Wednesday, January 30, 2013

Noch ein Vorabentscheidungsersuchen zur Gültigkeit der VorratsdatenRL

Nach dem irischen High Court (siehe im Blog hier und hier) und dem Verfassungsgerichtshof (im Blog dazu hier) hat nun auch die Datenschutzkommission (DSK) den EuGH mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Gültigkeit (und zur Auslegung) der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten befasst. Über dieses Vorabentscheidungsersuchen, das bislang weder auf der Website der DSK noch im RIS veröffentlicht wurde, berichtet einerseits heute die futurezone, andererseits habe ich davon auch durch einen leider anonymen, aber offenbar über Insiderkenntnisse verfügenden Kommentator erfahren (siehe hier), der auch schon auf eine - in der Liste auf der Website des EuGH heute noch nicht enthaltene - Verfahrenszahl (C-46/13) verweist (Update 31.01.2013: die Rechtssache ist nun, wenn auch noch ohne weitere Informationen, auf der Website des EuGH vermerkt: C-46/13 H [die DSK hat, wie von ihr nicht anders zu erwarten, auf die Anonymisierung des Beschwerdeführers Wert gelegt]).

Aus juristischer Sicht spannend ist - natürlich neben den konkreten Vorlagefragen, die mir noch nicht bekannt sind [update 31.01.2013: siehe nun die Ergänzung unten, der Vorlagebeschluss der DSK ist nun - worauf der Kommentar unten hingewiesen hat - hier zu finden] - auch die Frage, ob die Datenschutzkommission ein vorlageberechtigtes Gericht ist, dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass der EuGH mit Urteil vom 16.10.2012, C-614/10, Kommission/Österreich, ausgesprochen hat, dass die DSK dem Kriterium der Unabhängigkeit, wie es in Art 28 Abs 1 Unterabs 2 der Datenschutz-RL 95/46/EG für die mitgliedstaatlichen Datenschutz-Kontrollstellen festgelegt ist, nicht entspricht (siehe zu diesem Urteil im Blog hier). Wie der anonyme Kommentator zutreffend anmerkt, stellt sich damit wohl auch die Frage, ob die "völlige Unabhängigkeit" im Sinne der DatenschutzRL auch Maßstab für die unionsrechtliche Qualität eines nach Art 267 AEUV vorlageberechtigten Gerichts ist (wobei der EuGH freilich in RNr 40 des DSK-Urteils festhielt, dass der Ausdruck "in völliger Unabhängigkeit" in Art 28 der RL 95/46/EG "autonom, und damit unabhängig von Art 267 AEUV," auszulegen ist).

Das Problem der fehlenden Unabhängigkeit der DSK im Sinne der DatenschutzRL soll übrigens durch eine Novelle zum Datenschutzgesetz behoben werden, für die eine Regierungsvorlage dem Parlament bereits vorgelegt (aber noch nicht beschlossen) wurde. Eine Verfassungsbestimmung ist darin nicht vorgesehen, das Unterichtungsrecht des Bundeskanzlers soll nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage vielmehr "in unionsrechtskonformer Auslegung des Art. 20 Abs. 2 B-VG nach § 38 Abs. 2 DSG 2000 nunmehr dahingehend eingeschränkt werden, dass die/der Vorsitzende der Datenschutzkommission dem Unterrichtungsrecht nur insoweit zu entsprechen hat, als dies nicht der völligen Unabhängigkeit der Kontrollstelle im Sinne von Art. 28 Abs. 1 UAbs. 2 der Datenschutz-Richtlinie widerspricht."

Diese Novelle wird freilich nur eine Zwischenlösung sein, da die DSK ja mit Ablauf des 31.12.2013 aufgelöst wird; ihre Nachfolgerin als Kontrollstelle iSd DatenschutzRL soll nach dem derzeit in Begutachtung befindlichen Entwurf für eine DSG-Novelle ab dem 1.1.2014 die "Datenschutzbehörde" werden.

Zur Übersicht: die Verfahren betreffend die Gültigkeit (und Auslegung) der VorratsdatenRL vor dem EuGH sind derzeit
Update 31.01.2013 - Wortlaut der Vorlagefragen: Anders als ich zunächst aufgrund der Medienberichte angenommen habe, fragt die DSK nicht nur nach der Gültigkeit der VorratsdatenRL, sondern stellt auch eine sehr konkrete Frage zu ihrer Auslegung (sowie eine weitere Frage zur Auslegung der DatenschutzRL 95/46/EG). Es geht dabei im Kern (und etwas vereinfacht) darum, ob die Regelung in der VorratsdatenRL, wonach über Vorratsdaten nur "besonders ermächtigten Personen" Auskunft zu geben ist, dem in der allgemeinen DatenschutzRL vorgesehenen Recht auf Auskunft vorgeht. Konkret lauten die Vorlagefragen wie folgt:
  1. Ist Artikel 7 lit c) der Richtlinie 2006/24/EG dahin auszulegen, dass eine von der Vorratsspeicherung im Sinne der Richtlinie betroffene natürliche Person nicht zum Kreis der "besonders ermächtigten Personen" im Sinne dieser Bestimmung zählt und ihr kein Recht auf Auskunft über ihre eigenen Daten gegenüber dem Anbieter eines öffentlich zugänglichen Kommunikationsdienstes oder dem Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes eingeräumt werden darf?
  2. Ist Artikel 13 Abs 1 lit c) und d) der Richtlinie 95/46/EG dahin auszulegen, dass das Recht einer von der Vorratsspeicherung von Daten im Sinne der Richtlinie 2006/24/EG betroffenen natürlichen Person auf Auskunft über ihre eigenen Daten nach Artikel 12 lit a dieser Richtlinie gegenüber dem Anbieter eines öffentlich zugänglichen Kommunikationsdienstes oder dem Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes ausgeschlossen oder beschränkt werden kann?
  3. Im Fall der zumindest teilweisen Bejahung von Frage 1: Ist Artikel 7 lit c) der Richtlinie 2006/24/EG mit dem Grundrecht gemäß Artikel 8 Abs 2 zweiter Satz der GRC vereinbar und damit gültig?
PS: der VfGH hat seinen Vorlagebeschluss mittlerweile auch in englischer Sprache veröffentlicht (update: die Übersetzung der Vorlagefragen durch den EuGH ist deutlich besser); daraus habe ich gelernt, dass der Präsident des VfGH seine Funktion als "president, chief justice" übersetzen lässt. Zuerst dachte ich ja an einen einmaligen Fehlgriff in der Übersetzung, aber tatsächlich wird der Präsident des VfGH auch sonst auf der Website als "Chief Justice" bezeichnet - das ist also offenbar ganz ernst gemeint (anders als Chief Justices in klassischen common law-Ländern ist aber der VfGH-Präsident nicht oberster Richter des Landes und gehört auch nicht zur "judiciary" im engeren Sinne; die Bezeichnung "President [of the Constitutional Court]" wäre daher meines Erachtens ausreichend und zutreffender).

Tuesday, January 22, 2013

EuGH: Kurzberichterstattungsrecht dient der Informationsfreiheit; Eingriff in unternehmerische Freiheit verhältnismäßig

Der EuGH hat heute in der Rechtssache C-283/11 Sky Österreich über ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundeskommunikationssenates (siehe dazu im Blog hier) zur Vereinbarkeit von Art 15 Abs 6 der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL) mit Art 17 (Eigentumsrecht) und Art 16 (unternehmerische Freiheit) der EU-Grundrechtecharta (GRC) entschieden. Im Ergebnis - aber nicht zur Gänze in der Begründung - folgte der EuGH dabei den Schlussanträgen von Generalanwalt Bot (siehe dazu im Blog hier).

Im Kern ging es um die Frage, ob der EU-Gesetzgeber ohne unzulässigen Eingriff in das durch die GRC geschützte Eigentumsrecht einem Inhaber von TV-Exklusivrechten an Ereignissen von großem öffentlichen Interesse die Verpflichtung auferlegen darf, anderen Rundfunkveranstaltern zum Zwecke der Kurzberichterstattung Zugang zum Sendesignal zu gewähren, ohne dafür mehr ersetzt zu bekommen, als die "unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs verbundenen zusätzlichen Kosten", wie dies Art 15 Abs 6 der AVMD-RL vorsieht. Nach dieser Regelung kann der Exklusivrechteinhaber dem "Kurzberichterstatter" also insbesondere die Kosten für den Rechteerwerb auch nicht anteilig verrechnen, sodass etwas vereinfacht auch von einem "kostenlosen" Kurzberichterstattungsrecht die Rede ist (denn die zu ersetzenden technischen Zugangskosten fallen im Vergleich zu den Kosten der Senderechte nicht ins Gewicht).

Vor Inkrafttreten der AVMD-RL geltende ähnliche Regelungen auf nationaler Ebene hatten sowohl den österreichischen Verfassungsgerichtshof (Erkenntnis vom 1.12.2006, B 551/06 ua) als auch das deutsche Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 17.02.1998, 1 BvF 1/91) beschäftigt, die jeweils grundrechtliche Bedenken hatten: der VfGH sah eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes im Fall der Einräumung eines Rechtes zur unentgeltlichen Kurzberichterstattung, das BVerfG sah einen Eingriff in die Berufsfreiheit.

Der EuGH sah einen Eingriff in das Eigentumsrecht nach Art 17 GRC schon deshalb als nicht gegeben an, wiel Sky Österreich die fraglichen Rechte im Augst 2009 erworben hatte und das Unionsrecht damals bereits eine dem Art 15 Abs 6 AVMD-RL entsprechende Regelung kannte (diese war zwar noch nicht in Kraft, allerdings bis 19. Dezember 2009 umzusetzen). Sky kann sich daher nicht auf eine gesicherte Rechtsposition berufen, die eine selbständige Ausübung ihres Exklusivübertragungsrechts ermöglicht (Generalanwalt Bot hatte einen Eingriff in das Eigentumsrecht angenommen, ihn aber - ebenso wie den Eingriff in die unternehmerische Freiheit - als zulässig angesehen). Allerdings stellte der EuGH ausdrücklich klar, dass es sich bei Exklusivrechten um vermögenswerte Rechte handelt, die grundsätzlich durch Art 17 GRC geschützt wären (Rn 35):
Die exklusiven Fernsehübertragungsrechte werden Fernsehveranstaltern zwar gegen Entgelt durch eine vertragliche Bestimmung eingeräumt und ermöglichen es diesen Veranstaltern, bestimmte Ereignisse exklusiv zu übertragen, so dass jedwede Übertragung dieser Ereignisse durch andere Fernsehveranstalter ausgeschlossen ist. Deshalb sind diese Rechte nicht als bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten, sondern als vermögenswerte Rechte anzusehen.
Dagegen liegt auch nach dem EuGH ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit im Sinne des Art 16 GRC vor. Art 16 GRC sieht vor, dass „[d]ie unternehmerische Freiheit … nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt wird (Hervorhebung hinzugefügt). Dieser Wortlaut ist für die Reichweite des Grundrechts und, wie der EuGH hier in Rn 57 festhält, vor allem für die Verhältnismäßigkeitsprüfung von Bedeutung:
45. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt die unternehmerische Freiheit jedoch nicht schrankenlos, sondern ist im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. September 2004, Spanien und Finnland/Parlament und Rat, C‑184/02 und C‑223/02, Slg. 2004, I‑7789, Randnrn. 51 und 52, sowie vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung und angesichts des Wortlauts von Art. 16 der Charta, der sich von dem der anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten, die in ihrem Titel II verankert sind, unterscheidet und dabei dem Wortlaut einiger Bestimmungen ihres Titels IV ähnelt, kann die unternehmerische Freiheit einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können.
47 Dieser Umstand spiegelt sich vor allem darin wider, auf welche Weise nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu handhaben ist.
Der EuGH kommt zum Ergebnis, dass Art 15 Abs 6 AVMD-RL den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit nicht antastet (Rn 50). Dann bringt er zur Abwägung das "Grundrecht auf Information" (eigentlich: Grundrecht auf "Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit") nach Art 11 GRC ins Spiel:
51 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die exklusive Vermarktung von Ereignissen von großem öffentlichen Interesse derzeit zunimmt und geeignet ist, den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen über diese Ereignisse erheblich einzuschränken. Unter diesem Gesichtspunkt zielt Art. 15 der Richtlinie 2010/13, wie ihren Erwägungsgründen 48 und 55 zu entnehmen ist, darauf, das durch Art. 11 Abs. 1 der Charta garantierte Grundrecht auf Information zu wahren und den durch Art. 11 Abs. 2 der Charta geschützten Pluralismus durch die Vielfalt der Nachrichten und Programme zu fördern.
52 Die Wahrung der durch Art. 11 der Charta geschützten Freiheiten stellt unbestreitbar ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, United Pan-Europe Communications Belgium u. a., C‑250/06, Slg. 2007, I‑11135, Randnr. 42), dessen Bedeutung in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht genug betont werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Kabel Deutschland Vertrieb und Service, C‑336/07, Slg. 2008, I‑10889, Randnr. 33, sowie vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 31). Diese Bedeutung zeigt sich ganz besonders bei Ereignissen von großem öffentlichen Interesse. Daher ist festzustellen, dass Art. 15 der Richtlinie 2010/13 tatsächlich ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt.
Schließlich handelt der EuGH noch ab, dass das (de facto kostenlose) Kurzberichterstattungsrecht auch zur Zielerreichung geeignet (Rn 53) und erforderlich (Rn 54-57) ist. Zur Abwägung führt der EuGH aus, dass der Unionsgesetzgeber "die unternehmerische Freiheit auf der einen und das Grundrecht der Unionsbürger auf Information sowie die Freiheit und den Pluralismus der Medien auf der anderen Seite gegeneinander abzuwägen hatte" (Rn 59); die konkrete Abwägung erfolgt dann in den Rn 60-65, mit folgendem Ergebnis:
66 Unter Berücksichtigung einerseits der Bedeutung, die der Wahrung des Grundrechts auf Information sowie der Freiheit und dem Pluralismus der Medien, wie sie durch Art. 11 der Charta garantiert werden, zukommt, und andererseits des Schutzes der unternehmerischen Freiheit, wie ihn Art. 16 der Charta gewährt, stand es dem Unionsgesetzgeber frei, Bestimmungen wie die in Art. 15 der Richtlinie 2010/13 zu erlassen, die Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit vorsehen und zugleich im Hinblick auf die erforderliche Gewichtung der betroffenen Rechte und Interessen den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen gegenüber der Vertragsfreiheit privilegieren.
67 Der Unionsgesetzgeber konnte daher berechtigterweise den Inhabern exklusiver Fernsehübertragungsrechte die in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13 vorgesehenen Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit auferlegen und annehmen, dass die Nachteile, die sich aus dieser Bestimmung ergeben, im Hinblick auf die mit ihr verfolgten Ziele nicht unverhältnismäßig sind und geeignet sind, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen grundrechtlich geschützten Rechten und Freiheiten herzustellen, die im vorliegenden Fall betroffen sind.
68 Nach alledem hat die Prüfung der Vorlagefrage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2010/13 beeinträchtigen könnte.
Siehe zum Urteil auch die Pressemitteilung des EuGH.

Update: im fortgesetzten Verfahren hat der Bundeskommunikationssenat mit Bescheid vom 25.02.2013, 611.003/0002-BKS/2013, entschieden und dabei (im Wesentlichen) die Berufungen von Sky Österreich und ORF gegen den erstinstanzlichen Bescheid der KommAustria als unbegründet abgewiesen.

Monday, January 21, 2013

Die Roaming-Realität nach Rübig (vom Standard präsentiert)

Vergangenen Samstag brachte der Standard zum Schwerpunkt "Direkte Demokratie" auch einen Beitrag von Thomas Mayer mit der Überschrift: "Wie eine EU-Bürgerin die Roaminggebühren kappte". Darin geht es einerseits um "EU-Bürgerbegehren" (gemeint sind Europäische Bürgerinitiativen), andererseits aber um Möglichkeiten, als einzelner Bürger die Gesetze der Union zu verändern. Weit mehr als die Hälfte des ganzen Beitrags dient dabei der Erzählung eines Märchens über die Entstehung der Roaming-Verordnung aus der Sicht von Paul Rübig, der im Jahr 2007 Berichterstatter im Europäischen Parlament zur (ersten) Roaming-VO war (hier sein Bericht).

Es ist ein schönes Märchen: eine Linzer Studentin - leider, leider weiß MEP Rübig ihren Namen nicht mehr - fuhr "vor knapp zehn Jahren" (das wäre also 2003 oder vielleicht im ersten Halbjahr 2004 gewesen) nach Brüssel, um einen Vortrag von Rübig zu hören. Am selben Abend telefoniert sie zwei Stunden lang mit ihrem Freund in München - es folgt eine Rechnung über einige hundert Euro. Sie schreibt dem Abgeordneten, der mit der ihm gut bekannten "damals für Telekom zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding" essen geht und ihr das Mail der anonymen Studentin zeigt. Reding findet das unglaublich, ihre Dienste erarbeiten einen Gesetzesvorschlag und nur sieben Monate später (wahrscheinlich gemeint: nach Vorlage des Gesetzesvorschlags) wurde die Verordnung beschlossen. Die böse Telekom-Lobby "klagte beim EU-Gerichtshof, weil 'Netze' angeblich unter nationale Kompetenz fielen"(?), verlor aber, und seither leben alle glücklich und zufrieden und zahlen "in der gesamten Union maximal 34,8 Cent für Aktivgespräche".

Das Problem daran: die Geschichte ist nicht als Märchen deklariert. Mag sein, dass Paul Rübig, der als Berichterstatter für die Roaming-VO unbestreitbare Verdienste hat, die Entstehung der Roaming-VO rückblickend tatsächlich so verklärt. Weshalb aber der Standard diese schon auf den ersten Blick unplausible Erzählung zu seiner eigenen macht und sie präsentiert, als handle es sich um Fakten, bleibt mir rätselhaft. Denn die Kernbotschaft des Artikels ist ebenso klar wie falsch: die anonyme junge Linzerin hätte die Roaminggebühren gekappt bzw die "Initialzündung dafür [geliefert], dass die Kommission mit dem EU-Parlament [zu ergänzen: und dem Rat] das Abzocken der Telekom-Firmen beim Geschäft mit Mobiltelefonkunden aufräumen konnte." 

Es brauchte freilich keine anonyme Linzerin, um die Kommission auf das Problem aufmerksam zu machen (was nicht heißt, dass zahlreiche Beschwerden - übrigens besonders intensiv von MEPs aus eigener Betroffenheit vorgebracht - nicht dazu beigetragen hätten, der Initiative der Kommission etwas nachzuhelfen). Dass ein Mail einer anonymen Linzerin in der Entstehungsgeschichte der Roaming-Verordnung - die ich einigermaßen aufmerksam mitverfolgt habe (ich erspare es mir jetzt, auf die sicher mehr als zwanzig einschlägigen Beiträge in diesem Blog zu verlinken) - irgendeine Rolle gespielt hätte, war bislang jedenfalls weder zu lesen noch zu hören (ich habe das bisher auch von MEP Rübig selbst weder gelesen noch gehört). Das Problem war der Kommission jedenfalls schon länger - vor dem angeblichen Mail der anonymen Linzerin - bekannt; ich zitiere dazu einmal aus der Einleitung zum Verordnungsvorschlag der Kommission:
Hohe Roamingentgelte bei der Mobilfunknutzung im europäischen Ausland wurden zum ersten Mal Mitte 1999 als Problem erkannt, als die Kommission eine Branchenuntersuchung in Bezug auf nationale und internationale Roamingdienste durchführte. Daraufhin leitete die Kommission gegen einige Mobilfunkbetreiber im Vereinigten Königreich und in Deutschland Verfahren wegen Verstoßes gegen Artikel 82 EG-Vertrag ein.Schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Rechtsrahmens für die elektronische Kommunikation im Jahr 2002 wurde das Auslandsroaming als eigenes Problemfeld für die Vorabregulierung erkannt [...]"
Auch nach dem angeblichen Mail der anonymen Linzerin gingen die zuständigen Kommissionsdienststellen nicht gleich daran, Gesetzesvorschläge zu erarbeiten: zuvor gab es noch ein Informationsportal der Kommission mit Tarifvergleichen, Berichte der European Regulators Group, eine Entschließung des Parlaments und Schlussfolgerungen des Rates in Sachen Roaming. Der Vorschlag der Kommission für die Roaming-VO wurde schließlich am 12. Juli 2006 veröffentlicht (erste geleakte Entwürfe zirkulierten etwa ab März 2006).

Vielleicht wollte sich der Standard die fantastische Geschichte von der einfachen, aber leider anonymen Linzer Studentin, die praktisch im Alleingang und eigenhändig für das Ende überhöhter Roamingentgelte verantwortlich ist, einfach nicht durch zuviel Recherche kaputtmachen lassen.

PS: ich weiß, ich könnte und sollte mich hier mit wichtigeren Dingen beschäftigen als mit fehlerhaften Artikeln in irgendwelchen Medien. Aber da ich schon so oft über die Roaming-VO geschrieben habe, wollte ich das hier doch "on the record" haben, falls Rübig und Standard an der Legendenbildung weiter arbeiten sollten. Um nicht allzu beckmesserisch zu wirken, habe ich Hinweise auf weitere Detailfehler und Unschärfen im Artikel unterlassen.

Update 22.01.2012: aufgrund der Diskussion auf Twitter und teilweise hier in den Kommentaren möchte ich zur Vermeidung von Missverständnissen anmerken, dass ich die Verdienste von Rübig und Reding um die Roaming-VO nicht schmälern möchte. Beide hätten es meiner Ansicht daher gar nicht notwendig, die wahre Geschichte noch durch ein wenig kreatives "Storytelling" aufzumotzen (zu Reding siehe zB hier und hier), aber auch das ist hier nicht der Punkt (im Übrigen glaube ich Rübig durchaus, dass er ein Mail einer Linzer Studentin bekommen und Reding gezeigt hat, und ich würde ihm sogar abnehmen, wenn er subjektiv der Auffassung ist, dass das etwas verändert hat am Lauf der Geschichte). Mir ging es nur darum, dass im Standard-Artikel die ganze Roaming-VO auf das Mail dieser anonymen Studentin zurückgeführt wird, und diese Story als Faktum präsentiert wird, als Beleg dafür, wie eine einzelne Bürgerin eine wichtige Rechtsvorschrift initiieren kann. Das mag es in anderen Fällen vielleicht geben - bei der Roaming-VO aber war es nicht so.

Sunday, January 13, 2013

Kommentar und Objektivität: wie "profil" das ORF-Gesetz falsch versteht

Rosemarie Schwaiger schreibt im aktuellen profil (Nr 3/2013, online nicht frei zugänglich; update 17.01.2013: nun auch - textlich unverändert - online) unter dem Titel "Die Deutungshoheit" über den Politologen Peter Filzmaier, der häufig im ORF als politischer Kommentator zu hören und zu sehen ist. Unter anderem heißt es in diesem Artikel:
"Filzmaiers enorme Frequenz erklärt sich auch mit den Besonderheiten des ORF-Gesetzes. Redakteure des staatlichen Rundfunks sind der Objektivität verpflichtet und dürfen nicht kommentieren." 
Richtig daran ist, dass Redakteure (und Redakteurinnen!) des ORF (der übrigens kein "staatlicher Rundfunk" ist) der Objektivität verpflichtet sind.

Nicht richtig ist, dass Redakteure (und Redakteurinnen!) des ORF nicht kommentieren dürften.

Und auch der Schluss, den man aus diesem Artikel ziehen muss, dass nämlich für Filzmaiers Kommentare die Verpflichtung zur Objektivität nicht gelten würde, stimmt nicht. Denn Filzmaier ist nicht einfacher Interviewgast des ORF, sondern hat - wie Schwaiger auch selbst schreibt - für seine Kommentare einen Vertrag mit dem ORF abgeschlossen. Und damit ist er ein "eigener Kommentator" des ORF, der nach § 4 Abs 5 Z 3 ORF-Gesetz den Grundsatz der Objektivität zu wahren hat. "Für Filzmaier gelten damit die strengen Regeln des ORF-Gesetzes", betont auch der ORF auf seiner Website.

Die profil-Redakteurin hat das ORF-Gesetz also falsch verstanden (oder, viel wahrscheinlicher, gar nicht nachgeschaut), und fact-checker scheint es im profil ohnehin nicht zu geben. Die "Besonderheiten des ORF-Gesetzes" erklären jedenfalls die Bildschirmpräsenz Filzmaiers nicht.

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PS: Objektivität (Sachlichkeit) heißt nicht, dass auf pointierte Formulierungen verzichtet werden muss. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zwar polemische oder unangemessene Formulierungen ("also solche, die eine sachliche Auseinandersetzung vermissen lassen und in denen es erkennbar darum geht, jemanden bloß zu stellen") mit dem Objektivitätsgebot niemals vereinbar (VwGH 23.06.2010, 2010/03/0009), abgesehen davon aber dürfen im Sinne der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht die einzelnen Formulierungen isoliert beurteilt werden. Vielmehr muss stets der Gesamtzusammenhang in Betracht gezogen werden, der das Thema eines Kommentars bestimmt und damit auch der vom Betroffenen gebotene Anlass. Einzelne Formulierungen können daher aus dem Gesamtzusammenhang gerechtfertigt werden (so zB im Erkenntnis vom 10.11.2004, 2002/04/0053 zum Kommentar eines ORF-Redakteurs, in dem einem mittlerweile verstorbenen Kärntner Landeshauptmann die "Filetierung der Verfassung" vorgeworfen worden war).

Dass der Grundsatz der Objektivität nach § 4 Abs 5 Z 3 ORF-Gesetz nicht nur bei Kommentaren, Sachanalysen und Moderationen durch "ORF-Redakteure" (und Redakteurinnen) zu wahren ist, hat der Verwaltungsgerichtshof übrigens im Erkenntnis vom 15.09.2006, 2004/04/0074 zu einer vom ORF produzierten - aber von einer nicht beim ORF beschäftigten Schauspielerin moderierten - Gala ausgesprochen.