In Deutschland ist jüngst ein unter Mitarbeit von Meinhard Schröder erstelltes Gutachten von Hans-Jürgen Papier, Ex-Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, unter anderem auch zum Ergebnis gekommen, "dass Internetangebote, bei denen Texte, Bilder, Töne etc. als Datei vorliegen und über ein Netz abrufbar sind, grundsätzlich als Rundfunk [hier: im Sinne des deutschen verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriffs nach Art 5 Abs 1 Satz 2 GG] zu qualifizieren sind, immer vorausgesetzt, dass sie die Kriterien der Adressierung an die Allgemeinheit [...] und einer redaktionellen Gestaltung erfüllen."
Das im Auftrag der Gremienvorsitzendenkonferenz der ARD erstellte Gutachten wurde von dieser bislang offenbar nur mit einer Presseaussendung vorgestellt, den Volltext des Gutachtens habe ich nur hier gefunden. Wie schon einmal angemerkt, besitzen deutsche staatsrechtliche Gutachten meist einen ganz eigenen Charme, und das gilt durchaus auch für das Papier/Schröder-Gutachten, wenngleich es sprachlich deutlich weniger schwurbelnd ist als zuletzt das Kirchhof-Gutachten zur Finanzierung (siehe dazu hier).
Im Kern geht es im Gutachten um die Reichweite des Verbots "presseähnlicher Angebote" von öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstaltern nach dem dt. Rundfunkstaatsvertrag. Dazu grenzen Papier/Schröder Rundfunk- und Pressefreiheit ab und befassen sich insbesondere auch mit der Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Sender im Online-Bereich. Die wesentlichen Ergebnisse:
- In den Worten der ARD-Schlagzeile: "Presse macht Rundfunk" (nicht umgekehrt), presseähnlich wären allenfalls im Internet verbreitete Zeitungen, die das Printprodukt 1:1 abbilden; "internettypische Kriterien wie umfassende Verlinkungen mit anderen Artikeln, interaktive Elemente wie Kommentarfunktionen zu Artikeln, Abstimmungsboxen und erst recht Multimedia-Elemente" würden den presseähnlichen Eindruck zerstören.
- Eine "umfassende Internet-Berichterstattung [gehört] mittlerweile zu den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestaufgaben der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten".
- Daher braucht es keine Rechtfertigung für etwaige negative Auswirkungen (der öffentlich-rechtlichen Online-Angebote) auf Wettbewerber im Internet.
Es überrascht nicht, dass das Gutachten von der deutschen Presse nicht freundlich aufgenommen wurde (zum Schlagabtausch zwischen FAZ und ARD siehe hier und hier mit weiteren Links).
Ich will mich zur deutschen verfassungsrechtlichen Dimension nicht näher äußern, sondern nur zwei Anmerkungen machen: einerseits zur Orientierungsfunktion, die von Papier/Schröder dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Internet zugedacht wird (wäre das Gutachten für das ZDF geschrieben worden, käme wohl der Begriff "Leuchtturm" vor), andererseits zum Vergleich mit der österreichischen Situation.
Die Leuchtturm-Rechtfertigung
"eine 'Leuchtturm'-Funktion in dieser elektronischen Medienflut" hat Markus Schächter für das ZDF schon im Jahrbuch 2005 postuliert (weitere Leuchtturm-Zitate hier), und das Bundesverfassungsgericht hat diese Argumentationslinie in anderen Worten in seinem Urteil vom 11.09.2007 aufgegriffen (dazu hier); demnach gewinnen die Wirkungsmöglichkeiten des Rundfunks (Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft) zusätzliches Gewicht dadurch, "dass die neuen Technologien eine Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Angebots und der Verbreitungsformen und -wege gebracht sowie neuartige programmbezogene Dienstleistungen ermöglicht haben."
Papier/Schröder führen diesen Gedankengang konsequent fort: ihrer Ansicht nach ist im Internet gerade wegen der dort potentiell unbegrenzten Medienvielfalt "ein neues Bedürfnis des Bürgers nach Orientierung" gegeben. Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter sei es daher "nicht mehr nur, im Rahmen der Grundversorgung überhaupt ein Programm [...] zu übertragen, sondern gerade die Informationsquelle zu sein [...]. Von besonderer Bedeutung ist diese Aufgabe gerade auch bei Rundfunkangeboten im Internet."
Das Bedürfnis nach Orientierung, die angebliche Überforderung der Bürger angesichts der Medienvielfalt (!) - und nicht mehr die Gewährleistung von Binnenpluralität angesichts einer aufgrund der Frequenzknappheit nur geringen Zahl von Anbietern - wird somit zum zentralen Argument für den öffentlich-rechtlichen Auftrag. Das mag nach deutschem Verfassungsrecht und auch nach Unionsrecht dem Grundsatz nach zulässig (nach Ansicht der Gutachter verfassungsrechtlich geboten) sein, bemerkenswert finde ich diese gewandelte Rechtfertigung des öffentlich-rechtlichen Auftrags doch. Etwas zugespitzt könnte man sagen: statt Sicherung der Vielfalt und Unabhängigkeit (Binnenpluralismus, angebliche Staatsferne) tritt nun der Schutz vor zu viel Vielfalt und Unabhängigkeit ("Orientierungsfunktion", Schutz vor Überforderung) in den Vordergrund (Update 11.08.2010: kritisch dazu auch Karl-Heinz Ladeur auf telemedicus).
Und in Österreich?
Die mit 01.10.2010 in Kraft tretende jüngste Novelle zum ORF-G vermeidet aus guten Gründen den Begriff presseähnlich, sondern nennt - in § 4e Abs 2 ORF-G - klar, was tatsächlich gemeint ist: "Die Berichterstattung darf nicht vertiefend und in ihrer Gesamtaufmachung und -gestaltung nicht mit dem Online-Angebot von Tages- oder Wochenzeitungen oder Monatszeitschriften vergleichbar sein und kein Nachrichtenarchiv umfassen" (Hervorhebung hinzugefügt). Maßstab ist demnach, wie das Online-Angebot von Tages- oder Wochenzeitungen aussieht, und nicht, ob dieses Angebot "Presse" oder "presseähnlich" ist. Offene bzw einer Auslegung bedürftige Fragen wirft freilich auch diese Bestimmung auf - ob vielleicht auch der ORF das Gutachten eines früheren Verfassungsgerichtspräsidenten einholt? Möglich wäre es: ex-VfGH-Präsident Korinek hat die österreichische Fachliteratur und Rechtsprechung zum Rundfunkrecht jedenfalls maßgeblich geprägt.
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*) So hat etwa der frühere VfGH-Präsident Korinek schon im Jahr 2000 auf die Konsequenz hingewiesen, dass aufgrund des BVG-Rundfunk jeder, "der eine Homepage [...] einrichtet, einer gesetzlichen Ermächtigung" zur Veranstaltung von Rundfunk bedürfte (Journal für Rechtspolitik, 2000, 129).
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