genommen haben, ist natürlich ein deutliches politisches Signal. Das ändert aber nichts daran, dass die tatsächliche Bedeutung der Leitlinien eine andere (und zwar: deutlich geringere) ist als sie etwa den von der US-Regulierungsbehörde FCC erlassenen Regelungen zum "Open Internet" zukommt: Während die FCC Regelungen schafft, können die BEREC-Leitlinien nur die bestehenden Regeln der Netzneutralitäts-Verordnung" unverbindlich auslegen. Daher zunächst ein paar Basics zu dieser Verordnung, bevor ich mehr zu den Leitlinien schreibe:
Die "Netzneutralitäts-Verordnung"
Seit 30. April dieses Jahres gilt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - unmittelbar, ohne nationale Umsetzungsmaßnahmen - die Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet*), oft auch kurz als "Netzneutralitäts-Verordnung" bezeichnet (obwohl das Wort Netzneutralität darin gar nicht vorkommt). Der Verordnungstext ist Ergebnis einer mühsamen Kompromissfindung im komplexen Gesetzgebungsverfahren der EU (ich habe dazu auch einiges gebloggt), und er ist auch deshalb in manchen Punkten nicht so klar, wie es für die reibungslose Anwendung in der Praxis wünschenswert wäre.
Art. 3 der Verordnung verlangt von den Anbietern von Internetzugangsdiensten ("IAS") die Gleichbehandlung des gesamten Verkehrs - "ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, sowie unabhängig von Sender und Empfänger, den abgerufenen oder verbreiteten Inhalten, den genutzten oder bereitgestellten Anwendungen oder Diensten oder den verwendeten Endgeräten." Angemessene Verkehrsmanagementmaßnahmen sind zulässig, und auch das Anbieten von "Spezialdiensten" wird explizit erlaubt (auch wenn die Verordnung das Wort "Spezialdienste" vermeidet und sie etwas verunglückt umschreibt: "andere Dienste, die keine Internetzugangsdienste sind, [...] die für bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste oder eine Kombination derselben optimiert sind"). Schließlich verpflichtet die Verordnung in ihrem Art. 4 die Anbieter von Internetzugangsdiensten auch zu gewissen Transparenzmaßnahmen.
Den nationalen Regulierungsbehörden (NRAs) wird in Art. 5 der Verordnung die Aufgabe übertragen, die Einhaltung der in Art. 3 und 4 enthaltenen Verpflichtungen zu überwachen und durchzusetzen. Hier kommt nun auch BEREC ins Spiel (deutsch GEREK, das durch die Verordnung (EG) Nr. 1211/2009 eingerichtete Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation): "Um einen Beitrag zur einheitlichen Anwendung dieser Verordnung zu leisten", so Art. 5 Abs. 3 der Netzneutralitäts-Verordnung, "gibt das GEREK spätestens bis zum 30. August 2016, nach Anhörung der Interessenträger und in enger Zusammenarbeit mit der Kommission, Leitlinien für die Umsetzung der Verpflichtungen der nationalen Regulierungsbehörden nach diesem Artikel heraus."
Die BEREC-Leitlinien zur Netzneutralität
Pünktlich am letzten Tag der dafür eingeräumten Frist hat BEREC nun die Leitlinien veröffentlicht (Leitlinien, Presseaussendung, Präsentation), zugleich mit einem Bericht über die durchgeführte Konsultation. Die Leitlinien waren in den Grundzügen ja schon durch das Konsultationsdokument bekannt und wurden - erwartbar - nach der Konsultation zwar angepasst, aber weder strukturell noch in der Substanz wesentlich geändert. Auch die Bezeichnung blieb gleich: "BEREC Guidelines on the Implementation by National Regulators of European Net Neutrality Rules" (BEREC hat sich, was man positiv anmerken muss, bei den Begriffen für einen No-Nonsense-Zugang entschieden: "Netzneutralität" und "Spezialdienste" werden auch als solche bezeichnet, selbst wenn die Verordnung diese Begriffe sorgfältigst vermieden hat).
- Adressat: nationale Regulierungsbehörden
Entsprechend der Vorgabe in der Verordnung richten sich die Leitlinien an die nationalen Regulierungsbehörden: diese sollen die ihnen durch Art. 5 der Verordnung übertragenen Aufgaben der Aufsicht und Durchsetzung der Art. 3 und 4 der Verordnung möglichst einheitlich handhaben. Etwas anordnen kann BEREC nicht, einen gewissen Hebel für die faktische Wirksamkeit der Leitlinien bildet Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1211/2009: demnach tragen die Regulierungsbehörden allen von BEREC verabschiedeten Leitlinien "weitestgehend Rechnung."
- Inhalt
Die Leitlinien lesen sich über weite Strecken wie ein juristischer Kommentar zu einem neu geschaffenen Gesetz: da wird in vielen Worten der - auch wiedergegebene - Text der Verordnung und der Erwägungsgründe einfach vorsichtig neu formuliert, etwas erweitert um Querverweise, Zitate und Fußnoten, einfach um den spröden Rechtstext besser erschließen zu können. Wo man sich halbwegs sicher ist, werden Beispiele genannt, aber in strittige Fragen bleibt man etwas vage und wartet dann doch lieber die Rechtsprechung ab, oder zumindest die ersten Erfahrungen aus der praktischen Anwendung.
In ähnlicher Wiese sind die Leitlinien aufgebaut: Text der Verordnung, Text der Erwägungsgründe, dann Satz für Satz/Absatz für Absatz noch einmal die - sprachlich etwas vereinfachte und entflochtene - Wiederholung des im Rechtstext und den Erwägungsgründen Gesagten, das dann - wo sich der Norminhalt vergleichsweise leicht erschließen lässt - auch mit Beispielen angereichert wird. Bei heiklen Fragen kann es dann auch etwas unscharf werden, das erkennt man an den Konjunktiven (zB "might" in Abs. 73, "could" in Abs. 115), oder wenn auf die umfassende Beurteilung anhand mehrerer Kriterien ("comprehensive assessment", zB in Abs. 46) oder auf eine notwendige Einzelfall-Prüfung ("case-by-case" in Abs. 112) verwiesen wird.
Dennoch enthalten die Leitlinien viele brauchbare Erläuterungen zur Verordnung und auch einige Entscheidungen, die man von BEREC - notorisch mittlerweile auch kein monolithischer Block einheitlicher Interessen mehr - gar nicht erwartet hätte. Zu zero-rating etwa werden in den Abs. 40 bis 42 vergleichsweise konkrete Positionen eingenommen: eine Praxis des zero-rating, bei der alle anderen Anwendungen nach Erreichen des data caps blockiert oder verlangsamt werden, soll nach Auffassung von BEREC demnach eindeutig eine Verletzung der Verordnung darstellen. Bei allen anderen Varianten des zero-rating ist umfassende Abwägung notwendig, die zB auch die Marktpositionen der Beteiligten berücksichtigen soll.
Zur zweiten großen Streitfrage, den Spezialdiensten, sind die Leitlinien etwas vorsichtiger: zunächst wird in einer merkwürdig kontextfreien Fußnote (Fn. 26 zu Abs. 101) festgehalten, dass Network-Slicing in 5G-Netzwerken für Spezialdienste verwendet werden kann - mehr ein Signal an die Industrie ("ihr dürft in diese Richtung weiterarbeiten!") als von aktueller Bedeutung. Auch das im Konsultationsdokument enthaltene Erfordernis logischer Trennung zwischen Spezialdiensten und Internetzugangsdiensten in Abs. 110 wurde etwas aufgeweicht: nunmehr ist die diese logische Trennung nur mehr ein Beispiel (andere Beispiele gibt es aber nicht). Ein wenig schlägt auch die Ratlosigkeit durch, die die gesamte Spezialdienste-Diskussion kennzeichnet: wir wissen eigentlich nicht, von welchen (kommenden) Diensten wir da reden (Abs. 112: "we do not know what specialised services may emerge in the future").
Aktuell werden nur Voice over LTE, lineare IP-basierte Rundfunkdienste mit besonderen Dienstequalitätsanforderungen und Echtzeit-Gesundheitsdienste als mögliche Spezialdienste genannt, sowie die in Erwägungsgrund 16 etwas kryptisch erwähnten "einigen" Dienste, "die einem öffentlichen Interesse entsprechen" und Diensten der Maschine-Maschine-Kommunikation. Für VPNs sagt Abs. 115: es kommt drauf an.
Dass für das Anbieten von Spezialdiensten keine ex-ante-Bewilligung der Regulierungsbehörde erforderlich ist, halten die Leitlinien ausdrücklich fest, ist aber ebenso eine Selbstverständlichkeit wie der vollkommen gehaltfreie doppelte Hinweis auf die Grundrechtecharta in Abs. 20 und 82. Dieser Hinweis hat aber immerhin die offenbar gewünschte symbolische Wirkung: Markus Beckedahl schreibt auf netzpolitik.org etwa, dass der Hinweis in Abs. 20 der Leitlinien "zu einem späteren Zeitpunkt noch entscheidend werden [könnte], wenn der Europäische Gerichtshof über Netzneutralität zu entscheiden hat." Rechtlich kann man dazu nur sagen: nein, dieser Hinweis wird nie entscheidend sein, er ist nur wörtlich von Erwägungsgrund 33 der Verordnung - wo er genauso überflüssig ist - abgeschrieben. Ob die Verordnung tatsächlich die Grundrechte wahrt, wird der EuGH nicht anhand dieses Erwägungsgrunds, und noch weniger anhand der Wiederholung des Erwägungsgrunds in den Leitlinien, entscheiden.
- Rechtsfolgen der Leitlinien
Damit bin ich auch bei den Rechtsfolgen: Wie schon erwähnt, schaffen die Leitlinien kein neues Recht; was nicht schon aus der Verordnung abzuleiten ist, kann durch die Leitlinien nicht eingeräumt werden. Weder räumen die Leitlinien Endnutzern oder Zugangsdiensteanbietern Rechte ein, noch erlegen sie ihnen Verpflichtungen auf (vgl. zu den - rechtstechnisch ähnlich verankerten - Marktanalyse-Leitlinien der Kommission das Urteil des EuGH vom 12.05.2011, C-410/09, Polska Telefonia Cyfrowa). Dass die Regulierungsbehörden den Leitlinien "weitestgehend Rechnung" zu tragen haben, gebietet im Streitfall eine Auseinandersetzung mit den Leitlinien, nicht aber deren "Befolgung" - wobei festzuhalten ist, dass die Leitlinien wirkliche Streitfälle ohnedies offen lassen und der Einzelfall-Beurteilung der Regulierungsbehörden überantworten.
Und festzuhalten ist auch, dass die in den Leitlinien getroffenen (eher spärlichen) Festlegungen, etwa zu zero-rating, nicht sicherstellen können, dass Anbieter von Internetzugangsdiensten sich daran halten werden. Es ist durchaus denkbar, dass etwa ein Netzbetreiber eine Form des zero-rating praktiziert, die nach Ansicht von BEREC nach Abs. 41 der Leitlinien unzulässig ist. Will die Regulierungsbehörde die Rechtsansicht der Leitlinien durchsetzen, muss sie gegen diesen Anbieter nach Art. 5 der Verordnung vorgehen - und natürlich hat der Anbieter gegen die Entscheidung der Regulierungsbehörde einen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 4 der Rahmenrichtlinie.
Letztlich wird es an dem zur Auslegung des Unionsrechts zuständigen EuGH liegen, die sich aus der Netzneutralitäts-Verordnung ergebenden Rechte und Pflichten abzugrenzen. Der EuGH wird die Leitlinien bei der Auslegung berücksichtigen, vor allem wo es um technische Fragen geht (etwa Latenz oder jitter bei der Dienstequalität), gebunden ist er daran freilich nicht. Wiederum anders als in den USA ("Chevron deference"), gibt es im Europarecht nämlich auch keinen Grundsatz, wonach sich ein Gericht in der Regel an jene Auslegung einer Rechtsvorschrift halten muss, die von der Behörde vertreten wird, die diese Rechtsvorschrift zu vollziehen hat.
Dass die in den BEREC-Leitlinien vertretenen Rechtsansichten nicht widerspruchslos von allen Betroffenen geteilt werden, zeigt die Stellungnahme von ETNO, eines Verbands vor allem großer europäischer Netzbetreiber. Dieser Verband und seine Mitglieder werden, so heißt es in der Stellungnahme, die Leitlinien gründlich analysieren und dabei besonders darauf achten, ob sie mit der Netzneutralitäts-Verordnung und den darin den Regulierungsbehörden zugewiesenen Aufgaben konsistent sind. Das ist diplomatisch ausgedrückt, heißt aber nicht viel mehr als: wir werden uns wohl vor Gericht sehen.
Vielleicht muss ja das Internet demnächst wieder einmal gerettet werden.
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*) Voller Titel: Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union; der zweite, Roaming betreffende Teil der VO ist aber hier irrelevant
PS (01.09.2016): eine redigierte und etwas gekürzte Fassung dieses Beitrags ist auf lto.de zu lesen.
*) Voller Titel: Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union; der zweite, Roaming betreffende Teil der VO ist aber hier irrelevant
PS (01.09.2016): eine redigierte und etwas gekürzte Fassung dieses Beitrags ist auf lto.de zu lesen.