Thursday, January 27, 2011

Österreichischer Presserat: ohne "Österreich", ohne "Die Presse" (und ohnegleichen)

Irgendwann könnte es ja vielleicht wirklich einmal losgehen mit dem oftmals angekündigten neuen österreichischen Presserat. Aber vielleicht hat auch hier schon das "Anteasern" Einzug gehalten, und Fragen wie "Kommt er/kommt er nicht? Wird er etwas entscheiden? Werden wir davon erfahren? Werden Krone/heute/'Österreich' dabeisein?" sollen erst einmal Spannung erzeugen, Interesse wecken, für Diskussion sorgen - damit dann alle umso aufmerksamer dabei sind, wenn vielleicht in diesem, vielleicht auch im nächsten Jahr doch einmal erste Ergebnisse an die Öffentlichkeit kommen. (Bei mir hat das mindestens seit 2008 dauernde Anteasern offenbar gewirkt, ich habe jedenfalls schon öfter, als ich das vorgehabt hatte, über den Presserat geschrieben).

HeuteGestern fand zwar die feierliche Eröffnungsveranstaltung des neuen österreichischen Presserats statt, aber wer sich dessen Regime nun tatsächlich unterwerfen wird, wurde dabei auch nicht beantwortet. In den Zeitungen ist zu lesen, dass zum Beispiel "Österreich" den Presserat nicht anerkennen wird, was wohl niemanden überrascht (insbesondere nach dem Rechtsstreit mit dem VÖZ, der den Presserat maßgeblich mitträgt). Nicht gerechnet habe ich damit, dass auch das treue VÖZ-Mitglied "Die Presse" - zumindest vorerst - nicht mit von der Partie ist, ebenso wie - laut Presse - der Kurier (dessen Geschäftsführer immerhin stellvertretender Vorsitzender des Trägervereins ist; wie ich gerade lese, bestreitet er aber, dass der Kurier noch nicht unterschrieben habe), Krone und "heute".

Bei der Eröffnungsveranstaltung sprachen unter anderem Peta Buscombe, die Vorsitzende der britischen Press Complaints Commission, und Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserats. Bei deren Referaten wurde deutlich, wie sehr sich die österreichische Variante des Presserats von anderen Modellen unterscheidet. Peta Buscombe betonte etwa für die PCC:
  • die Erhöhung der nicht dem Medienbereich zugehörigen Mitglieder der PCC, die nun die Anzahl der Medienvertreter übersteigt - in Österreich werden alle Mitglieder des Presserats von den Trägerorganisationen nominiert, in den entscheidenden Senaten müssen 6 der 7 Mitglieder Berufsjournalisten sein;
  • den kostenlosen Zugang für Beschwerdeführer - in Österreich hat der Beschwerdesenat als Schiedsgericht auch eine Kostenentscheidung "nach seinem Ermessen" (§ 609 ZPO) zu treffen, sodass die Beschwerdeführer bei Abweisung ihrer Beschwerde wohl eine Kostenersatzpflicht treffen wird;
  • die Selbstfinanzierung (Buscmobe: "we are not a burden on the taxpayer") - in Österreich ist eine staatliche Förderung in der Höhe von € 150.000 pro Jahr vorgesehen (§ 12a Presseförderungsgesetz)
  • die Transparenz und Raschheit des Verfahrens - dazu kann man für Österreich noch nicht viel sagen, außer dass die bislang einzige Entscheidung - laut Verfahrensordnung - nicht veröffentlicht werden darf und der Herausgeber des betroffenen Mediums laut Standard bzw APA sagt, dass er die  - anbgeblich am 20. Dezember 2010 getroffene - Entscheidung noch nicht bekommen hat (sie aber ohnehin "nicht auspacken" werde);
  • Flexibiliät und Anpassungsfähigkeit, da die PCC selbst über ihren "remit" (Zuständigkeitsbereich) entscheidet - in Österreich müsste dazu wohl eine Statutenänderung des Trägervereins erfolgen, zumindest aber eine - in der Mitgliederversammlung des Trägervereins zu beschließende - Änderung der Verfahrensordnung; wenn man bedenkt, wie schwierig es schon war, überhaupt Einigung über den neuen Presserat zu erzielen, lässt das jedenfalls prima facie keine besondere Flexibilität erewarten.
Lutz Tillmanns wiederum betonte für den Deutschen Presserat
  • dass die Beschwerde ein Jedermannsrecht ist und keine Verletzung in Persönlichkeitsrechten voraussetzt - in Österreich kann sich nur beschweren, wer eine "Verletzung von schutzwürdigen Rechten, insbesondere Persönlichkeitsrechten, des Beschwerdeführers" behauptet;
  • dass Beschwerde an den Presserat vor, nach oder parallel zu einem gerichtlichen Verfahren erhoben werden kann - in Österreich muss ein Beschwerdeführer auf die Anrufung der Gerichte verzichten.
Das österreichische Modell unterscheidet sich also nicht unerheblich etwa vom deutschen oder britischen Modell der Presse-Selbstkontrolle. Der neue Presserat wird also nicht nur ohne "Österreich" und ohne "Die Presse" auskommen müssen, er bleibt in manchen wesentlichen Aspekten auch ohne bewährtes Vergleichsmodell in Europa.

In einem Punkt - der freilich bei der Eröffnungsveranstaltung nicht angesprochen wurde - könnte man allerdings auch eine gewisse Annäherung des österreichischen an das britische Modell sehen: nämlich bei der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen des Presserats. Die britische Press Complaints Commission unterliegt als "public authority" im Sinne des Human Rights Act einer (eingeschränkten) gerichtlichen Kontrolle (siehe etwa Ford v PCC, [2001] EWHC Admin 683); in Österreich, wo die gerichtliche Überprüfung von Selbstregulierungsentscheidungen bislang keine Tradition hat, gibt es durch die Ausgestaltung des Presserats als Schiedsgericht im Sinne der ZPO erstmals die Möglichkeit eines - im Wesentlichen auf gröbste Verfahrensmängel und "ordre public"-Fragen beschränkten - gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen Presserats-Sprüche (§ 611 ZPO; meine Zweifel betreffend die Schiedsvereinbarung im Hinblick auf § 617 ZPO habe ich schon hier angemerkt). Das alles wird wohl Theorie bleiben: denn dass ein Fall, für den es sich lohnen würde, zu Gericht zu gehen, überhaupt vor den Presserat kommt, ist nach seiner derzeitigen Konstruktion wohl auszuschließen.

Noch eine Anmerkung zur Eröffnungsveranstaltung: Journalistik-Professorin Dr. Irene Neverla versprach, in ihrem Referat nicht viel Neues zu sagen, und es wäre unhöflich zu behaupten, sie hätte ihr Versprechen nicht gehalten. Aufhorchen ließ mich aber ihre Ansage, sie sehe keinen vernünftigen Grund, weshalb sich ein seriöses Medium der Teilnahme am (österreichischen) Presserat verweigern solle - und wer sich verweigere, verwirke (!) ihres Erachtens das Recht auf die besonderen Rechte der Presse wie zB den Informantenschutz, ebenso wie auf wirtschaftliche Privilegien wie die Presseförderung.
Nun könnte man über eine Verknüpfung von Presseförderung und "Wohlverhalten" (Unterwerfung unter Entscheidungen einer repäsentativen Selbstregulierunsgeinrichtung) vielleicht diskutieren - dass aber die im Kern die Pressefreiheit berührenden Schutzbestimmungen etwa zum Redaktionsgeheimnis nur jenen Medien zugute kommen sollten, die sich den Entscheidungen eines privaten Vereins unterwerfen, wäre meines Erachtens mit Art. 10 EMRK jedenfalls nicht vereinbar. Irgendwie bemerkenswert, wie man zur Verteidigung einer Einrichtung, die statutengemäß der Förderung der Pressefreiheit dienen soll, einen Vorschlag ins Spiel bringt, der eben diese einschränken würde.

Tuesday, January 25, 2011

EGMR: Verletzung des Art 10 EMRK durch Verurteilung wegen Gerichtsberichterstattung

Finnland hatte in letzter Zeit keinen guten Lauf in Art 10 EMRK-Fällen vor dem EGMR: Allein im Jahr 2010 gab es Verurteilungen in den Fällen Flinkkilä und andere, Iltalehti und Karhuvaara, Soila, Tuomela und andere sowie Jokitaipale und andere (jeweils vom 06.04.2010), Mariapori und Niskasaari und andere (jeweils am 06.07.2010), und schließlich im Fall Saaristo und andere vom 12.10.2010 (siehe jeweils auf meiner Übersichtsseite). Der letztgenannte Fall spielt auch im heute verkündeten Urteil im Fall Reinboth und andere eine wesentliche Rolle.

In Fall Reinboth und andere geht es sozusagen um eine Meta-Frage: ist eine Verurteilung wegen Verletzung der Privatsphäre durch einen Bericht über einen Prozess wegen Verletzung der Privatsphäre ein unzulässiger Eingriff in die freie Meinungsäußerung? Die Frage wird relativ einfach, wenn man die Zusatzinformation hat, dass die wegen Verletzung der Privatsphäre erfolgte Verurteilung in jenem Prozess, über den berichtet wurde, bereits - im EGMR-Urteil Saaristo - als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt wurde.

Etwas weniger abstrakt: Wegen der Veröffentlichung privater Umstände (im Wesentlichen über eine Beziehung zwischen der Kommunikationsverantwortlichen [O.T.] eines Kandidaten für das Präsidentenamt mit eben diesem Kandidaten) wurde ein Strafverfahren gegen Journalisten der Zeitung Ilta-Sanomat geführt, in dem diese auch verurteilt wurden (was schließlich vom Obersten Gerichtshof Finnlands bestätigt wurde). Über den erstinstanzlichen Prozess - zwei Jahre nach Veröffentlichung des Artikels in Ilta-Sanomat - berichtete Frau Reinboth in der Tageszeitung Helsingin Sanomat und verfasste einige Tage später dazu - diesmal ohne namentliche Nennung der Betroffenen - eine Kolumne mit mit rechtspolitischen Überlegungen zu Fragen der Verletzung der Privatsphäre. Über Antrag von O.T. wurde in der Folge ein Strafverfahren gegen Reinboth und den Chefredakteur der Helsingin Sanomat eingeleitet. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass es angesichts der seit dem Vorfall verstrichenen Zeit keinen Grund gegeben habe, den Namen von O.T. zu veröffentlichen, und verurteilte Reinboth und ihren Chefredakteur zu Geldstrafen von € 740 bzw. € 1.140. Die Entscheidung wurde in allen Instanzen bestätigt.

Vor dem Hintergrund des erwähnten Urteils Saaristo, in dem der EGMR die Verurteilung der Journalisten der Ilta-Sanomat (sozusagen im Ausgangsfall des nun entschiedenen Rechtsstreits) als Eingriff in Art 10 EMRK beurteilt hat, ist es wenig überraschend, dass auch die Verurteilung der nunmehr beschwerdeführenden JournalistInnen der Helsingin Sanomat (einstimmig) als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt wurde. Der EGMR hielt fest, dass der Artikel die Tatsachen objektiv berichtete und die enthaltene Information bereits aufgrund der früheren Publikation in der Ilta-Sanomat bekannt war; der einzige Unterschied bestand im Zeitpunkt der Veröffentlichung. Der EGMR fand es diesbezüglich von Bedeutung, dass der Bericht auf ein Gerichtsverfahren gestützt und das Urteil öffentlich war; auch kamen durch den Bericht keine bis dahin noch nicht bekannten vertraulichen Informationen ans Licht. Die Verurteilung erwies sich daher nicht als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" und unverhältnismäßig.

Eine juristisch spannendere Frage wurde auf der vorangehenden Prüfungsstufe angesprochen: war der Eingriff überhaupt duch Gesetz vorgesehen? Hier stand zwar außer Streit, dass es im Strafgesetzbuch eine (allgemeine) gesetzliche Grundlage gab, die Beschwerdeführer machten aber geltend, dass die gerichtlichen Entscheidungen nicht vorhersehbar gewesen seien. Der EGMR verwies dazu zunächst auf seine Sunday Times-Rechtsprechung; demnach muss der Einzelne, falls nötig mit entsprechender Beratung, die Konsequenzen seiner Handlungen in einem nach den Umständen angemessenen Grad vorhersehen können. Im konkreten Fall habe es zum Veröffentlichungszeitpunkt fünf oberstgerichtliche Entscheidungen zur Auslegung der relevanten Strafnorm gegeben, die verschiedene Aspekte des Privatlebens betrafen; die Möglichkeit einer Sanktion für einen Eingriff in die Privatsphäre aufgrund der gegenständlichen Veröffentlichung sei daher "nicht unvorhersehbar" gewesen. Hätten die JournalistInnen Zweifel über die Zulässigkeit der gehabt, hätten sie Rat einholen oder die namentliche Nennung von O.T. unterlassen können. Daran anschließend folgt ein meines Erachtens doch überraschender Satz, in dem eher en passant eine Art erhöhter Sorgfaltspflicht für Journalisten aufgrund eigener berufsethischer Kodizes bzw der Praxis einer Selbstregulierungseinrichtung anklingt:
"Moreover, the applicants, who were professional journalists, could not claim to be ignorant of the content of the said provision since the Guidelines for Journalists and the practice of the Council for Mass Media, although not binding, provided even more strict rules than the Penal Code provision in question."
Ob aber aus dem Umstand, dass Selbstregulierungs-Leitlinien und Veröffentlichungen der Selbstregulierungseinrichtung strengere Richtlinien für den Umgang mit der Privasphäre vorsehen, wirklich erschließbar ist, dass Journalisten Kenntnis der gesetzlichen Strafnorm (in der ihr durch die Spruchpraxis des Obersten Gerichtshofs gegebenen inhaltlichen Ausprägung) haben müssen, scheint mir durchaus fraglich.

Andererseits: die Sorge vor allzu hohen Berufsstandards für Journalisten wäre wenigstens ein nachvollziehbarer Grund dafür, dass der österreichische Presserat sich als Grundlage für seine Entscheidungen weiterhin mit einer "Ansammlung von mehr oder weniger pathetisch formulierten Gemeinplätzen ohne regulierende Kraft" (copyright Walter Berka), aka Ehrenkodex für die Österreichische Presse, begnügt.

PS: eine weitere Verurteilung in einer Art 10 EMRK-Sache gabe es heute für die Türkei im Fall Mentes (No. 2); hier ging es um die Verurteilung einer kurdischen Aktivistin, die anlässlich einer Demonstration gehindert worden war, eine Presseerklärung zu verlesen.

Monday, January 24, 2011

Wieder einmal: Schleichwerbungsvorwurf gegen Mitglied des Werberats

Soll - und kann - sich Rundfunkregulierung wirklich mit jedem einzelnen der unzähligen über Satellit empfangbaren Sender befassen, auch wenn die tatsächlich erzielte Publikumsreichweite gering ist? Ich habe solche Nischensender in einem Vortrag einmal - in Anlehnung an das Buch von Chris Anderson - als "TV-long tail" bezeichnet und die Auffassung vertreten, dass dort (rechtspolitisch betrachtet) eine besondere Rundfunkregulierung "auf den ersten Blick nicht notwendig erscheint"; als Beispiel habe ich - eher willkürlich - "Bahn TV" (mittlerweile eingestellt) und "Bibel TV" genannt. Solange freilich die RL über audiovisuelle Mediendienste in Kraft ist, müssen die Regulierungsbehörden sich auch um die Long Tail-Sender kümmern, was nicht immer sonderlich erfreulich sein dürfte, wie eine aktuelle Meldung der Kommission für Zulassung und Aufsicht der deutschen Landesmedieanstalten (ZAK) zeigt. Denn "Bibel TV" mag zwar "ein ganzer Sender für ein einziges Buch" sein, machte aber Schleichwerbung für andere Produkte, wie die ZAK feststellte:
"Bibel TV muss ebenfalls eine Programmbeanstandung durch die ZAK hinnehmen. In zwei Ausgaben der Sendung 'Der gesunde Weg' vom September 2010 hatte der Sender gegen das Schleichwerbeverbot verstoßen. In dem Gesundheitsmagazin kamen u.a. Experten zu Wort, die über den Nutzen von bestimmten Produkten bzw. Wirkstoffen sprachen, von deren Verkauf sie wirtschaftlich profitieren. Die Zuschauer wurden über diese Zusammenhänge im Unklaren gelassen. Die Produkte waren jeweils mehrfach und deutlich erkennbar im Bild zu sehen."
Bei der betroffenen Sendung handelt es sich um ein "Magazin mit Prof. Hademar Bankhofer", interessante nähere Details dazu erfährt man bei Marcus Anhäuser in seinem Blog "Plazeboalarm" (bitte nachlesen!), der auch auf frühere Schleichwerbungsvorwärfe gegen Bankhofer hinweist. Anhäuser zitiert übrigens aus einem christlichen Medienmagazin folgende Aussage des Geschäftsführers von Bibel TV: "Die beanstandeten Beiträge wurden von einem österreichischen Fernsehsender übernommen. Die zuständige Produzentin und Herr Prof. Bankhofer haben uns ausdrücklich versichert, dass für die Sendung 'Der gesunde Weg' keine Zuwendungen, Gefälligkeiten und Vorteile entgegengenommen wurden." Bei diesem österreichischen Sender dürfte es sich um "Austria 9" handeln, der im letzten Jahr stolz ein "TV-Jubiläum von Bankhofer: 25 Jahre im Fernsehen" feierte (Presseaussendung).

Ich weise hier nur ergänzend darauf hin, dass "Prof. Hademar Bankhofer c/o TV-Gesundheitsexperte" (sic!) Mitglied des Österreichischen Werberats ist; er sitzt im Entscheidungsgremium, das auf der Website des Werberats als "das Herzstück des Vereins" bezeichnet wird. Weiters heißt es auf der Website: "Selbstregulierung ist immer nur so gut, wie ihr Beurteilungs-Gremium". Na dann!

PS: Zu Prof. Bankhauser gab es auch hier im Blog schon etwas zu lesen, lesenswert ist auch ein Beitrag im Blog von Stefan Niggemeier.

PPS: Die Website des Werberats behauptet, dass ihm "auch Persönlichkeiten aus anderen Disziplinen und Spezialgebieten – Anwälte, Mediziner und Psychologen" angehören; ein Mediziner ist aber im Verzeichnis der Mitglieder nicht zu finden.

Tuesday, January 18, 2011

EGMR: Fotoverbot bei Naomi Campbells Drogenentzug ok, aber Ersatzpflicht für anwaltliches Erfolgshonorar gegen Art 10 EMRK


Es war schon in England eine komplexe Auseinandersetzung - und das heutige EGMR-Urteil in der Sache MGN Limited gegen UK ist mit 227 Absätzen auch recht umfassend geraten: der Daily Mirror hatte vor knapp zehn Jahren umfassend über "Supermodel" Naomi Campbell berichtet - allerdings zu einem Thema, von dem sie verständlicherweise eher nichts in der Zeitung lesen wollte: ihrer Teilnahme an Meetings bei Narcotics Anonymous. Begleitet wurde der Bericht von einem Foto von Ms Campbell in Jeans und mit Baseball-Mütze, verdeckt aufgenommen aus einem parkenden Auto. Campbells Anwalt verlangte die Einstellung dieser Berichte, und der Daily Mirror reagierte so, wie es bei derartigen Blättern offenbar üblich ist: mit weiteren Artikeln, deren Tonfall deutlich unfreundlicher wird (zB "After years of self-publicity and illegal drug abuse, Naomi Campbell whinges about privacy.").

Campbell klagte Schadenersatz für "breach of confidence" ein; sie gewann in erster Instanz, verlor vor dem Court of Appeal (der sich vor allem darauf stützte dass Campbell öffentlich besonders betont hat, anders als viele andere Models keine Drogen zu nehmen), und gewann schließlich vor dem obersten Gericht, das damals noch das House of Lords war. Alle fünf LordrichterInnen gaben gesonderte Voten ab (Baroness Hale fasste das Verfahren so zusammen: "Put crudely,it is a prima donna celebrity against a celebrity-exploiting tabloid newspaper. Each in their time has profited from the other. Both are assumed to be grown-ups who know the score."), das Urteil zu Gunsten von Campbell fiel mit 3:2 Stimmen knapp aus.

An das Hauptverfahren schloss ein Kostenstreit an, bei dem es um rund 1 Mio GBP ging, ein wesentlicher Teil davon aufgrund eines "Conditional Fee Agreement (CFA)", also einer Erfolgshonorarvereinbarung (nur im Verfahren vor dem House of Lords). Das House of Lords sprach auch das Erfolgshonorar zu.

Vor dem EGMR ging es zunächst um die Veröffentlichung: hier kam der Gerichtshof (mit 6 zu 1, gegen die Stimme von Richter Björvinsson) zum Ergebnis, dass kein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK erfolgt sei. Der EGMR betonte, dass die Abwägung gegenläufiger Interessen eine schwierige Angelegenheit ist, in der den Konventionsstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Da die Befriedigung der Neugierde über das Privatleben einer "public figure" nicht zu einer Debatte von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse bei, und schließlich kommt dem Schutz der Rechte und des guten Rufs anderer bei der Veröffentlichung von Fotos besondere Bedeutung zu: "Photographs appearing in the tabloid press are often taken in a climate of continual harassment which induces in the person concerned a very strong sense of intrusion into their private life or even of persecution". Die englischen Gerichte hatten sich auch mit der Rechtsprechung eingehend auseinandergesetzt und sorgfältig abgewogen, sodass der EGMR besonders starke Gründe gebraucht hätte, um seine Meinung an die Stelle des nationalen Gerichts zu setzen ("having regard to the margin of appreciation accorded to decisions of national courts in this context, the Court would require strong reasons to substitute its view for that of the final decision of the House of Lords"). 

Spannender ist die Auseinandersetzung mit den Verfahrenskosten: Der EGMR hält fest, dass die Verpflichtung zur Zahlung des Erfolgshonorars einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, der gesetzlich vorgesehen war. Etwas unscharf ist die Aussage zur Frage, ob die gesetzliche Regelung einem legitimen Ziel dient, hier hält der EGMR schließlich fest, er akzeptiere, dass durch die ersatzfähigen Erfolgshonorare versucht worden sei, das legitmie Ziel eines breitest möglichen Zugang zu gerichtlichen Verfahren zu ermöglichen ("sought to achieve the legitimate aim of the widest public access to legal services for civil litigation funded by the private sector and thus the protection of the rights of others") - ganz überzeugt klingt das nicht. 

Daran anschließend prüft der EGMR die Notwendigkeit der Regelung in einer demokratischen Gesellschaft und stellt sehr ausführlich die Ergebnisse einer im UK dazu geführten Konsulation dar, die mehrere grundsätzliche Mängel des Systems aufgezeigt hatte. "[T]he Court considers that the depth and nature of the flaws in the system, highlighted in convincing detail by the public consultation process, and accepted in important respects by the Ministry of Justice, are such that the Court can conclude that the impugned scheme exceeded even the broad margin of appreciation to be accorded to the State in respect of general measures pursuing social and economic interests". Das bestätige sich auch im konkreten Fall, zumal die Klägerin gerade keine Probleme mit dem Zugang zum Recht hatte ("the claimant was wealthy and not in the category of persons considered excluded from access to justice for financial reasons."). Die Verpflichtung, dass der Medieninhaber des Daily Mirror das Erfolgshonorar von Campbells Anwäten zahlen musste, erwies sich damit als unverhältnismäßig und überstieg auch den weiten Beurteilungsspielraum, der der Regierung in solchen Fällen zukomme.
[Update 15.03.2011: zu diesem Urteil siehe auch Stijn Smet auf Strasbourg Observers]

Update 12.06.2012: mit Urteil vom heutigen Tag erhielt MGN 256.200 € Schadenersatz für die Kosten der britischen Verfahren und 30.500 € Kostenersatz für die Kosten des EGMR-Verfahrens zugesprochen.
Update 22.10.2012: Der EGMR hat nun auch eine Zusammenfassung des Urteils bereitgestellt.

Monday, January 17, 2011

Volltext des Schweizer Bundesgerichts zum "Alpenfestung"-Fall: Quellenschutz auch für Belanglosigkeiten

Das Schweizer Bundesgericht hat am 10. November 2010 nach öffentlicher Beratung entschieden, dass der Quellenschutz nach § 28a des Schweizer Strafgesetzbuchs auch für anonyme Kommentare in einem Blog des Schweizer Fernsehens gilt (siehe dazu schon hier und hier). Die Entscheidung, die mit knapper Mehrheit von 3:2 Stimmen getroffen wurde, ist seit heute im Volltext auf der Website des Bundesgerichts verfügbar (Danke an Franz Zeller - dessen Arbeiten zum Redaktionsgeheimnis vom Bundesgericht ausführlich zitiert werden - für den Hinweis auf die Veröffentlichung!).

Da der Quellenschutz nach dem Wortlaut von Art. 28a Abs. 1 Schweizer StGB auf die Vermittlung von Informationen beschränkt ist, befasst sich das Urteil eingehend mit der Abgrenzung zwischen Information und Unterhaltung, die freilich - so das Bundesgericht - "in der Praxis auf Schwierigkeiten" stößt:
"Eine klare Trennung erweist sich insbesondere bei neueren journalistischen Stilformen als problematisch, zu denen etwa das sog. Infotainment oder die Dokufiction gezählt werden. [...] Wegen der Bedeutung der Medienfreiheit und des Redaktionsgeheimnisses in einer demokratischen Gesellschaft ist der Begriff der Information weit auszulegen. Zu den Informationen gehören nicht nur sog. seriöse Botschaften, es kann gleichermassen die Vermittlung von Belanglosigkeiten dazu zählen. Auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Ernsthaftigkeit kann es nicht ankommen. Ebenso unerheblich ist, ob die Information von allgemeinem und öffentlichem Interesse ist. Es darf berücksichtigt werden, dass auch mit der sog. Unterhaltung Informationen verbunden sein können. Der Begriff der Unterhaltung ist demnach restriktiv zu verstehen. [...]
Gesamthaft zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen Information und Unterhaltung sowohl in allgemeiner Hinsicht als auch im konkreten Fall schwierig ist. Mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Hintergrund der Medienfreiheit und die Ausrichtung der Bestimmung von Art. 28a StGB sowie im Interesse der Rechtssicherheit ist im Allgemeinen von einem weiten Informationsbegriff auszugehen. Im vorliegenden Fall ist von Bedeutung, dass der umstrittene Kommentar an den Blog anschliesst und gewissermassen eine Antwort auf den Blog darstellt. Schliesslich hat sich gezeigt, dass der Beitrag auch konkret betrachtet tatsächlich Informationen enthält, welche die Anwendung des Quellenschutzes rechtfertigen.
Somit fällt der fragliche Kommentar in den Anwendungsbereich von Art. 28a Abs. 1 StGB. Das bedeutet, dass das SF Schweizer Fernsehen die Identität des Autors nicht preisgeben muss."
Der Quellenschutz führt aber - in den Worten des Bundesgerichts - "nicht zu einem strafrechtlichen Freipass", sondern bewirkt lediglich eine Verlagerung, da anstelle des - anonym bleibenden - Autors der verantwortliche Redaktor strafbar ist. Deutlich fällt die Warnung des Bundesgerichts an jene aus, die vielleicht glauben, im Schutz der Anonymität gefahrlos ehrverletzende Kommentare posten zu können:
"Überdies bedeutet der Umstand, dass sich das Medium nach Art. 28a Abs. 1 StGB auf den Quellenschutz berufen kann, in keiner Weise, dass das Medium tatsächlich davon Gebrauch machen müsste. Es ist frei, die entsprechenden Angaben über einen Informanten herausgeben und insoweit auf das Redaktionsgeheimnis zu verzichten. [...] Wohl kann der Informant oder Kommentator in persönlicher Weise auf eine bestimmte Person zielen. Er hat, wie dargetan, keine direkten Ansprüche aus dem Redaktionsgeheimnis und somit keine Gewähr, dass der Quellenschutz von Seiten des Mediums tatsächlich in Anspruch genommen wird."
Auch das Bundesgericht betont damit - vielleicht eine Folge des knappen Abstimmungsverhältnisses - recht nachdrücklich, dass das Redaktionsgeheimnis nicht den Informanten (die "Quelle") vor Strafverfolgung schützt, sondern dem Medium die Entscheidung überlässt, ob die Quelle offengelegt werden soll oder nicht (siehe meine entsprechenden Anmerkungen auch schon hier oder hier).

Zur Vermeidung von Missverständnissen weise ich nochmals darauf hin, dass sich nach dem Schweizer StGB "Personen, die sich beruflich mit der Veröffentlichung von Informationen im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums befassen", auf das Redaktionsgeheimnis berufen können - zu nicht-professionellen Blogs wurde schon aufgrund des konkret zu beurteilenden Sachverhalts nichts gesagt. Das Bundesgericht hat aber die Auslegung des § 28a Schweizer StGB ausdrücklich "an den verfassungsrechtlichen Grundanliegen" ausgerichtet, wie sie sich aus Art. 17 Abs. 3 der Schweizer Bundesverfassung und Art. 10 EMRK ergeben; dass man aus Art 10 EMRK allenfalls einen weitergehenden Schutzbereich des "Redaktionsgeheimnisses" herleiten könnte, dazu habe ich hier etwas mehr geschrieben.

PS: der Inhalt des inkriminierten Kommentars ist im Urteil des Bundesgerichts wörtlich wiedergegeben. Dass dieser Kommentar ehrverletzend sein könnte, erschließt sich meines Erachtens erst, wenn man bedenkt, dass der anonyme Poster sich eines falschen Namens bedient hatte, und dass die Person dieses Namens die im Kommentar enthaltenen "Informationen" als für sie ehrenrührig ansah.

Update 13.03.2014: Der OGH hat in seinem Urteil vom 23.01.2014, 6 Ob 133/13x, die im oben dargestellten Urteil des Schweizer Bundesgerichts dargelegte Auffassung für Österreich ausdrücklich abgelehnt.

Sunday, January 16, 2011

Vermischte Lesehinweise (24): EGMR, BVerfG, ENISA etc.

  • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verkündete in der vergangenen Woche drei Urteile in Verfahren, in denen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geltend gemacht hatten - und in keinem der drei Fälle kam es zu einer Verurteilung der betroffenen Mitgliedstaaten (Portugal, Deutschland, Schweiz). Zum Fall Barata Monteiro da Costa Nogueira und Patrício Pereira gegen Portugal (Application no. 4035/08) habe ich schon gesondert berichtet (hier); die beiden weiteren Fälle habe ich bislang nur in meiner Übersicht erwähnt (und auf Twitter, falls mir dort jemand folgen will: @hplehofer):
    • Im Fall Hoffer und Annen gegen Deutschland (Appl. nos. 397/07, 2322/07) ging es um die Verurteilung militanter Abtreibungsgegner, die vor einer (Abtreibungs-)Klinik Folder verteilt hatten, in denen ein namentlich genannter Arzt als "Tötungsspezialist" für ungeborene Kinder bezeichnet und die Vorname von Abtreibungen mit dem Holocaust verglichen wurde ("damals: Holocaust heute: Babycaust"). Der EGMR berücksichtigte ausdrücklich, dass die Auswirkungen einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte anderer nicht vom historischen und sozialen Kontext der Äußerung getrennt werden können und dass die Bezugnahme auf den Holocaust im spezifischen Kontext der deutschen Vergangenheit zu sehen ist. Durch die Verurteilung zu einre geringen Geldstrafe waren die Abtreibungsgegner daher nicht in ihren Rechten nach Art 10 EMRK verletzt (wegen langer Verfahrensdauer vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht wurde aber eine Verletzung des Art 6 EMRK festgestellt).
    • Während das Urteil im Fall Hoffer und Annen einmstimig erging, wurde im Urteil Mouvement Raelien Suisse gegen Schweiz (Appl. no. 16354/06) eine 5:2 Entscheidung getroffen. Die "Raelische Bewegung" hatte sich gegen das Verbot ihrer Plakatkampagne im öffentlichen Raum beschwert; die Plakate waren für sich eher harmlos bis skurril (es wurde eine Botschaft von Außerirdischen angekündigt und die URL der Website angegeben; außerdem gab es unter anderem Gesichter von Außerirdischen und eine fliegende Untertasse zu sehen). Die Plakataktion war allerdings deshalb untersagt worden, weil die Website der Bewegung "Geniokratie" (eine politische Ordnung auf der Grundlage eines Intelligenzquotienten) und Klonen fördern wollte und (nach einer gerichtlichen Entscheidung) "theoretisch" auch Pädophilie und Inzest befürwortete; schließlich bot eine Website, die von der angegebenen Seite aus verlinkt wurde, bestimmte Dienstleistungen im Bereich des Klonens und der Eugenik an, was  diskriminierend und in der Schweiz gesetzwidrig war. Der EGMR fand keine Verletzung des Art 10 EMRK. In ihrer abweichenden Meinung hielten Kammerpräsident Rozakis und Richterin Vajić fest, dass es in unseren Tagen angesichts der Bedeutung solcher Kommunikationsformen wie des Internet schwer zu verstehen scheint, dass eine legale Vereinigung nicht den öffentlichen Raum nützen kann, um auf ihre ebensowenig verbotene Website hinzuweisen. Update 13.7.2011: der Fall wurde auf Antrag der Beschwerdeführerin mit Beschluss vom 20.6.2011 an die Große Kammer verwiesen.
  • Das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Durchsuchung von Geschäftsräumen eines Rundfunksenders und Sicherstellung seiner Redaktionsunterlagen eine "übermäßige Beeinträchtigung der Rundfunkfreiheit" ist: Pressemitteilung vom 5.1.2011, Beschluss 1 BvR 1739/04, Beschluss 1 BvR 2020/04 (jeweils vom 10.12.2010) (siehe dazu auch eine Zusammenfassung von Martin W. Huff)
  • Schon etwas älter, aber noch nicht so lang im Volltext verfügbar: das deutsche Bundesverwaltungsgericht zur Rundfunkgebühr für internetfähige PC: 20.10.2010, 6 C 12.09
  • Wieder ein paar lesenswerte Beiträge in Sachen Netzneutralität: Joss Wright (Guardian), John Naughton  (Guardian), Rob Frieden, New, Old and Forgotten Frames in the Network Neutrality Debate und ebenfalls von Frieden ein Summary der FCC order
  • Maurice E. Stucke / Allen P. Grunes, Why More Antitrust Immunity for the Media Is a Bad Idea 
  • Eine interessante Entscheidung hat die belgische Regulierungsbehörde zur Öffnung des Kabelmarkts getroffen (noch in Konsultation: CSA-Pressemitteilung; Konsultation; (Informationen dazu in engliischer Sprache hier bei T-Regs) 
  • Bis 4.1.2011 hat es gedauert, bis der Beschluss der Kommission vom 20. Juli 2010 über die staatliche Beihilfe C 38/09 (ex NN 58/09), deren Gewährung Spanien zugunsten der spanischen Rundfunk- und Fernsehanstalt „Corporación de Radio y Televisión Española“ (RTVE) plant im Amtsblatt veröfentlicht wurde; dass nach diesem Beschluss die Beihilfenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Spanien mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, heißt noch nicht, dass die Kommission auch die Mittelaufbringung durch eine Abgabe auf Kommunikationsnetzbetreiber akzeptiert (das Vertragsverletzungsverfahren - siehe dazu hier - ist noch anhängig), Update 31.01.2011: Eine Klage gegen den Beschluss der Kommission ist beim EuG anhängig: T-533/10 DTS/Kommission; update 17.05.2011: eine weitere Klage dagegen: T-151/11);
  • Mitteilung der Kommission — Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit
  • ENISA, die Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit, war beim letzten Review des Telekom-Rechtsrahmens schon von Auflösung bedroht und sollte mit der damals geplanten "Superagency" der EU in Sachen Telekomregulierung zusammengeführt werden. Daraus ist nichts geworden, denn einerseits sollte es schließlich doch keine Superagency werden, sondern ein eher zahnloses Gremium, und andererseits wollte sich Griechenland die Agentur mit ihrem Sitz auf dem sonnigen Kreta nicht wegnehmen lassen (und da die neuen Mitgliedstaaten auch neue EU-Einrichtungen brauchten, dürfen die Telekom-Regulierer sich nun im ebenfalls schönen, aber doch deutlich kälteren Riga treffen). Dass ENISA aufgelöst werden sollte, hat die Agentur aber offenbar angespornt, auch ein wenig öffentlichkeitswirksamere Publikationen herauszubringen: Shop safely online ist eine Broschüre für Konsumenten und Händler, die online ein- bzw verkaufen wollen; der Bericht data breach notifications in the EU ist eine knappe, aber durchaus brauchbare Zusammenstellung vor dem Hintergrund der bis 25. Mai 2011 anstehenden Umsetzung der neuen Richtlinienvorschriften zu diesem Thema. 

Tuesday, January 11, 2011

Gegenwind zur Meinungsfreiheit? EGMR zu politischer Pressekonferenz über Strafanzeige

Der EGMR hatte sich in seinem heute verkündeten Urteil im Fall Barata Monteiro da Costa Nogueira und Patrício Pereira gegen Portugal (Application no. 4035/08) mit einer im politischen Geschehen auch in Österreich nicht ganz unbekannten Situation auseinanderzusetzen: einer Pressekonferenz, in der über eine gegen einen politischen Gegner eingebrachte Strafanzeige berichtet wird - wobei sich die Strafanzeige letztlich als unbegründet herausstellt. Der Gerichtshof zeigte sich gespalten, mit der knappen Mehrheit von 4:3 kam er zum Ergebnis, dass in der Verurteilung der Politiker, die die (nicht belegten und nicht erweisbaren) Vorwürfe öffentlich gemacht hatten, kein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gelegen war. Das abweichende Votum (dazu unten) ist wieder einmal spannender als die Mehrheitsmeinung.

Zum Sachverhalt: Eine Politikerin des portugiesischen Linksblocks und ein Anwalt dieser Partei hatten in einer zu diesem Zweck einberufenen Pressekonferenz einen Arzt und politischen Gegner beschuldigt, er habe seinen Einfluss in einer öffentlichen Krankenanstalt dafür genutzt, die dortige Augenheilkunde-Abteilung verkommen zu lassen und auf diese Weise Patienten (und auch klinisches Material) zu einer Klinik gebracht, an der er beteiligt gewesen sei. Die von der Politikerin und dem Anwalt eingebrachte Strafanzeige, über die sie bei der Pressekonferenz berichtet hatten, wurde in der Folge nicht weiter verfolgt, es kam zu keinem Strafverfolgung gegen den Arzt. Dieser brachte aber seinerseits einen Strafantrag wegen Verleumdung (diffamation) ein und gewann schließlich in zweiter Instanz. Die "exceptio veritatis" sei nicht erfüllt worden; es habe vielmehr keine Anzeichen dafür gegeben, dass der Arzt die ihm vorgeworfenen Handlungen begangen hatte. Die Politikerin und der Anwalt wurden jeweils zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt - und erhoben Beschwerde vor dem EGMR.

Dass ein Eingriff vorlag, dass dieser gesetzlich vorgesehen war, und dass er schließlich einem legitimen Ziel (Schutz des guten Rufs Anderer) diente, war unstrittig; zu prüfen verblieb nur, ob der konkrete Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der EGMR betont dazu zunächst einmal, dass es sich bei den Beschwerdeführern nicht um Journalisten handelt, sondern um politische Gegner, die auf klarer Faktengrundlage dafür verurteilt wurden, dass sie die Öffentlichkeit aus Gründen ihres politischen Vorteils glauben machen wollten, der politische Gegner habe sich eines schweren, gerichtlich strafbaren Machtmissbrauchs schuldig gemacht (Rz 35 des Urteils). Auch wenn man berücksichtigt, dass es sich um eine Debatte von öffentlichem Interesse handeln könnte, steht doch fest, dass dem Arzt konkretes strafrechtswidriges Handeln vorgeworfen und damit eine (als unzutreffend erwiesene) Tatsache behauptet (und kein bloßes Werturteil abgegeben) wurde. Der EGMR berücksichtigte auch, dass die Vorwürfe gravierend waren: je schwerer die Anschuldigung, desto besser müsste die Tatsachengrundlage sein ("Or plus l'allégation est sérieuse, plus la base factuelle doit être solide"). 

Die Kammervorsitzende Tulkens (Belgien) sowie die Richter Popović (Serbien) und Sajó (Hungary) stimmten gegen die Mehrheit. Sie setzen sich in ihrer abweichenden Meinung insbesondere damit auseinander, dass die Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen worden waren, und dass nach dem Urteil des Erstgerichts alle Umstände des Falles darauf hingewiesen hätten, dass der Arzt tatsächlich für den größten Teil der Fakten, derer er beschuldigt wurde, verantwortlich gewesen sei. Die Behauptung der Mehrheit, die Fakten seien einwandfrei festgestellt worden, wird von der Minderheit in Zweifel gezogen: "Les faits étaient-ils établis? La réponse est pour le moins incertaine." Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft letztlich keinen Grund für eine Strafverfolgung sah, reiche noch nicht aus, um den Beschwerdeführern Bösgläubigkeit vorzuwerfen. Schließlich sei selbst wenn die Fakten tatsächlich eindeutig wären eine strafrechtliche Verurteilung nicht erforderlich; die in der Minderheit gebliebenen Richter verweisen dazu auf die Bemühungen politischer Gremien des Europarats, die Verleumdung zu entkriminalisieren. Die abweichende Meinung schließt mit einem bemerkenswerten Plädoyer: 
"Au moment où les vents sont contraires, nous pensons que notre Cour doit plus que jamais renforcer la liberté d'expression qui, loin de constituer une protection ou un privilège, est un des éléments clés de la démocratie."
(grob übersetzt: Gerade in einem Zeitpunkt, in dem es Gegenwind gibt, glauben wir, dass unser Gerichtshof mehr als je zuvor die Freiheit der Meinungsäußerung stärken muss, die keineswegs ein Privileg ist, sondern ein Schlüsselement der Demokratie.)
Man soll nationale Zuordnungen bei den Richtern des EGMR nicht überinterpretieren; aber in diesen Tagen muss man doch anmerken, dass András Sajó, der ungarische Richter, diese Minderheitsmeinung mitverfasst hat. Und man kann gespannt sein, ob die Große Kammer mit dieser Sache befasst wird (Update 2.8.2011: das Urteil ist endgültig, die große Kammer wurde nicht befasst).

Update 26.08.2012: Einen interessanten Beitrag zur abweichenden Meinung der Kammervorsitzenden Tulkens in diesem Fall verfasste Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers: Tulkens on the barricades of freedom of expression and information.

Monday, January 10, 2011

Cold Calling: Regierungsvorlagen für TKG- und KSchG-Novellen

Manche Vorhersagen über den Ausgang von Gesetzgebungsverfahren sind wirklich einfach: Anlässlich des Begutachtungsverfahrens zum Ministerialentwurf für ein "Bundesgesetz über Maßnahmen gegen Unerbetene Werbeanrufe, mit dem das Telekommunikationsgesetz 2003 geändert wird" habe ich vor einem knappen halben Jahr Folgendes angemerkt: "Ich würde darauf wetten, dass zumindest das automatische Erlöschen einer Zustimmung nach drei Jahren nicht Gesetz wird." Denn der Ministerialentwurf hatte nicht nur das Erfordernis einer ausdrücklichen schriftlichen Zustimmung für Werbeanrufe, sondern darüber hinaus auch das automatische Erlöschen einer solchen Zustimmung nach Ablauf von drei Jahren vorgesehen. Dass von diesen zwei Punkten in der dem Nationalrat schließlich zugeleiteten Regierungsvorlage nichts mehr zu finden ist, war wahrlich nicht schwer vorherzusehen.

Tatsächlich ist die Regierungsvorlage sehr knapp ausgefallen, an der etwas großspurigen Bezeichnung als "Bundesgesetz über Maßnahmen gegen Unerbetene Werbeanrufe" hat sich allerdings nichts geändert (man beachte vor allem den Großbuchstaben bei "Unerbetene"!). Inhaltlich beschränkt sich diese Gesetzesvorlage nun darauf, bei Werbeanrufen die Unterdrückung oder Verfälschung der Rufnummernanzeige durch den Anrufer ausdrücklich - und mit Strafandrohung - zu untersagen (ebenso untersagt ist es, den Diensteanbieter zur Unterdrückung oder Verfälschung der Rufnummernanzeige zu veranlassen), sowie den Strafrahmen für unerbetene Werbeanrufe von bisher maximal 37.000 € auf bis zu 58.000 € zu erhöhen (eine Mindeststrafe ist weiterhin nicht vorgesehen). Für den Diensteanbieter ändert sich damit nichts (die Strafnormen richten sich an den Anrufer, allenfalls käme eine Beitragstäterschaft - § 7 VStG - in Betracht, wenn er sich vorsätzlich an der Verfälschung/Unterdrückung der Rufnummer beteiligt); die Verpflichtung zur Weiterleitung einer Caller-ID für den Diensteanbieter ergibt sich schon aus § 5 KEM-V, allerdings muss dies nicht die unmittelbare Anrufernummer sein, sondern bloß "eine rückrufbare Rufnummer, an welcher der Teilnehmer das Nutzungsrecht hat" oder, wenn es diese nicht gibt, "jede den Teilnehmer identifizierende Rufnummer". Die Verletzung von Verpflichtungen aus der KEM-V ist nach § 109 Abs 1 Z 9 TKG 2003 ebenfalls strafbar, mit einem Strafrahmen bis 4.000 €.

Die Gesetzesvorlage wurde im Nationalrat bereits im Ausschuss für Forschung, Innvoation und Technologie behandelt und dort einstimmig angenommen; dass der Text in dieser Form Gesetz wird, scheint damit höchst wahrscheinlich. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es im Plenum des Nationalrats zu einer gemeinsamen Beschlussfassung zusammen mit der Regierungsvorlage für ein Konsumentenschutzrechts-Änderungsgesetz 2011 (KSchRÄG 2011) kommen wird. Diese Regierungsvorlage ist dem Konsumentenschutzausschuss zur Beratung zugewiesen, der aber noch nicht dazu getagt hat. Der Entwurf für das KSchRÄG 2011 sieht im Wesentlichen vor, dass ein während eines unzulässigen Werbeanrufs ausgehandelter Vertrag nur gültig wird, wenn der Unternehmer dem Verbraucher innerhalb einer Woche ab dem Anruf eine Bestätigung mit den wesentlichen Vertragsinhalten entsprechend den Bestimmungen über den Fernabsatz übermittelt. Verträge über Wett- und Lotteriedienstleistungen, die bei einem unzulässigen Werbeanruf ausgehandelt wurden, sollen überhaupt nichtig sein.

Zur Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht verweist die Regierungsvorlage darauf, dass die Fernabsatz-RL 97/7/EG die im Entwurf behandelten Vertriebspraktiken nicht regelt und diese RL zudem für Verbraucher günstigere Regelungen zulässt. Das könnte sich allerdings in den nächsten Jahren ändern: der derzeit in Verhandlung stehende Richtlinienvorschlag der Kommission über Rechte der Verbraucher würde ein Ende der "Mindestharmonisierung" bedeuten (Artikel 4 des Vorschlags: "Die Mitgliedstaaten dürfen keine von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften aufrechterhalten oder einführen; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Verbraucherschutzniveaus.").Der Wegfall der "Mindestklausel" ist freilich eines der am heftigsten umstrittenen Themen im EU-Gesetzgebungsverfahren zur RL über Rechte der Verbraucher - und jedenfalls derzeit steht die Fernabsatz-RL dem österreichischen Vorhaben, das Verbraucherschutzniveau bei Verträgen, die bei unzulässigen Werbeanrufen zustandekommen, anzuheben, nicht entgegen.

Als Inkrafttretenstermin für die neuen Bestimmungen ist der 1. März 2011 vorgesehen.
Update 25.1.2011: Der nächste Ausschusstermin des Konsumentenschutzausschusses wurde für den 22.02.2011 festgelegt; nächster Plenartag des Nationalrats ist der 01.03.2011 - man kann also davon ausgehen, dass der Inkrafttretenstermin nach hinten verschoben wird.