In der Rechtssache
C-131/12, Google Spain, S.L. und Google, Inc., - siehe im Blog dazu schon
hier - hat Generalanwalt Jääskinen am 25. Juni 2013 seine
Schlussanträge erstattet. Er spricht sich darin klar gegen ein "Recht auf Vergessenwerden" aus und räumt der Freiheit der Meinungsäußerung und des Informationszugangs Priorität ein gegenüber dem Wunsch eines Bürgers, dass Google Suchergebnisse, die ihn in einem negativen Licht zeigen, nicht mehr anzeigen dürfe.
Im Ausgansgfall - ganz knapp zusammengefasst - geht es um das Begehren eines spanischen Bürgers, dass Google bei Suchanfragen nach seinem Namen eine bestimmte Zeitungswebsite nicht anzeigen soll, auf der Informationen zu einem längst erledigten Zwangsversteigerungsverfahren (die damals legal publiziert wurden und richtig sind) verfügbar sind.
Vom EuGH zu klären ist zunächst schon die Frage, ob die spanische Datenschutzbehörde überhaupt zuständig ist, da Google Spain nur für die Werbevermarktung verantwortlich sein will und Google Inc meint, dass jedenfalls in Spanien keine Verarbeitung durchgeführt wird. Vor allem aber geht es um die Frage, ob aus der Datenschutzrichtlinie ein Recht abgeleitet werden kann, dass die Ergebnisse von Suchanfragen in der vom Betroffenen gewünschten Weise zensiert werden müssten, und ob gegebenenfalls ein solches Recht, wenn schon nicht aus der Richtlinie, so doch aus der Grundrechtecharta abgeleitet werden könne.
Generalanwalt Jääskinen setzt den Ton seiner Schlussanträge schon recht zu Beginn, indem er - noch in den Vorbemerkungen (RNr 30) - den Gerichtshof anhält,
"bei der Auslegung des Anwendungsbereichs der Richtlinie Vernunft walten zu lassen," um unangemessene und übermäßige Rechtsfolgen zu vermeiden. Auch in der Folge warnt er den EuGH vor einer überzogenen Auslegung der Datenschutzrichtlinie, bei deren Erlassung im Jahr 1995 der Gemeinschaftsgesetzgeber die Entwicklung des Internets noch nicht vorhergesehen hat.
Zum räumlichen Anwendungsbereich geht Jääskinen pragamtisch vor und knüpft de facto daran an, ob der Suchmaschinenbetreiber im jeweiligen Mitgliedstaat eine Niederlassung hat, auch wenn diese sich nicht mit der Suche befasst, sondern - wie auch in Spanien - ausschließlich mit der Werbevermarktung,
"wenn diese Niederlassung als Bindeglied zwischen dem Referenzierungsdienst und dem Werbemarkt des betreffenden Mitgliedstaats fungiert, selbst wenn der technische Datenverarbeitungsvorgang in anderen Mitgliedstaaten oder in Drittländern erfolgt." (siehe die
Kritik daran auf delegelata.de)
Google als für die Datenverarbeitung Verantwortlicher?
Auch im Hinblick auf den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie wählt Jääskinen einen pragmatischen und meines Erachtens sachgerechten Zugang. Jääskinen postuliert zunächst, dass
"bei der Auslegung der Richtlinie im Hinblick auf neue technologische Phänomene der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Ziele der Richtlinie und die in ihr vorgesehenen Mittel zur Erreichung dieser Ziele berücksichtigt werden müssen, um zu einem ausgewogenen und angemessenen Ergebnis zu gelangen."
Davon ausgehend prüft er, ob der Suchdiensteanbieter wirklich über "die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten" entscheidet (und damit als "für die Verarbeitung Verantwortlicher" im Sinne der Richtlinie anzusehen ist). Das könnte man - wie auch die Art-29-Datenschutzgruppe aufgezeigt hat - bei wörtlicher Auslegung durchaus so sehen, was aber, nach Ansicht des Generalanwalts,
zeigt, zu welch unsinnigen Ergebnissen eine nicht hinterfragte wortwörtliche Auslegung der Richtlinie im Kontext des Internets führen kann. Der Gerichtshof darf keiner Auslegung folgen, die praktisch jede Person, die ein Smartphone, ein Tablet oder einen Laptop besitzt, zu einem für die Verarbeitung von im Internet veröffentlichten personenbezogenen Daten Verantwortlichen macht. [...]
Ein Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter, der lediglich ein Instrument zur Lokalisierung von Informationen bereitstellt, übt keine Kontrolle über die auf Webseiten Dritter vorhandenen personenbezogenen Daten aus. [...]
Die Bereitstellung eines Instruments zur Lokalisierung von Informationen impliziert keine Kontrolle über die Inhalte. [Hervorhebung hinzugefügt]
Eine angemessene Auslegung der Richtlinie gebietet nach Ansicht des Generalanwalts deshalb, den Diensteanbieter (Suchmaschinenbetreiber) nicht generell als für die Verarbeitung Verantwortlichen anzusehen, zumal man bei Zugrundelegung der entgegensetzten Auffassung Suchmaschinen als mit dem Unionsrecht unvereinbar erklären müsste - "ein abwegiges Ergebnis", wie der Generalanwalt ausdrücklich festhält.
Suchmaschine dient berechtigtem Interesse
Verantwortlich ist der Suchmaschinenbetreiber nach Jääskinen für seinen Index, nicht aber für den Cache. Die Verarbeitung der Informationen für den Index muss daher den Vorgaben der Richtlinie genügen. Es dürfte, so der Generalanwalt, auf der Hand liegen, dass die Erbringung von Internetsuchmaschinen-Diensten als solche einem berechtigten Interesse dient, nämlich
i) den Internetnutzern Informationen einfacher zugänglich zu machen,
ii) die Verbreitung der ins Internet gestellten Informationen effektiver zu gestalten und
iii) verschiedene Dienste der Informationsgesellschaft zu ermöglichen, die der Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter ergänzend zur Internetsuchmaschine anbietet, etwa die Schlüsselwörterwerbung.
Diesen drei Zielen entsprechen jeweils drei durch die Charta geschützte Grundrechte, nämlich die Informationsfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung (beide nach Art. 11) und die unternehmerische Freiheit (Art. 16). Ein Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter nimmt daher ein berechtigtes Interesse im Sinne von Art. 7 Buchst. f der Richtlinie wahr, wenn er im Internet zugängliche Daten, einschließlich personenbezogener Daten, verarbeitet.
Der Generalanwalt kommt dann zum Ergebnis, dass eine nationale Datenschutzbehörde einen Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter nicht zur Entfernung von Informationen aus seinem Index verpflichten kann, es sei denn, der Diensteanbieter hat exclusion codes nicht beachtet oder ist einer Aufforderung seitens des Websitebetreibers zur Aktualisierung des Cache nicht nachgekommen. [...] Ob ein Verfahren zur Meldung und Entfernung von Links zu Quellenwebseiten mit illegalen oder anstößigen Inhalten möglich ist, bestimmt sich nach der nach dem nationalen Recht bestehenden zivilrechtlichen Verantwortlichkeit, die auf anderen Gründen als dem Schutz personenbezogener Daten beruht.
Kein "Recht auf Vergessenwerden" nach der Datenschutzrichtlinie
Aus dem Recht auf Berichtigung, Löschung und Sperrung nach der Datenschutzrichtlinie lässt sich bei Daten, die weder unvollständig noch unrichtig noch aus anderen Gründen nicht richtlinienkonform sind, kein Löschanspruch ableiten. Auch das Widerspruchsrecht, das überwiegende schutzwürdige Gründe des Betroffenen voraussetzt, führt nicht zu einem Recht auf Vergessenwerden:
Werden Daten ohne Einwilligung der betroffenen
Person verarbeitet, kommt es auf die mit der Verarbeitung verfolgten
Zwecke und Interessen in Abwägung mit denjenigen der betroffenen Person
an und nicht auf die subjektiven Präferenzen dieser Person. Eine
subjektive Präferenz stellt noch keinen überwiegenden, schutzwürdigen
Grund im Sinne von Art. 14 Buchst. a der Richtlinie dar.
Jedes E-Mail ein Grundrechtseingriff
Schließlich prüft der Generalanwalt die grundrechtliche Dimension der Angelegenheit, wobei hier vor allem die Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7
Grundrechtecharta bzw Art 8 EMRK) und auf Schutz personenbezogener Darten (Art 8 GRC) einerseits und die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (Art 11 GRC bzw Art 10 EMRK) von Interesse ist.
Bemerkenswert ist zunächst, dass der Generalanwalt angesichts der im Unionsrecht weit gefassten Begriffe "personenbezogene Daten" und "'Verarbeitung" solcher Daten zum Ergebnis kommt,
"dass jeder auf automatisierte Verfahren gestützte Kommunikationsvorgang, etwa per Telekommunikation, E-Mail oder in den sozialen Medien, der eine natürliche Person betrifft, an sich schon einen mutmaßlichen Eingriff in das Grundrecht darstellt, der der Rechtfertigung bedarf". Aus der Auslegung der Richtlinie ergeben sich die Grenzen, die einem Privaten bei der Datenverarbeitung gesetzt sind - und daraus wiederum ergibt sich die Frage, ob eine Handlungspflicht der Union und der Mitgleidstaaten dahin besteht,
gegenüber Internetsuchmaschinen-Diensteanbietern, bei denen es sich um Private handelt, ein Recht auf Vergessenwerden durchzusetzen.
Abwägung mit Art 11 GRC
In der konkreten Abwägung betont Jääskinen das Recht der Internetnutzer, im Internet verfügbare Informationen zu suchen und zu empfangen, und das - ebenso durch Art 11 GRC geschützte - Recht der Webseitenurheber, Inhalte ins Internet zu stellen. Bemerkenswert ist, dass er den "exclusion codes" (zB robots.txt) auch in diesem Zusammenhang Bedeutung einräumt:
Wer Inhalte ins Internet stellt, macht von der Freiheit der Meinungsäußerung Gebrauch; dies gilt umso mehr, wenn der Urheber seine Seite mit anderen Seiten verknüpft, das Indexieren und Archivieren durch Suchmaschinen nicht einschränkt und damit zu erkennen gibt, dass er eine weite Verbreitung der Inhalte anstrebt.
In die Abwägung geht auch ein, dass es sich bei den von Google angezeigten Suchergebnissen um eben solche handelt: um Ergebnisse einer gezielten Suche.
130. Das im Mittelpunkt des vorliegenden Rechtsstreits stehende Datenschutzproblem tritt nur auf, wenn ein Internetnutzer den Vor- und die Nachnamen der betroffenen Person in die Suchmaschine eingibt und ihm daraufhin ein Link zu den Webseiten der Zeitung angezeigt wird, die die beanstandeten Bekanntmachungen enthalten. In einem solchen Fall macht der Internetnutzer aktiv von seinem Recht auf Empfang von Informationen über die betroffene Person aus öffentlichen Quellen Gebrauch, und zwar aus Gründen, die nur ihm bekannt sind.
131. In der heutigen Informationsgesellschaft gehört die mittels einer Suchmaschine betriebene Suche nach im Internet veröffentlichten Informationen zu den wichtigsten Formen der Ausübung dieses Grundrechts. Dieses Recht umfasst zweifellos das Recht, sich um Informationen über andere natürliche Personen, die grundsätzlich durch das Recht auf Privatleben geschützt sind, also etwa um im Internet vorhandene Informationen über die Tätigkeit einer natürlichen Person als Geschäftsmann/-frau oder Politiker/in, zu bemühen. Das Recht des Internetnutzers auf Informationen wird beeinträchtigt, wenn bei seiner Suche nach Informationen über eine natürliche Person Ergebnisse angezeigt werden, die die einschlägigen Webseiten nicht in ihrer wahren Form wiedergeben, sondern in einer [gesäuberten] „Bowdler“-Version.
132. Ein Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter, der auf eine Suchmaschine gestützte Instrumente zur Lokalisierung von Informationen im Internet bereitstellt, macht rechtmäßigen Gebrauch von seiner unternehmerischen Freiheit und von der Freiheit der Meinungsäußerung.
133. Angesichts der besonders komplexen und schwierigen Grundrechtskonstellation im vorliegenden Fall lässt es sich nicht rechtfertigen, die nach Maßgabe der Richtlinie bestehende Rechtsstellung der betroffenen Personen zu verstärken und um ein Recht auf Vergessenwerden zu ergänzen. Andernfalls würden entscheidende Rechte wie die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit geopfert.
Kritik an "notice und takedown" und daraus resultierender privater Zensur
Schließlich geht der Generalanwalt noch einen Schritt weiter und rät dem EuGH ausdrücklich auch davon ab, "
in seinem Urteil zu dem Ergebnis zu gelangen, dass diese einander widerstreitenden Interessen im jeweiligen Einzelfall auf zufriedenstellende Weise in ein Gleichgewicht gebracht werden können und dass die Entscheidung dem Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter überlassen bleibt."
Derartige Verfahren zur Meldung und Entfernung, sollte der Gerichtshof sie vorschreiben, werden wahrscheinlich entweder zu einer automatischen Löschung von Links zu beanstandeten Inhalten oder zu einer von den beliebtesten und wichtigsten Internetsuchmaschinen-Diensteanbietern nicht zu bewältigenden Anzahl von entsprechenden Anträgen führen. [...]
Vor allem sollten die Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter nicht mit einer solchen Pflicht belastet werden. Es käme zu einem Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung des Webseitenurhebers, der in einem solchen Fall ohne angemessenen Rechtsschutz bliebe, da ein ungeregeltes Verfahren zur Meldung und Entfernung eine privatrechtliche Angelegenheit zwischen der betroffenen Person und dem Suchmaschinen-Diensteanbieter wäre. Dies liefe auf eine Zensur der vom Urheber veröffentlichten Inhalte durch einen Privaten hinaus. Auf einem ganz anderen Blatt steht hingegen, dass den Staaten die Handlungspflicht obliegt, gegen einen das Recht auf Privatleben verletzenden Verleger einen wirksamen Rechtsbehelf vorzusehen, der im Kontext des Internets gegen den Webseitenurheber gerichtet wäre.
Im Übrigen ist anzumerken, dass der betroffene spanische Bürger, der den Anstoß zu diesem Verfahren gab, selbst dann nicht vergessen würde, wenn der EuGH ihm - gegen die Ausführungen des Generalanwalts - ein Recht auf Vergessenwerden einräumen sollte: denn sein Name - Mario Costeja González - ist nun mit der Rechtssache vor dem EuGH auf immer verbunden. Es sei denn, natürlich, Herr Costeja González könnte auch gegenüber der Website des EuGH ein Recht auf Vergessenwerden durchsetzen ...
PS: Nicht gegen eine Suchmaschine, sondern direkt gegen das Online-Archiv einer Zeitungswebsite richtete sich eine vor dem EGMR abgehandelte Beschwerde, die ebenfalls ein "Recht auf Vergessenwerden" (Löschen eines Artikels aus dem Online-Archiv) durchsetzen wollte. Zu diesem Fall,
Węgrzynowski und Smolczewski gegen Polen, werde ich voraussichtlich in den nächsten Tagen hier mehr schreiben unter
"Niemals vergessen (2)". Vorweggenommen sei soviel: auch der EGMR sprach sich - wie hier Generalanwalt Jääskinen im Fall Google - gegen eine gerichtlich angeordnete Geschichtsfälschung aus.
Update 26.07.2013: siehe auch den
Beitrag auf Huťko´s Technology Law Blog.
Update 20.05.2014: zum Urteil des EuGH in dieser Sache siehe
hier.