Wesentlicher Bestandteil der deutschen rundfunkrechtlichen Folklore ist der Grundsatz der Staatsfreiheit (oder auch Staatsferne). Das mag für einen Außenstehenden oft schwer nachvollziehbar sein, insbesondere wenn man einen Blick auf die Organisationsstruktur der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wirft, aber das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde, diesen Grundsatz zu betonen (fast möchte man anmerken: wider manche Evidenz), zB im
Urteil vom 12. März 2008, 2 BvF 4/03, so:
"Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG fordert ... die Staatsfreiheit des Rundfunks. Es ist dem Gesetzgeber daher versagt, Regelungen zu treffen, die zulassen, dass der Staat unmittelbar oder mittelbar ein Unternehmen beherrscht, das Rundfunksendungen veranstaltet. ... Die Parteien weisen verglichen mit anderen gesellschaftlichen Kräften eine besondere Staatsnähe auf. Sie sind ihrem Wesen nach auf die Erlangung staatlicher Macht ausgerichtet und üben entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der obersten Staatsämter aus. ... Der Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks ist vom Gesetzgeber daher grundsätzlich auch bei der Beteiligung von politischen Parteien an der Veranstaltung und Überwachung von Rundfunk zu beachten." [Ein Grundsatz also, der
grundsätzlich zu beachten ist!]
Wie schon - etwas versteckt - in diesem Blog vermerkt (
hier, zweiter Bulletpoint), spitzt sich in Deutschland derzeit der Streit um die Weiterbestellung von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender zu. Roland Koch, hessischer Ministerpräsident und zugleich
stellvertretender Vorsitzender des ZDF-Verwaltungsrats, will die Vertragsverlängerung verhindern; dagegen gibt es juristisch wohlbegründete offene Briefe (u.a.
hier und
hier) und viele weitere Stellungnahmen; herauszuheben ist wieder einmal ein
Kommentar von Stefan Niggemeier. Ausgehend von einem Satz im offenen Brief der Staatsrechtler
("Was geschieht, wenn es die Garantie der Staatsfreiheit nicht gibt, wird uns derzeit am Beispiel anderer europäischer Staaten vor Augen geführt.") hier eine juristische Anmerkung zur österreichischen Situation:
Das österreichische Rundfunkrecht kennt die besondere Ausprägung des Grundsatzes der Staatsfreiheit, wie er in Deutschland - zumindest auf dem Papier - zelebriert wird, tatsächlich nicht. Zwar ist die österreichische Verfassungsrechtslage vielleicht noch deutlicher ist als jene in Deutschland, denn immerhin haben wir ein
Bundesverfassungsgesetz über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks, nach dem "die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme sowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe" zu gewährleisten ist, während sich die deutschen rundfunkrechtlichen Theoriegebilde aus dem einfachen Satz in
Art 5 Grundgesetz ableiten, wonach die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film gewährleistet werden. Dennoch hat die "Staatsfreiheit" in Österreich in der Rechtsprechung nicht einmal annähernd ein vergleichbares Gewicht erhalten wie in Deutschland. Der Verfassungsgerichtshof hat insbesondere auch ausgesprochen, dass
Art I Abs 2 BVG-Rundfunk kein spezifisches Grundrecht schafft, sondern nur den Bundesgesetzgeber zur gesetzlichen Sicherstellung der Unabhängigkeit [damals nur:] des ORF verpflichtet (
VfSlg 12.344/1990).
Für die Organe des ORF gilt ein "Politikerverbot", das in
§ 20 Abs 3 ORF-G für den Stiftungsrat,
§ 28 Abs 2 ORF-G für den Publikumsrat und
§ 26 Abs 2 ORF-G für den Generaldirektor, die Direktoren und die Landesdirektoren näher ausgeführt wird.
Über die Bestellung von Direktoren entscheidet gemäß
§ 21 Abs 1 Z 5 ORF-G - auf Vorschlag des Generaldirektors - der Stiftungsrat, dessen Mitglieder dabei (wie bei ihrer gesamten Tätigkeit)
"dieselbe Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit wie Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft" haben (
§ 20 Abs 2 ORF-G; siehe zur dabei geforderten "intelligenzmäßigen Kapazität" schon
hier). Die Mitglieder des Stiftungsrates sind dabei an keine Weisungen und Aufträge gebunden (
§ 19 Abs 2 ORF-G).
Wie sieht die Unabhängigkeit und Politikferne nun an einem konkreten Beispiel aus?
Nehmen wir an, dass sich -
vollkommen überraschend - eine Direktorin des ORF
beruflich verändern will und daher ihren Direktoren-Job aufgibt. In diesem Fall muss der Generaldirektor die Funktion mit einer Bewerbungsfrist von vier Wochen ausschreiben (
§ 27 Abs 1 ORF-G) und dann dem Stiftungsrat einen Vorschlag für die Besetzung dieser Funktion vorlegen (
§ 24 Abs 1 ORF-G). Grundvoraussetzung für die Bestellung zum Direktor ist nach
§ 26 Abs 1 ORF-G die volle Geschäftsfähigkeit (dh ein Mindestalter von 18 Jahren und kein Sachwalter) und "eine entsprechende Vorbildung
oder eine fünfjährige einschlägige oder verwandte Berufserfahrung". Zu beachten ist dabei freilich, dass
nach § 27 Abs 2 ORF-G bei der Auswahl von Bewerbern "in erster Linie die fachliche Eignung zu berücksichtigen" ist (dabei hat der Stiftungsrat nach der Rechtsprechung -
VwGH 14.1.2009, 2006/04/0201 - einen "personal- und unternehmenspolitischen Spielraum"). Eine staatliche Einflussnahme bzw. Einflussnahme von Parteien wäre demnach rechtlich nicht möglich.
Glaubt man nun den Zeitungsberichten, hat der ORF-Generaldirektor offenbar am Abend des 16. November 2009, ohne jeglichen Bezug zu der kurz zuvor erzielten politischen Einigung über die sogenannte "Refundierung der Gebührenbefreiung", vom überraschenden beruflichen Veränderungswunsch seiner kaufmännischen Direktorin erfahren. Obwohl es schon spät war, schaffte er es großartiger Weise, schon am nächsten Morgen die Ausschreibung dieser so kurzfristig freigewordenen Funktion in der Wiener Zeitung veröffentlichen zu lassen und setzte eine Frist bis 15. Dezember 2009 für die Bewerbung. Nur wenig später
wusste ein ORF-Journalist vom Wunsch des Generaldirektors, ihn für diese Funktion vorzuschlagen und kündigte seine Bewerbung an.
Nach der Ausschreibung müssen Bewerber nun ein Exposé der vorgeschlagenen Maßnahmen im Aufgabenbereich der zu besetzenden Funktion erstellen, was - angesichts der Zurückhaltung des ORF, unternehmensrelevante Daten öffentlich zugänglich zu machen - wohl umso leichter möglich sein wird,
je mehr man sich schon vor Ende der Bewerbungsfrist mit konkreten Projekten im ausgeschriebenen Aufgabenbereich beschäftigen kann (wie machen das bloß die externen InteressentInnen, die sich bei einer derart offenen Ausschreibung mit vollkommen ungewissem Ausgang sicher zahlreich bewerben werden?).
Der Generaldirektor hat dann am 16. Dezember 2009 Zeit, die eingelangten Bewerbungen und Exposés zu studieren, gründlich zu überlegen und dem am 17. Dezember 2009 tagenden Stiftungsrat einen Vorschlag zu machen. Mit der Sorgfalt ordentlicher Aufsichtsräte werden die unabhängigen Stiftungsräte den Vorschlag prüfen und gegebenenfalls die vorgeschlagene Person bestellen. Angesichts der bekannten Unabhängigkeit und Politikferne aller Beteiligten kann daher derzeit
niemand vorhersagen, wer kaufmännische(r) Direktor(in) des ORF werden wird.
So staats- und politikfern wie in Deutschland ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Österreich also allemal.