Wednesday, May 11, 2011

Ein Fehlurteil des EGMR? Nochmals zum Fall Mosley

Das EGMR-Urteil im Fall Mosley, das ich im letzten Post kurz zusammengefasst habe, wurde von Florian Klenk auf Twitter als Fehlurteil bezeichnet. Klenk merkt - völlig zutreffend - an, dass das "Aufdecken von Bettdecken" kein Enthüllungsjournalismus ist und Mosley Unrecht getan wurde; die Sexualsphäre müsse tabu bleiben und Mosley müsse bei einem so massiven Grundrechtseingriff das Recht haben, "sich präventiv wehren zu dürfen". Und weil Florian Klenk - stellvertretender Falter-Chefredakteur, mehrfacher "investigativer Journalist des Jahres" usw.- schließlich nicht irgendwer ist, habe ich mir das Urteil noch einmal angeschaut; hier meine ergänzenden Anmerkungen:

1. Im Fall Mosley gegen Vereinigtes Königreich vor dem EGMR ging es nicht darum, ob das fragliche Video hätte veröffentlicht werden dürfen. Dass durch die Veröffentlichung des Videos auf der Website der News of the World (aber auch durch die Bildveröffentlichungen in der Zeitung) unzulässig in die Privatsphäre von Mosley eingegriffen wurde, steht schon auf Grund des High Court Urteils von Eady J im Fall Mosley gegen News Group ganz unstrittig fest. Eady J betonte in seinem Urteil (im letzten Absatz) auch, dass kein Schadenersatzbetrag den Mosley zugefügten Schaden völlig ausgleichen könnte.

2. Gegenstand des EGMR-Verfahrens war auch nicht, ob eine Verpflichtung, Betroffene vor einer Veröffentlichung von Informationen aus der Privatsphäre zu informieren, nach der EMRK zulässig ist. Der EGMR betont, dass Artikel 10 EMRK "prior restraints on publication" nicht verbietet, dass diese aber "most careful scrutiny" verlangen (siehe zuletzt auch RTBF gegen Belgien; im Blog dazu hier); ausdrücklich sagt der EGMR (Nr. 117): "The Court would, however, observe that prior restraints may be more readily justified in cases which demonstrate no pressing need for immediate publication and in which there is no obvious contribution to a debate of general public interest." (Hervorhebung hinzugefügt).

3. Es ging auch nicht darum, ob journalistische Sorgfalt eine Vorverständigung gebietet. Der EGMR legt im Urteil eingehend nicht nur das anwendbare britische Recht, sondern auch die journalistische Berufspraxis dar, wie sie insbesondere auch im von der Press Complaints Commission (Presserat) überwachten Editors' Code of Practice festgehalten ist. Natürlich gehört es - im Regelfall - zur journalistischen Sorgfalt, Betroffenen Gelegenheit zu geben, zu Vorwürfen Stellung zu nehmen; Journalisten, die sich daran nicht halten, tragen ein hohes Risiko, in nachfolgenden Verfahren verurteilt zu werden ("publish and be damned" nennt das Carl Gardner). Übrigens: News of the World kostete die Verurteilung nicht nur die 60.000 Pfund Schadenersatz, sondern auch 420.000 Pfund Kostenersatz plus eigene Kosten - von insgesamt einer Million Euro kann man da schon ausgehen, auch für die News of the World Portokassa ist das nicht ganz vernachlässigbar.

4. Der EGMR hatte "nur" zu beurteilen, ob das Fehlen einer Verpflichtung zur Vorverständigung im englischen Recht eine Verletzung der positiven Verpflichtungen des Staates nach Art 8 EMRK bedeutet. Er hat das im Kammerurteil verneint, gestützt vor allem auf drei Überlegungen: erstens den möglichen "chilling effect" einer solchen Verpflichtung, zweitens ganz pragmatisch auf große Zweifel an der Effektivität einer solchen Verpflichtung und drittens auf den weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten.

5. Der EGMR betont, dass der "chilling effect" nicht nur den hier gegenständlichen Schmuddeljournalismus betreffen würde. Es geht nicht nur um "Sex-Geschichten" bzw. könnten auch "Sex-Geschichten" (im weiteren Sinn) Gegenstand seriösen Ivestigativjournalismus sein - man braucht nur an Missbrauchsfälle kirchlicher Würdenträger zu denken. Selbst bei einer Vorverständigungspflicht müsste es Ausnahmen im öffentlichen Interesse geben, etwa wenn durch die vorherige Verständigung die Gefahr einer Vertuschung oder einer Vernichtung von Beweismitteln bestünde. Auch im Fall Mosley wäre ein öffentliches Interesse (an der Berichterstattung, wohl kaum an der Videoveröffentlichung) nicht ohne Weiteres zu verneinen gewesen, hätten sich die ersten Einschätzungen der News of the World-Journalisten als richtig erwiesen: diese glaubten ja an Nazi-Anklänge und an das Nachspielen von Konzentrationslager-Szenen, was bei einer Person öffentlichen Interesses, die immerhin Sohn des britischen Faschistenführers der Zwischenkriegszeit ist, schon von Bedeutung sein könnte (im Urteil des High Court wird freilich dargelegt, dass die News of the World Journalisten ihre Einschätzung sehr schlampig - "casual and cavalier" - getroffen haben, also die notwendige Sorgfalt grob vermissen ließen).

6. Der EGMR kommt zum Ergebnis, dass auch eine Vorverständigungspflicht Fälle wie Mosley nicht verhindern könnte. Wenn eine Zeitung unter der bestehenden Rechtslage (Stichwort: "publish and be damned") das Risiko eingeht, Material wie das im Fall Mosley zu veröffentlichen, dann würde sie das - ohne Vorverständigung - auch tun, wenn sie zu einer Vorverständigung verpflichtet wäre. Zugespitzt: es wäre der Zeitung egal, ob die 60.000 Pfund zu bezahlen sind, weil durch ein nachträgliches Urteil ein Eingriff in die Privatsphäre festgestellt wird, oder weil die Verständigungspflicht nicht eingehalten wurde. Wirklich abschreckende Sanktionen (extrem hoher Strafschadenersatz oder schwere strafrechtliche Folgen) wären wiederum mit Art 10 EMRK unvereinbar.

7. Generelle Vorverständigungspflichten sind in keiner Rechtsordnung eines Konventionsstaates vorgesehen (jedenfalls hat Mosley keine einzige solche Regelung benannt und der EGMR nennt auch selbst keine). Auch dies spricht für einen weiten Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten, die daher unter verschiedenen Möglichkeiten wählen können, wie sie ihren - unstrittigen - positiven Verpflichtungen aus Art 8 EMRK zum Schutz des Privat- und Familienlebens nachkommen; wobei in der Regel zivilrechtliche ex post-Ersatzpflichten ausreichend sind.

8. Man darf das Urteil keinesfalls als Freibrief für "News of the World"-style Berichterstattung verstehen, im Gegenteil: ich zitiere dazu Hugh Tomlinson, QC, der das gut zusammengefasst hat: "Finally, careful attention should be paid to the detail of the judgment and the general points made about the need to protect private life from press intrusion.  The press won the battle but the judgment confirms that it has lost the 'privacy war'. The Court makes its disapproval of the conduct of the News of the World crystal clear and emphasises the need for a 'narrow interpretation' of freedom of expression where sensational and titillating press reports are involved".

9. Es steht noch nicht fest, ob das Urteil des EGMR endgültig ist; Mosley hat angekündigt, einen "request for re-examination" zu stellen und damit die Übertragung an die Große Kammer zu beantragen.
[Update 07.10.2011: das Urteil ist endgültig, die beantragte Verweisung an die Große Kammer wurde abgelehnt, siehe dazu den Beitrag auf Inforrm's Blog]

1 comment :

Anonymous said...

Klenk liegt mit seinem Urteil wirklich meilenweit daneben. Wie soll die vorherige Verständigung in der Praxis dann laufen? Reicht ein Telefonanruf? Die Beweislast läge dann ja bei den Journalisten, die dann nachweisen müssten, dass sie die andere Seite informiert haben. Und das alles in einem Land, in dem es speziell für reiche und mächtige Akteure nicht besonders schwierig ist, die Publikation auch bewiesener Fakten mit Hilfe von "gag orders" so weit zu unterbinden, dass nicht einmal über diese Publikationsverbote geschrieben werden darf.