Friday, February 26, 2016

Off Topic: Scalia, der Hubertus-Orden und richterliche Berufsethik

Antonin Scalia, einer der "Celebrity Justices" des US Supreme Court, ist am 13. 2. 2016 während eines Jagdaufenthalts in Texas verstorben. Mit den Themen dieses Blogs hat das nicht viel zu tun - außer vielleicht, dass Scalia 1971/72 in der US-Regierung im Office of Telecommunications Policy gearbeitet hat ("I used to work in the field of telecommunications", hielt er einem Anwalt schon einmal in einer Verhandlung entgegen). Außerdem hat Scalia einige Entscheidungen im Telekom-Bereich verfasst (zB Verizon v. Trinko oder MCI v. AT&T), und er hat in einem Dissent immerhin das Internet mit einer Pizzeria verglichen (NCTA v. Brand X; lesenswert im Zusammenhang mit Netzneutralität, wie ein Bericht im Atlantic aufzeigt).

Aber darum geht es in diesem Beitrag gar nicht - sondern ganz off topic um eine Frage richterlicher Berufsethik, die mit einem überraschend zu Tage getretenen (entfernten) Österreich-Bezug von Scalia zusammenhängt: der Mitgliedschaft in diskriminierenden Organisationen.

Wie die Washington Post nämlich vor wenigen Tagen berichtete, war Scalia bei seinem Jagdausflug unter hochrangigen Mitgliedern des Internationalen St. Hubertus-Ordens, ein - nach Angaben der Washington Post - 1695 von Graf Franz Anton von Sporck in Böhmen gegründeter, österreichischer - und: ausschließlich männlicher - Orden. Die Washington Post ließ offen, ob Scalia Mitglied des Ordens war. Die Antwort darauf lieferte heute die österreichische Tageszeitung Kurier, wo es heißt:
Der verstorbene Richter Scalia war Mitglied. Der Großprior des internationalen St. Hubertus Ordens, Maternus Lackner, Forstdirektor der Flick’schen Gutsverwaltung in Rottenmann, wundert sich über die Aufmerksamkeit, die sein christlicher Jägerkonvent plötzlich hat. Der bekannteste Verfassungsrichter der USA, Antonin Scalia, war ein Ordensmitglied, sagt der Großprior und beendet damit Spekulationen der Washington Post.
Ich bin zwar nicht ganz sicher, wie weit dem zu trauen ist, denn nach der Website des Ordens ist Herr Lackner nur Großprior der "Ballei" (Ordensprovinz) Österreich, aber ich unterstelle einmal, dass er eine solche Aussage nicht leichtfertig trifft und der Kurier auch richtig berichtet.

Damit aber wäre Scalia Mitglied einer Vereinigung gewesen, die offen Geschlechterdiskriminierung praktiziert. Nach den Regularen des Ordens können nämlich nur Männer Mitglied werden (dass den Männern auch Frauen "gleichzusetzen" sind, die "als Souverän ein Land regieren", ändert nichts an der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei der Aufnahme):
Nun ist aber die Mitgliedschaft in "all boys clubs" mit der richterlichen Berufsethik, wie sie in den USA vor allem im "Code of Conduct for United States Judges" festgelegt ist, schwer vereinbar. Canon 2C des Code of Conduct lautet:
Nondiscriminatory Membership. A judge should not hold membership in any organization that practices invidious discrimination on the basis of race, sex, religion, or national origin.
Eine statutarisch festgelegte Beschränkung der Aufnahme auf ein bestimmtes Geschlecht ist wohl eine offene unfaire ("invidious") Diskriminierung ("An organization with a by-law explicitly denying membership to persons on the basis of race, sex, religion, or national origin obviously practices discrimination within the meaning of Canon 2C", heißt es schon in diesem Leitfaden aus 1996).

Hintergrund dieser Bestimmung ist natürlich, dass die Mitgliedschaft in einer Organisation, die (zB) bei der Aufnahme nach Geschlechtern diskriminiert, Anlass für Zweifel an der Unabhängigkeit geben kann: wenn ein Richter etwa Mitglied in einem "all boys"-Club ist, kann der Eindruck entstehen, dass er Frauen und Männer vielleicht nicht gleich behandeln würde. Dass das auch bei Supreme Court Justices so gesehen wird, zeigte sich zuletzt bei der Bestellung Sonia Sotomayors, die vor ihrer Ernennung Mitglied in einem elitären "women only"-Club war: Nach Kritik von Republikanern beendete sie noch vor den Confirmation Hearings im Senat diese Mitgliedschaft (Kritik kam damals unter anderem auch von Ed Whelan in der rechtskonservativen National Review, der freilich ein großer Scalia-Verehrer ist).

Scalia berührt das natürlich nicht mehr - und es hätte ihn, der auch sonst in Fragen der richterlichen Berufsethik nicht immer kleinlich war (und sich zB gern auf Reisen einladen ließ oder Befangenheitsfragen "großzügig" handhabte), wahrscheinlich schon zu Lebzeiten nicht besonders beeindruckt. In der Praxis legen die mit Fragen der richterlichen Berufsethik befassten Ausschüsse Canon 2C auch so aus, dass - wegen eines sonstigen Konflikts mit der Freiheit der Religionsausübung - religiöse Vereinigungen davon nicht betroffen sind; vielleicht könnte man den Hubertus-Orden in diesem Sinne auch als religiöse Vereinigung sehen.

Und bei uns?
In Österreich - und soweit ich das beurteilen kann auch in Deutschland - gibt es keine ausdrückliche Bestimmung, wonach die Mitgliedschaft in diskriminierenden Organisationen als Verstoß gegen die richterliche Berufsethik zu werten wäre. Die Ethikerklärung der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter ("Welser Erklärung") spricht in ihrem Art IX (Außerdienstliches Verhalten) zwar den Beitritt zu politischen Parteien an, nicht aber den Beitritt zB zu geschlechterdiskriminierenden Organisationen. 

Thursday, February 25, 2016

EGMR: Verbot der Veröffentlichung von Fotos eines gefolterten Entführungsopfers keine Verletzung des Art 10 EMRK

"Choc", der Name eines französischen Klatschmagazins, ist durchaus programmatisch zu verstehen: Im Juni 2009, während des Strafprozesses gegen Entführer, die einen jungen Mann entführt, gefoltert und später ermordet hatten, druckte das Magazin am Titelblatt ein Foto dieses Mannes, das von den Entführern gemacht worden war, die damit Lösegeld erpressen wollten. Es zeigte den Entführten gefesselt und mit sichtbaren Spuren der Folter. Das Foto wurde nicht nur am Cover, sondern noch vier weitere Male im Magazin gedruckt. Im Editorial schrieb das Magazin, dass man sich entschieden habe, "dieses schreckliche Foto" zu veröffentlichen, weil es mehr als alle Worte das Martyrium eines Menschen zeigt, der der Barbarei zum Opfer gefallen ist.

Die Mutter des Opfers und dessen zwei Schwestern klagten wegen Verletzung der Privatsphäre und erreichten zunächst die Einziehung (Vertriebsverbot) - in der Instanz umgewandelt in die Verpflichtung, die Zeitschrift nur mit geschwärzten Fotos zu vertreiben - und eine Entschädigung von 20.000 € für die Mutter und je 10.000 für die Schwestern des Opfers.

Die Medieninhaberin der Zeitschrift fühlte sich dadurch in ihren Rechten nach Art 10 EMRK ein und wandte sich an den EGMR. Dieser hat in seinem heutigen Urteil Société de Conception de Presse et d’Édition gegen Frankreich (Appl. no. 4683/11; Pressemitteilung) jedoch einstimmig festgehalten, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag. Die Entscheidung ist nicht überraschend und bringt rechtlich nichts Neues, zeigt aber wieder einmal, welche Praktiken des Boulevardjournalismus jedenfalls nicht mit der Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden können.

Der EGMR hielt fest, dass ein Eingriff in die freie Meinungsäußerung gegeben war, der durch das Gesetz gedeckt war und einem legitimen Ziel - dem Schutz der Privatsphäre der Mutter und der Schwestern des Opfers - diente.

Zur Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft verwies der EGMR auf seine mittlerweile ständige Rechtsprechung zur Abwägung des Rechts auf Schutz der Privatsphäre und des Rechts auf freie Meinungsäußerung (zuletzt in Couderc et Hachette Filipacchi Associés, mit weiteren Verweisen auf Von Hannover (Nr 2) - im Blog dazu hier - und Axel Springer AG - im Blog dazu hier). Zu den einzelnen Kriterien:

- Debatte von allgemeinem Interesse
Bei einer Gesamtbetrachtung hatte der Artikel eine Information zum Gegenstand, wie sie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen kann (der EGMR formuliert hier recht zurückhaltend: "l’article avait notamment pour objet une information de nature à contribuer à un débat d’intérêt général" - dass der konkrete Artikel wirklich zu einer solchen Debatte beigetragen hätte, stellt er damit gerade nicht fest).

- Bekanntheit der Person und Gegenstand der Reportage
Die von der Berichterstattung betroffene Person war eine Privatperson (dass man als Opfer eines in der Öffentlichkeit Aufsehen erregenden Verbrechens dadurch nicht zur "public figure" wird, hat der EGMR übrigens im Fall Krone Verlag GmbH & Co KG und Krone Multimedia GmbH & Co - im Blog dazu hier - ausgesprochen). Zum Gegenstand des Artikels hält der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte zwischen den Fotos und dem Rest des Berichts unterschieden haben.

- Art der Informationserlangung
Das Foto war von den Entführern gemacht worden und den Verwandten des Opfers zum Zweck der Lösegelderpressung übermittelt worden. Es war nicht zur Veröffentlichung bestimmt und gehörte den Verwandten bzw war es auch Teil der Ermittlungsakten; eine Genehmigung zur Veröffentlichung lag nicht vor. Der Umstand, dass das Foto auch es in einer Fernsehsendung (wie von den nationalen Gerichten festgestellt: "notwendigerweise flüchtig") gezeigt worden war, ändert nichts daran, dass es ohne Genehmigung der Angehörigen des Opfers nicht "öffentlich" war. (Woher die Zeitschrift das Foto hatte, geht aus dem Urteil nicht hervor; da das Foto aber in den Ermittlungsakten war, könnte es zB durch Verfahrensbeteiligte weitergegeben worden sein).

Inhalt, Art und Folgen des Berichts
Der EGMR stimmt den nationalen Gerichten zu, dass die Veröffentlichung des Fotos die Gefühle der Angehörigen tief verletzen konnte und eine schwere Beeinträchtigung der Menschenwürde des Opfers zeigte. Dass seit der Aufnahme des Fotos (zum Zeitpunkt der Entführung 2006) bereits längere Zeit vergangen war, ändert daran nichts, da das Foto nicht nur noch nie veröffentlicht worden war, sondern die Veröffentlichung auch gerade zu einer Zeit erfolgte, als das Strafverfahren gegen die Entführer im Gang war. Das hätte die Journalisten zu Zurückhaltung und Vorsicht veranlassen müssen, zumal der Tod unter besonders brutalen und traumatisierenden Umständen für die Angehörigen eintrat. Die Veröffentlichung der Fotografie, auf dem Titelblatt und vier weitere Male im Inneren der Zeitschrift, in einem Magazin mit sehr großer Auflage war daher geeignet, die Traumatisierung der Angehörigen zu verstärken.

- Schwere der Sanktion
Der EGMR hält dazu fest, dass das Berufungsgericht die Einziehung des Magazins abgeändert hatte in die Verpflichtung, die Fotos zu schwärzen. Das zeige, dass das nationale Gericht sein Augenmerk ausdrücklich nur auf die strittigen Fotos gelegt habe; unter den gegebenen Umständen sei dies eine angemessene Sanktion. Die Medieninhaberin habe auch nicht darlegen können, dass diese Sanktion unter den Umständen des Falles einen chilling effect ("effet dissuasif") gehabt habe. Auch die Höhe der Entschädigung (insgesamt 40.000 €) wird vom Gericht nicht als exzessiv beurteilt.

Damit kommt der EGMR zum Ergebnis, dass der Eingriff auch mit stichhaltigen und hinreichenden Gründen gerechtfertigt und verhältnismäßig war, sodass er insgesamt als "in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich" beurteilt wurde.

Wednesday, February 17, 2016

EuGH: "Schwarze Sekunden" zwischen Werbespots sind in die zulässige Höchstdauer der Fernsehwerbung einzurechnen

In seinem heutigen Urteil in der Rechtssache C-314/14, Sanoma Media Finland Oy, hatte der EuGH wieder einmal Bestimmungen zur Fernsehwerbung in der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL) auszulegen. Dabei ging es um die Abgrenzung von Werbung und sonstigem Programm bei der Split-Screen-Werbung, um die Einbeziehung von Sponsorhinweisen außerhalb gesponserter Sendungen in die zulässige Werbezeit und schließlich um die etwas esoterisch klingende Frage, ob auch "schwarze Sekunden" in die zulässige Werbezeit einzurechnen sind.

Split-Screen: der geteilte Bildschirm ist ein ausreichender Werbetrenner
Nach Art 19 Abs 1 AVMD-RL müssen Fernsehwerbung und Teleshopping "als solche leicht erkennbar und vom redaktionellen Inhalt unterscheidbar sein" (Satz 1). Außerdem müssen müssen Fernsehwerbung und Teleshopping "durch optische und/oder akustische und/oder räumliche Mittel eindeutig von anderen Sendungsteilen abgesetzt sein." (Satz 2)

Wird am Ende einer Sendung der Bildschirm in zwei Spalten geteilt, wobei in einer Spalte der Abspann zur Sendung gezeigt wird, in der anderen Spalte "eine Programmtafel mit der Präsentation der nachfolgenden Sendungen des Diensteanbieters" (wobei ich annehme, dass dieser Teil als Werbung anzusehen ist, sonst bleibt das Urteil nämlich unverständlich), so reicht die durch die Teilung des Bildschirms erzielte räumliche Trennung aus, um die Anforderungen des Art 19 Abs 1 zweiter Satz AVMD-RL zu erfüllen. Aus dem Urteil:
36   Wie insbesondere aus der doppelten Verwendung von „und/oder“ hervorgeht, lässt dieser zweite Satz den Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen, einige dieser Mittel auszuwählen und andere auszuschließen.
37   Folglich müssen Fernsehwerbung und Teleshopping zwar unter Anwendung der einzelnen in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste aufgezählten Mittel klar von den Fernsehsendungen getrennt werden. Diese Mittel müssen aber gemäß dieser Bestimmung nicht kumulativ angewendet werden. Wenn nämlich schon mit einem von ihnen, sei es optisch, akustisch oder räumlich, sichergestellt werden kann, dass die Anforderungen, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 dieser Richtlinie ergeben, in vollem Umfang eingehalten werden, brauchen die Mitgliedstaaten nicht den kombinierten Einsatz dieser Mittel vorzusehen.
Die Mitgliedstaaten dürfen gemäß Art 4 Abs 1 AVMD-RL strengere Regeln vorsehen; tun sie das aber nicht (wie zB auch der österreichische Gesetzgeber), so reicht also eine entweder optische oder akustische oder räumliche Trennung, um die Anforderungen des Art 19 Abs 1 zweiter Satz AVMD-RL zu erfüllen. Ob damit aber auch schon die Anforderungen des ersten Satzes erfüllt sind (leichte Erkennbarkeit als Werbung und Unterscheidbarkeit vom redaktionellen Inhalt), müssen die nationalen Gerichte beurteilen.

Generalanwalt Szpunar war in diesem Punkt in seinen Schlussanträgen noch zu einem anderen Ergebnis gekommen und hatte die Auffassung vertreten, "dass allein die Aufteilung des Bildschirms in verschiedene Teile, von denen einer für Werbung bestimmt ist, keine ausreichende Trennung dieser Werbung vom redaktionellen Inhalt darstellt."

[Allerdings lässt mich das Urteil des EuGH in diesem Punkt eher ratlos zurück, da es (in RNr 28) von einem geteilten Bildschirm spricht, "in dem der Programmabspann einer Fernsehsendung in einer Spalte und eine Programmtafel mit der Präsentation der nachfolgenden Sendungen des Diensteanbieters in einer anderen Spalte angezeigt werden, um die Sendung, die endet, von der Fernsehwerbeunterbrechung, die ihr nachfolgt, zu trennen". Da eine Programmtafel nicht zwingend Werbung sein muss, und das "Nachfolgen" zeitlich auch heißen kann, dass die Werbung erst nach Ende des Abspanns und der Programmtafel gesendet wird, könnte man das auch dahin verstehen, dass es um die Trennung von einer erst nach dem Split Screen mit Abspann/Vorschau gesendeten Werbung geht (ähnlich auch in RNr 38, wo neuerlich von der Fernsehwerbeunterbrechung die Rede ist, die einer Sendung "nachfolgt"). In den Schlussanträgen des Generalanwalts wird hingegen eindeutig auf eine Trennung zwischen Programmabspann auf der einen Seite des Split Screens und Fernsehwerbung auf der anderen Seite Bezug genommen, und nur wenn man dieses Verständnis des Sachverhalts auch dem EuGH-Urteil zugrundelegt, ergibt es Sinn.]

Sponsorzeichen außerhalb des gesponserten Programms: in Werbezeit einzurechnen
Nach Art 23 Abs 1 AVMD-RL darf der Anteil von Fernsehwerbespots und Teleshopping-Spots an der Sendezeit innerhalb einer vollen Stunde 20 % nicht überschreiten. Fraglich war , ob in die Werbezeit auch Sponsorenhinweise einzurechnen sind, die außerhalb der gesponserten Sendung gebracht werden. Solche Sponsorenhinweise wurden im Ausgangsfall etwa in den Programmhinweisen zur gesponserten Sendung oder in anderen Sendungen gebracht (eine Praxis, die auch in Österreich durchaus üblich ist).

Der EuGH ist hier knapp und argumentiert, dass nach Art 10 Abs 1 lit c der RL Sponsorenhinweise "zum Beginn, während und/oder zum Ende der Sendung" zu platzieren sind; werden sie außerhalb der Sendung gebracht und nicht in die zulässige Werbezeit eingerechnet, würden damit die Bestimmungen über die höchstzulässige Werbezeit umgangen. Solche Hinweise sind daher in diese maximal zulässige Sendezeit für Werbung innerhalb einer vollen Stunde einzuberechnen. Ohne weitere Argumentation vorausgesetzt wird dabei, dass es sich bei diesen Sponsorenhinweisen außerhalb der Sendungen um Fernsehwerbung handelt.

"Schwarze Sekunden" zwischen Werbespots sind Werbezeit
Zwischen redaktionellem Programm und Werbung sowie zwischen einzelnen Werbespots wird zur optischen Trennung häufig eine Schwarzblende eingesetzt. Im Ausgangsfall ließ der Fernsehveranstalter jedem "ausgestrahlten Werbespot schwarze Bilder mit einer Dauer von 0,4 bis 1 Sekunde vor- und nachfolgen, die als 'schwarze Sekunden' bezeichnet werden." Da unter Einrechnung dieser "schwarzen Sekunden" eine Gesamtwerbezeit von 12 Minuten und 7 (!) Sekunden in einer vollen Stunde erreicht wurde, hatte die Regulierungsbehörde eine Rechtsverletzung festgestellt.

Der EuGH hält fest, dass sich allein anhand des Wortlauts von Art 23 Abs 1 AVMD-RL nicht ermitteln lässt, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie vorschreibt, "schwarze Sekunden" in die Grenze von 20 % (einer Stunde) einzuberechnen. Daher ist der Status der "schwarzen Sekunde" im Hinblick auf die Zielsetzung von Art. 23 Abs. 1 AVMD-RL zu bestimmen. Die Bestimmung, so der EuGH, folgt der Absicht des Unionsgesetzgebers, das ordnungsgemäße Erreichen des wesentlichen Ziels dieser Richtlinie sicherzustellen, das darin besteht, die Verbraucher als Zuschauer gegen übermäßige Fernsehwerbung zu schützen. Daher erlaube sie den Mitgliedstaaten nicht, "die Mindestsendezeit, die für die Ausstrahlung von Sendungen oder anderen redaktionellen Inhalten bestimmt ist, zugunsten von Werbeelementen auf unter 80 % innerhalb einer vollen Stunde – die in diesem Artikel implizit bestätigte Grenze – herabzusetzen."

"Schwarze Sekunden" zwischen den einzelnen Spots als auch zwischen dem letzten Spot und der Sendung, die der Werbeunterbrechung nachfolgt (nicht aber die "schwarzen Sekunden" vor dem ersten Spot einer Werbeunterbrechung), sind daher als Sendezeit für die Ausstrahlung von Fernsehwerbung für die Zwecke des Art 23 Abs 1 AVMD-RL anzusehen.

Update 26.02.2016: nach einer Schrecksekunde, die immerhin mehr als eine Woche dauerte, melden sich jetzt überrascht die Fernsehveranstalter zu Wort: ORF-Generaldirektor Wrabetz meint, dass das "fast alle Sender seit gefühlten 60 Jahren" so machen (nämlich die schwarzen Sekunden nicht in die Werbezeit einrechnen; siehe Bericht auf DerStandard.at). ATV-Chef Martin Gastinger wird in Medienberichten die Idee einer Anfechtung der EuGH-Entscheidung zugeschrieben (Bericht auf DerStandard.at; mehr auf Horizont.at [mittlerweile richtiggestellt]); tatsächlich hat er aber nur gesagt, dass ATV versuchen werde, "gemeinsam mit anderen Sendern dagegen vorzugehen."

Update 08.04.2016: Die österreichische Rundfunkregulierungsbehörde KommAustria ist nach Analyse des EuGH-Urteils zum Ergebnis gekommen, "dass die bislang in Österreich bestehende Vollzugspraxis bzw. Rechtsprechung in einigen Punkten von der nunmehrigen Rechtsansicht des EuGH abweicht"; sie hat daher mit Schreiben vom 08.04.2016 alle österreichischen Rundfunkveranstalter über Auslegungsfragen nach dem EuGH-Urteil informiert.

Tuesday, February 16, 2016

EGMR: Ärztekammer Wien und Dorner / Österreich - Begriff "Heuschrecke" als unethische Herabsetzung eines Wettbewerbers

Darf die Wiener Ärztekammer - als gesetzliche Standesvertretung - in einem Rundschreiben an ihre Mitglieder eine Kapitalgesellschaft, die Radiologiepraxen übernehmen möchte, als "Heuschrecken-Unternehmen" bezeichnen? Wenn die Behauptung nicht im Kern wahr ist, nicht - so entschieden die österreichischen Gerichte (letztinstanzlich: Beschluss des OGH vom 22.01.2008, 4 Ob 236/07w im EV-Verfahren, Beschluss vom 14.07.2009, 4 Ob 22/09b im Hauptsacheverfahren). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat darin in seinem heute ergangenen Urteil im Fall Ärztekammer für Wien und Dorner gegen Österreich (Appl. no. 8895/10) keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art 10 EMRK gesehen.

Zum Ausgangsfall
Der Präsident der Ärztekammer Wien hatte in einem Rundschreiben der Ärztekammer und auf deren Website die Tätigkeit von Kapitalgesellschaften im ambulanten Bereich kritisiert. Zwei namentlich genannte Unternehmen bezeichnete er (mittelbar) als "Heuschrecken-Unternehmen", deren Ziel die "Herrschaft über den ärztlichen Berufsstand" sei. Die Standesvertretung werde mit allen rechtlichen und politischen Mitteln gegen diese "desaströse Entwicklung" vorgehen. Denn dadurch würde die Qualität der Behandlung nicht mehr vom Arzt bestimmt, sondern von "Managern und Controllern".

Auf Antrag eines der namentlich genannten Unternehmen wurde der Ärztekammer und ihrem Präsidenten (unter anderem) die Behauptung untersagt, das Unternehmen sei ein "Heuschrecken-Unternehmen", eine Heuschrecke und/oder ein „Heuschrecken-Fonds".

Der OGH bestätigte die unterinstanzlichen Entscheidungen. Zwar würden die Beklagten an einer Debatte teilnehmen, die öffentliche Interessen betraf, allerdings sei auch ihre Absicht deutlich hervorgetreten, den Wettbewerb freiberuflich tätiger Ärzte gegenüber zwei auf den Markt drängenden Kapitalgesellschaften zu fördern.

Der Begriff "Heuschrecke" sei im gegebenen Zusammenhang als Tatsachenbehauptung zu verstehen; er bezeichne im jüngeren politisch-ökonomischen Sprachgebrauch nicht bloß expandierende Kapitalgesellschaften, an denen (auch) institutionelle Anleger beteiligt seien. Vielmehr würden die angesprochenen Kreise darunter Unternehmen verstehen, die nur den kurzfristigen, durch alsbaldige Weiterveräußerung zu realisierenden Profit anstreben und die Belange der Mitarbeiter, Geschäftspartner und Kunden diesem Interesse unterordnen ("abfressen und weiterziehen"). Wörtlich hieß es im OGH-Beschluss (im EV-Verfahren):
Wird - wie hier - ein bestimmtes Unternehmen, das bereits im umkämpften Geschäftsfeld tätig ist, als "Heuschrecke" bezeichnet, so enthält das den Vorwurf eines solchen Verhaltens. Daher muss diese Äußerung, um erlaubt zu sein, auch unter Berücksichtigung der Meinungsäußerungsfreiheit einen sachlich richtigen Kern haben. Diesen Beweis haben die Beklagten nicht erbracht. [...]
Zwar besteht zweifellos ein öffentliches Interesse an der Debatte über die Zukunft des Gesundheitswesens. Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit schlösse es daher aus, eine entferntere, bloß mögliche Deutung der beanstandeten Formulierungen zur Ermittlung des für ihre rechtliche Beurteilung relevanten Tatsachenkerns heranzuziehen [...]. Hier geht es aber nicht um eine solche entferntere Deutung, sondern gerade um den Kern des von den Beklagten verwendeten Begriffs. Die damit konkludent aufgestellten Tatsachenbehauptungen, die das Unternehmen der Klägerin - nach zumindest vertretbarer Ansicht - herabsetzen und nicht erweislich wahr sind, können mit dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung nicht gerechtfertigt werden [...].
Eine gewisse Distanz zeigte der OGH im Beschluss, mit dem die außerordentliche Revision der Beklagten im Hauptsacheverfahren zurückgewiesen wurde:
Unter den besonderen Umständen des Einzelfalls ist die Entscheidung der Vorinstanzen trotz der Teilnahme der Beklagten an einer Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses nicht unvertretbar. Denn auch in solchen Debatten müssen es konkret genannte Unternehmen [...] nicht hinnehmen, dass über sie unwahre kreditschädigende Tatsachenbehauptungenaufgestellt werden. Die von den Beklagten beabsichtigte Warnung vor den Gefahren des Auftretens von Kapitalgesellschaften auf dem Markt für ärztliche Dienstleistungen wird durch das Verbot nicht unmöglich; die Beklagten haben es lediglich zu unterlassen, über konkrete Mitbewerber der von der Erstbeklagten vertretenen Ärzte unwahre Tatsachenbehauptungen aufzustellen

Das Verfahren vor dem EGMR
Sowohl die Ärztekammer Wien als auch deren Präsident - beiden waren die Behauptungen untersagt worden - erhoben Beschwerde an den EGMR.

- Ärztekammer ist keine nicht-staatliche Organisation
Die Beschwerde der Ärztekammer wurde vom EGMR ratione personae (aus in der Person gelegenen Gründen) als unzulässig erklärt: Der EGMR kann nach Art 34 EMRK "von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe" angerufen werden. Die Ärztekammer ist durch Gesetz und nicht durch Privatrechtsakt eingerichtet, es besteht Zwangsmitgliedschaft und die Beziehung zwischen Mitgliedern und den Verwaltungsorganen ist öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Die Kammer nimmt auch hoheitliche Aufgaben wahr und untersteht dabei der staatlichen Aufsicht. Zudem wird sie durch Pflichtbeiträge aller Ärzte finanziert. Der EGMR sah auch die verfahrensgegenständliche Äußerung nicht als Ausübung der öffentlichen Aufgabe der Kammer an ("exercising the chambers public function"), sodass die Ärztekammer nicht als nichtstaatliche Organisation beurteilt wurde (der EGMR verweist dazu auf eine frühere Entscheidung der Menschenrechtskommisison zur Wirtschaftskammer und auf die abweichende Beurteilung für den ORF; siehe im Blog dazu hier).

Die Beschwerde des Präsidenten der Ärztekammer Wien ist hingegen zulässig, da er eine natürliche Person ist und ihm persönlich von den Gerichten bestimmte Behauptungen untersagt worden waren.

- Eingriff, vom Gesetz vorgesehen, legitimes Ziel
Unstrittig war, dass die Untersagung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, und dass der Eingriff ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer verfolgte. Bestritten wurde hingegen, dass der Eingriff im Sinne der Rechtsprechung des EGMR "vom Gesetz vorgesehen" war, da § 7 UWG (Herabsetzung eines Unternehmens), auf den sich die nationalen Gerichte stützten, nicht ausreichend klar sei. Der EGMR teilte diese Ansicht nicht; § 7 UWG sei ausreichend präzise, auch die Rechtsfolgen seien darin klar genannt.

- unentbehrlich in einer demokratischen Gesellschaft
Damit blieb zu beurteilen, ob der Eingriff im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft [...] unentbehrlich" war. Der EGMR verweist dabei zunächst auf die Kriterien zur Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Art 8 und Art 10 EMRK, die er in Von Hannover (Nr 2) (im Blog dazu hier) und zuletzt etwa in Couderc entwickelt hat. Weiters weist er darauf hin, dass die Grenzen zulässiger Kritik bei "large public companies" zwar weiter seien, dem öffentlichen Interesse an einer offenen Debatte über Geschäftspraktiken allerdings auch das damit in Widerstreit stehende Interesse am Schutz des wirtschaftlichen Erfolges und der Lebensfähigkeit von Unternehmen gegenüberstehe. Die Konventionsstaaten hätten daher einen Beurteilungsspielraum. der allerdings wieder eingeschränkt sei, wenn es nicht nur um ein rein "wirtschaftliches" Statement gehe, sondern um die Teilnahme an einer Debatte von allgemeinem Interesse, wie zum Beispiel im Bereich des Gesundheitswesens.

Im konkreten Fall hält der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte die Aussagen in ihrer Gesamtheit beurteilt haben und zum Ergebnis gekommen sind, dass sie in einem klar wirtschaftlichen Kontext gefallen seien, in dem Arztpraxen mit Kapitalgesellschaften, die dieselben Dienste anbieten, in Wettbewerb stehen. Die nationalen Gerichte hatten auch berücksichtigt, dass in einer Debatte von öffentlichem Interesse der Freiheit der Meinungsäußerung höheres Gewicht zukomme, dass aber der Begriff "Heuschrecke" praktisch ausschließlich negativ besetzt sei und zu einer unethischen allgemeinen Herabsetzung ("unethical general vilification") des Wettbewerbers geführt habe. Der Begriff hätte beim Leser den Eindruck erweckt, dass die betroffene Kapitalgesellschaft bereits ein unethisches Verhalten gesetzt habe, das die Interessen von Ärzten und Patienten geschädigt habe. Dies habe die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens schädigen können und sei auch nicht als wahr nachgewiesen worden.

Für den EGMR ist daher auch keine abschließende Klärung erforderlich, ob die Aussage (wie von den österreichischen Gerichten gesehen) eine Tatsachenbehauptung war oder doch eher ein Werturteil, da auch im Fall eines Werturteils eine ausreichende Tatsachengrundlage erforderlich wäre. Die Untersagung der Behauptungen gegenüber dem Präsidenten der Wiener Ärztekammer sei daher auf relevante und ausreichende Gründe gestützt. Auch Art und Schwere der Sanktion (Untersagung, Veröffentlichung) sei moderat geblieben, Der Eingriff sei daher im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK festzustellen war.

Anmerkungen

- Zur Beschwerdelegitimation
Zunächst wirkt die Sache insofern etwas merkwürdig, als die Ärztekammer selbst vor dem EGMR nicht beschwerdeberechtigt ist, der Präsident der Ärztekammer - der die Aussagen wohl ausschließlich in seiner Funktion getätigt hat und nicht als Privatperson oder als selbständiger Arzt unabhängig von seiner Kammerfunktion - hingegen schon. Das ist aber die Konsequenz der in Art 34 EMRK vorgesehenen Einschränkung des Beschwerderechts, die staatlichen Organisationen das Beschwerderecht versagt, dieses Recht allerdings natürlichen Personen unbeschränkt einräumt, auch wenn es um ihre Rolle als Funktionäre einer staatlichen Organisation geht. Voraussetzung ist natürlich immer, dass man als natürliche Person Opfer des Eingriffs wurde - was hier aber klar auf der Hand lag, da vor den nationalen Gerichten ausdrücklich auch der Präsident der Ärztekammer Beklagter war und zur Unterlassung verurteilt wurde (eine Konsequenz der weiten Passivlegitimation nach dem UWG).

- "margin call"
Der wohl wesentlichste Begriff im Urteil des EGMR ist "margin of appreciation", der gleich fünfmal im entscheidenden Teil des Urteils strapaziert wird. Wenn der EGMR so laut und deutlich auf den Beurteilungsspielraum hinweist, dann mag das auch ein Zeichen dafür sein, dass er selbst in seiner Beurteilung vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen könnte - aber eben den nationalen Spielraum akzeptiert. Hier verweist der EGMR - nach eher allgemeinen Ausführungen zum "margin" in Abs 63 - zunächst auf den Spielraum, den die Mitgliedstaaten dabei haben, inwieweit sie Unternehmen Rechte einräumen, gegen Vorwürfe vorzugehen, die ihren Ruf schädigen könnten:
the State enjoys a margin of appreciation as to the means it provides under domestic law by which a company can challenge the truth and limit the damage of allegations which risk harming its reputation
Dieser Beurteilungsspielraum ist noch größer, wenn es um Angelegenheiten des unlauteren Wettbewerbs geht:
Furthermore, the Court emphasises that a wider margin of appreciation entrusted to the States is essential in the complex and fluctuating area of unfair competition
Er wird aber wieder kleiner, wenn es nicht nur um eine wirtschaftliche Auseinandersetzung geht, sondern um eine Debatte von allgemeinem Interesse:
it is necessary to reduce the extent of the margin of appreciation when what is at stake is not an individual’s purely "commercial" statement, but his participation in a debate of general interest,
Und dann besteht noch ein Beurteilungsspielraum, ob eine Aussage als Tatsache oder Werturteil qualifiziert wird:
The classification of a statement as one of fact or as a value judgment is a matter which, in the first place, falls within the margin of appreciation of the national authorities – in particular, the courts
Österreich hat den Beurteilungsspielraum genützt: auch der Ruf von Unternehmen ist gesetzlich geschützt, besonders umfangreich im Bereich des UWG (wo eben der Spielraum der Konventionsstaaten noch größer ist). Und die Gerichte haben dem EGMR keinen Ansatzpunkt geboten, korrigierend einzugreifen, weil sie - was im Urteil deutlich zum Ausdruck kommt - die notwendigen Abwägungen nachvollziehbar vorgenommen haben; insbesondere haben sich die Gerichte das Art 10 EMRK-Problem gestellt und ausargumentiert, weshalb sie trotz Debatte von öffentlichem Interesse - was den Beurteilungsspielraum wieder einschränkt - zum Ergebnis gekommen sind, dass die Behauptungen zu unterlassen sind. Ich hätte "Heuschrecke" ja eher als Werturteil gesehen, aber hier hilft nicht nur der Beurteilungsspielraum, sondern auch die Rechtsprechung, die für Werturteile eine Tatsachengrundlage verlangt, die - von den Gerichten festgestellt - nicht gegeben war.

- ein Grenzfall, der die Bedeutung des "margin of appreciation" anschaulich macht
Zusammenfassend: es war sicher ein Grenzfall, in dem sich aber zeigt, dass der EGMR nicht immer, wie ihm oft vorgeworfen wird, als "weiteres Instanzgericht" tätig wird, sondern den Mitgliedstaaten echte Beurteilungsspielräume einräumt.

Es ist wohl zulässig, in einem kleinen Gedankenexperiment zu überlegen, wie die Sache ausgegangen wäre, wären die österreichischen Gerichte zu einem anderen Ergebnis gekommen (dass sich eine Kapitalgesellschaft, die in den Gesundheitsmarkt einsteigen will, eine Bezeichnung als Heuschrecke gefallen lassen müsse), und hätte sich das Unternehmen dann unter Berufung auf Art 8 EMRK an den EGMR gewandt. In diesem Fall müsste die Beurteilung ja grundsätzlich zum selben Ergebnis kommen, wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung betont, auch im heutigen Urteil in Abs 62:
The Court has reiterated many times, that in cases which require the right to respect for private life to be balanced against the right to freedom of expression, the outcome of the application should not, in theory, vary according to whether it has been lodged with the Court under Article 8 of the Convention by the person who was the subject of the statement, or under Article 10 by the person who made the statement.
Dennoch ist gut vorstellbar, dass hier auch das gegenteilige Ergebnis vor dem EGMR hätte bestehen können: "Heuschrecke" wäre auch als Werturteil zu argumentieren gewesen, mit einem Faktenkern, der bloß auf Kapitalgesellschaften abstellt, an denen (wie hier) institutionelle Anleger beteiligt sind, die in neue Geschäftsfelder drängen. Hätten die nationalen Gericht dies ausargumentiert und zusätzlich noch die Bedeutung der Debatte über das Gesundheitssystem unterstrichen und dies wiederum unter Heranziehung der EGMR-Rechtsprechung abgewogen, so wäre durchaus denkbar, dass der EGMR dies als im Beurteilungsspielraum gelegen akzeptiert hätte, ohne eine Verletzung des Art 8 EMRK festzustellen.

Update 23.02.2016: siehe zu diesem Urteil auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.