Das Ergebnis vorweg: Weder Publikumsrat noch Stiftungsrat hätten auch nur die geringste Chance, den "Staatsferne"-Test zu bestehen.
Ist "Unabhängigkeit" weniger als "Staatsferne"?
Die Rechtslage in Österreich ist mit jener in Deutschland nur beschränkt vergleichbar - ein Staatsferne"-Gebot, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht aus einem kurzen Satz in Art 5 Grundgesetz ("die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet") abgeleitet hat, wurde in der österreichischen Verfassungsrechtsprechung noch nicht entwickelt, auch wenn die Rundfunkfreiheit, in Deutschland in Art 5 GG garantiert, im österreichischen Recht ebenso im Verfassungsrang steht, nämlich aufgrund des - innerstaatlich als Verfassungsgesetz geltenden - Art 10 EMRK (vgl VfSlg 10.948/1986).*)
Wohl aber gibt es in Österreich ein Unabhängigkeitsgebot, das in Art I des Bundesverfassungsgesetzes über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks zum Ausdruck kommt. Damit bietet das österreichische Recht - allein vom Verfassungstext her - eigentlich einen konkreteren Anhaltspunkt für Organisationsanforderungen an den (öffentlich-rechtlichen) Rundfunk als das deutsche Grundgesetz (aber Verfassungstext ist eben ein wenig auch wie Beton: "es kommt darauf an, was man draus macht"). Organisationsanforderungen für die Gremien des ORF hat der Verfassungsgerichtshof daraus bislang jedenfalls noch nicht abgeleitet - einen Antrag, die Bestimmungen über die Bestellung der Stiftungsratsmitglieder aufzuheben, hat der VfGH 2003 aus formalen Gründen zurückgewiesen (es ging wie so oft um die korrekte Abgrenzung des Anfechtungsumfangs; laut VfGH war der Antrag "zu eng gefasst", weil nur Z 1 bis 4, nicht aber Z 5 des § 20 ORF-G angefochten wurden).
Je 6 "staatsnahe" Stiftungs- und Publikumsratsmitglieder
Aber das deutsche Bundesverfassungsgericht hat nicht nur den Anteil von PolitikerInnen, sondern auch von weiteren "staatsnahen" Personen in den Aufsichtsgremien begrenzt. Zu diesen staatsnahen Personen zählt das BVerfG insbesondere von politischen Parteien entsandte Mitglieder.
In den ORF-Stiftungsrat werden gemäß § 20 Abs 1 Z 1 ORF-G sechs Mitglieder von der Bundesregierung unter Bedachtnahme auf die Vorschläge der politischen Parteien entsandt und wären im Sinne des BVerfG-Urteils damit wohl als "von politischen Parteien entsandte Mitglieder" anzusehen (die Bundesregierung hat nach dem Gesetz keine Auswahlfreiheit, sie ist an die Vorschläge der Parteien gebunden). Damit ergibt sich für den Stiftungsrat ein direkter "Staatsanteil" von gerade einmal einem Fünftel der Mitglieder (6 von 30, ohne die Belegschaftsvertreter gerechnet), also deutlich unter dem vom BVerfG akzeptierten Drittel.
Ähnliches gilt für den Publikumsrat, in dem die sechs von den politischen Akademien entsandten Mitglieder (§ 28 Abs 3 Z 5 ORF-G) wohl als staatsnah im Sinne des BVerfG-Urteils anzusehen wären. Der direkte "Staatsanteil" im Publikumsrat ist damit ähnlich niedrig wie im Stiftungsrat (6 von 31).
Keine staatsferne Bestellung der Mehrheit der weiteren Mitglieder
Das BVerfG hat sich nicht darauf beschränkt, lediglich den Anteil der "staatsnahen" Personen zu begrenzen, sondern hat auch Vorgaben für eine "staatsferne" Bestellung der weiteren Gremienmitglieder gemacht. Legt man diese Maßstäbe auf die ORF-Gremien an, dann könnten sie den "Staatsferne"-Test nicht einmal annähernd bestehen. In Abs 66-67 des Urteils schreibt das BVerfG (Hervorhebung hinzugefügt):
"Regierungsmitglieder und sonstige Vertreterinnen und Vertreter der Exekutive dürfen auf die Auswahl und Bestellung der staatsfernen Mitglieder keinen bestimmenden Einfluss haben. [...]
Eine ihnen [den Regierungen] frei anheimgestellte oder nur durch allgemein auf Lebensbereiche abstellende Regelungen angeleitete Auswahl der Personen, die als staatsferne Mitglieder in den Gremien mitwirken, ist deshalb mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar [...]. Ebenso sind substantielle Auswahlfreiräume von Regierungsmitgliedern oder sonstigen Vertreterinnen und Vertretern der Exekutive bei der Bestellung von Mitgliedern nach Vorschlägen gesellschaftlicher Gruppierungen ausgeschlossen [...].
- Stiftungsrat
Derzeit werden nach § 20 Abs 1 Z 2 und 3 ORF-G je 9 Mitglieder des ORF-Stiftungsrates von den Ländern (ein Mitglied pro Land) und von der Bundesregierung bestellt. Welche Personen dabei bestellt werden, ist den Ländern bzw der Bundesregierung "frei anheimgestellt" und wäre damit nach dem Urteil des BVerfG mit der in Deutschland geforderten Staatsferne nicht vereinbar. Damit aber wären schon 24 von 30 der nicht von Belegschaftsvertretern gestellten Stiftungsratsmitglieder "staatsnah" oder "nicht staatsfern bestellt". Da auch der Publikumsrat nicht hinreichend staatsfern bestellt ist (siehe die folgenden Absätze), schlägt dies auch auf die von ihm gemäß § 20 Abs 1 Z 4 zu bestellenden 6 Mitglieder des Stiftungsrates durch (vgl Abs 103 des BVerfG-Urteils).
Alle 30 nicht vom Zentralbetriebsrat zu bestellenden Stiftungsratsmitglieder wären daher - legte man die Maßstäbe des deutschen Bundesverfassungsgerichts an - entweder "staatsnah" oder "nicht hinreichend staatsfern bestellt".
- Publikumsrat
17 Publikumsratsmitglieder werden nach § 28 Abs 11 (ab 15.04.2014: Abs 6) ORF-G vom Bundeskanzler auf Grund von Vorschlägen bestellt, die er zuvor von Einrichtungen bzw Organisationen, die für bestimmte "Bereiche bzw. Gruppen repräsentativ sind," einzuholen hat. Der Bundeskanzler ist dabei nur insoweit an die Vorschläge gebunden, als er Personen, die nicht vorgeschlagen wurden, auch nicht bestellen darf. Er kann aber auswählen, welche Vorschläge von welchen Organisationen ihm besonders zusagen. Damit kommen ihm also - im Sinne des BVerfG-Urteils - "substantielle Auswahlfreiräume" bei der Bestellung von Mitgliedern nach Vorschlägen gesellschaftlicher Gruppierungen zu, eine "staatsferne" Bestellung ist damit nicht gewährleistet (dass er von seiner Auswahlfreiheit auch einen Gebrauch macht, der die vorschlagenden Gruppen nicht uneingeschränkt freut, kann man manchen Presseaussendungen dieser Tage entnehmen).
Die weiteren Mitglieder des Publikumsrates bestellen die Wirtschaftskammer Österreich, die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern Österreichs, die Bundesarbeitskammer und der Österreichische Gewerkschaftsbund (je ein Mitglied), die Kammern der freien Berufe (gemeinsam ein Mitglied), die römisch-katholische und die evangelische Kirche (je ein Mitglied) sowie die Akademie der Wissenschaften (ein Mitglied). Bei diesen Bestellungen kommt dem Bundeskanzler oder anderen Vertretern der Exekutive keine Auswahlmöglichkeit zu.
Vertreter der Industrie- oder Handelskammer (in Deutschland so genannte "funktionale Selbstverwaltung") hat das Bundesverfassungsgericht nicht als "staatsnah" angesehen (Abs 60 des Urteils), dies allerdings mit der wesentlichen Begründung, diese stünden "typischerweise nicht in staatlich-politischen Entscheidungszusammenhängen, die vom Wettbewerb um Amt und Mandat geprägt sind". Auch wenn man das in der doch auch deutlich parteipolitisch geprägten Welt der österreichischen Sozialpartner vielleicht anders sehen könnte, so würde ich - mich auf der vorsichtigen Seite bewegend - für eine erste Bewertung die Vertreter der Kammern und des ÖGB abstrakt als hinreichend staatsfern ansehen (und konkret, auf die jeweils entsandten Personen abstellend, gilt ohnehin das allgemeine "Politikerverbot" nach § 28 Abs 2 ORF-G). Auch die Vertreter der Kirchen sind - im Sinne des BVerfG-Urteils - nicht als "staatsnah" anzusehen und werden auch unmittelbar von den Kirchen - und damit hinreichend staatsfern" - bestellt. Schließlich gelten Vertreter der Hochschulen laut BVerfG als hinreichend staatsfern (Abs 60), was wohl auch für das von der Akademie der Wissenschaften bestellte Mitglied angenommen werden kann.
Zusammenfassend sind damit von den 31 Mitgliedern des Publikumsrats in seiner künftigen Zusammensetzung 6 als "staatsnah" und 17 als "nicht hinreichend staatsfern bestellt" im Sinne des BVerfG-Urteils anzusehen - eine gute Zwei-Drittel-Mehrheit.
Was noch fehlt: Diversifizierung, Geschlechtergleichstellung und Transparenz
Das deutsche Bundesverfassungsgericht verlangt in seinem Urteil auch, zur Gewährleistung der Vielfalt "einer Dominanz von Mehrheitsperspektiven sowie einer Versteinerung in der Zusammensetzung der Rundfunkgremien entgegenzuwirken" (Abs 72). Wie das im Detail ausschauen soll, hat das BVerfG dann nicht mehr ausgeführt, weil die gesetzgebenden Körperschaften die Zusammensetzung des ZDF-Fernsehrats ohnehin insgesamt neu zu regeln haben und sie dabei auch über die Frage, wie die Mitglieder hinsichtlich der Mitglieder gesichert werden soll, neu zu entscheiden haben - unter Beachtung der "verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine möglichst aktuelle und plurale Zusammensetzung auch in Blick auf Minderheiten, sowie Art. 3 Abs. 2 GG". (Abs 100).
Dieses Problem stellt sich natürlich auch in Österreich: so ist zB festgeschrieben, dass Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche je ein Mitglied des Publikumsrates bestellen - andere Religionsgemeinschaften oder Konfessionslose haben kein derartiges Recht. Religiöse, ethnische, gesellschaftliche oder politische Minderheiten können nicht einmal Vorschläge für die vom Bundeskanzler zu bestellenden Publikumsratsmitglieder machen, da in der dafür maßgebenden Bestimmung nur hinsichtlich der Volksgruppen auch Minderheiten vorkommen, sonst aber sehr große "Bereiche bzw Gruppen" genannt sind, für die lediglich "repräsentative" Einrichtungen vorschlagsberechtigt sind.
§ 30f ORF-G verlangt, dass bei der Bestellungen von Mitgliedern von Gremien "auf eine ausgewogene Vertretung beider Geschlechter Bedacht zu nehmen" ist. Aktuell ist freilich noch eine spürbare Geschlechterdisparität in den Gremien zu erkennen, weniger im Publikumsrat (ein Drittel Frauen) als im Stiftungsrat (nur ein Fünftel Frauen). Das deutsche BVerfG verlangt ausdrücklich die Beachtung des Gleichstellungsauftrags nach Art 3 Abs 2 GG (zB Abs 39 und 100 des Urteils) - ob es sich mit einer doch recht weichen Norm wie § 30f ORF-G zufrieden geben würde, ist meines Erachtens offen.
Das BVerfG hat eine Verfassungswidrigkeit der Regeln über den ZDF-Fernsehrat auch in der mangelnden Transparenz gesehen: Der Gesetzgeber müsse dafür Sorge tragen, dass in den Gremien "ein Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Rundfunkaufsicht und den Vertraulichkeitserfordernissen einer sachangemessenen Gremienarbeit" hergestellt werde. Das BVerfG verlangt nicht zwingend die Sitzungsöffentlichkeit, wohl aber "Regeln, die ein Mindestmaß an Transparenz gewährleisten. Hierzu gehört jedoch, dass die Organisationsstrukturen, die Zusammensetzung der Gremien und Ausschüsse sowie die anstehenden Tagesordnungen ohne weiteres in Erfahrung gebracht werden können und dass zumindest dem Grundsatz nach die Sitzungsprotokolle zeitnah zugänglich sind oder sonst die Öffentlichkeit über Gegenstand und Ergebnisse der Beratungen in substantieller Weise unterrichtet wird."
Das ORF-Gesetz kennt derartige Transparenzvorschriften im Hinblick auf die Gremienarbeit nicht, sondern geht grundsätzlich eher von der Vertraulichkeit aus: Nach § 19 Abs 4 ORF-G sind sämtliche Mitglieder der Stiftungsorgane, "soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, zur Verschwiegenheit über alle ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit bekannt werdenden Umstände der Stiftung und der mit ihr verbundenen Unternehmen verpflichtet." Der Publikumsrat hält seine Sitzungen in der Regel zwar öffentlich, dies ist aber lediglich in seiner Geschäftsordnung, nicht aber bereits im Gesetz vorgesehen und würde damit den Anforderungen des BVerfG nicht genügen.
Ergebnis (und Disclaimer)
Würde man die vom deutschen Bundesverfassungsgericht im ZDF-Urteil angewandten Maßstäbe tatsächlich auf die Bestimmungen im ORF-Gesetz betreffend Publikums- und Stiftungsrat anwenden, so würden die ORF-Gremien diesen "Staatsferne-Test" meines Erachtens nicht bestehen: einerseits wegen der überwiegend "nicht hinreichend staatsfernen" Bestellung der Mitglieder, andererseits aber auch wegen der fehlenden gesetzlichen Vorkehrungen für Vielfalt in den Gremien und für ausreichende Transparenz.
Das ist natürlich nur ein Gedankenexperiment, und diese Überlegungen sind keinesfalls dahin zu verstehen, dass ich die Positionen des deutschen Bundesverfassungsgerichts als für Österreich relevant ansehen würde. Auch für Deutschland müssen sich diese Positionen zudem erst bewähren (ich bin insbesondere sehr gespannt, wie die Gesetzgeber etwa die "möglichst aktuelle und plurale Zusammensetzung auch in Blick auf Minderheiten" so sicherstellen können, dass dies auch vom BVerfG akzeptiert wird). Die Überlegungen zu "staatsnahen" oder "nicht staatsfern bestellten" Gremienmitgliedern bringen natürlich auch keine Bewertung der konkreten Personen zum Ausdruck. Und zu aktuellen Bestellungen oder Vorschlägen betreffend die ORF-Gremien sage ich bewusst gar nichts.
---
*) Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sein Ergebnis im ZDF-Urteil übrigens auch am Maßstab des Art 10 EMRK gemessen, gleich nach der Zusammenfassung der zentralen Aussagen des Urteils (Abs 48-49).
Derzeit werden nach § 20 Abs 1 Z 2 und 3 ORF-G je 9 Mitglieder des ORF-Stiftungsrates von den Ländern (ein Mitglied pro Land) und von der Bundesregierung bestellt. Welche Personen dabei bestellt werden, ist den Ländern bzw der Bundesregierung "frei anheimgestellt" und wäre damit nach dem Urteil des BVerfG mit der in Deutschland geforderten Staatsferne nicht vereinbar. Damit aber wären schon 24 von 30 der nicht von Belegschaftsvertretern gestellten Stiftungsratsmitglieder "staatsnah" oder "nicht staatsfern bestellt". Da auch der Publikumsrat nicht hinreichend staatsfern bestellt ist (siehe die folgenden Absätze), schlägt dies auch auf die von ihm gemäß § 20 Abs 1 Z 4 zu bestellenden 6 Mitglieder des Stiftungsrates durch (vgl Abs 103 des BVerfG-Urteils).
Alle 30 nicht vom Zentralbetriebsrat zu bestellenden Stiftungsratsmitglieder wären daher - legte man die Maßstäbe des deutschen Bundesverfassungsgerichts an - entweder "staatsnah" oder "nicht hinreichend staatsfern bestellt".
- Publikumsrat
17 Publikumsratsmitglieder werden nach § 28 Abs 11 (ab 15.04.2014: Abs 6) ORF-G vom Bundeskanzler auf Grund von Vorschlägen bestellt, die er zuvor von Einrichtungen bzw Organisationen, die für bestimmte "Bereiche bzw. Gruppen repräsentativ sind," einzuholen hat. Der Bundeskanzler ist dabei nur insoweit an die Vorschläge gebunden, als er Personen, die nicht vorgeschlagen wurden, auch nicht bestellen darf. Er kann aber auswählen, welche Vorschläge von welchen Organisationen ihm besonders zusagen. Damit kommen ihm also - im Sinne des BVerfG-Urteils - "substantielle Auswahlfreiräume" bei der Bestellung von Mitgliedern nach Vorschlägen gesellschaftlicher Gruppierungen zu, eine "staatsferne" Bestellung ist damit nicht gewährleistet (dass er von seiner Auswahlfreiheit auch einen Gebrauch macht, der die vorschlagenden Gruppen nicht uneingeschränkt freut, kann man manchen Presseaussendungen dieser Tage entnehmen).
Die weiteren Mitglieder des Publikumsrates bestellen die Wirtschaftskammer Österreich, die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern Österreichs, die Bundesarbeitskammer und der Österreichische Gewerkschaftsbund (je ein Mitglied), die Kammern der freien Berufe (gemeinsam ein Mitglied), die römisch-katholische und die evangelische Kirche (je ein Mitglied) sowie die Akademie der Wissenschaften (ein Mitglied). Bei diesen Bestellungen kommt dem Bundeskanzler oder anderen Vertretern der Exekutive keine Auswahlmöglichkeit zu.
Vertreter der Industrie- oder Handelskammer (in Deutschland so genannte "funktionale Selbstverwaltung") hat das Bundesverfassungsgericht nicht als "staatsnah" angesehen (Abs 60 des Urteils), dies allerdings mit der wesentlichen Begründung, diese stünden "typischerweise nicht in staatlich-politischen Entscheidungszusammenhängen, die vom Wettbewerb um Amt und Mandat geprägt sind". Auch wenn man das in der doch auch deutlich parteipolitisch geprägten Welt der österreichischen Sozialpartner vielleicht anders sehen könnte, so würde ich - mich auf der vorsichtigen Seite bewegend - für eine erste Bewertung die Vertreter der Kammern und des ÖGB abstrakt als hinreichend staatsfern ansehen (und konkret, auf die jeweils entsandten Personen abstellend, gilt ohnehin das allgemeine "Politikerverbot" nach § 28 Abs 2 ORF-G). Auch die Vertreter der Kirchen sind - im Sinne des BVerfG-Urteils - nicht als "staatsnah" anzusehen und werden auch unmittelbar von den Kirchen - und damit hinreichend staatsfern" - bestellt. Schließlich gelten Vertreter der Hochschulen laut BVerfG als hinreichend staatsfern (Abs 60), was wohl auch für das von der Akademie der Wissenschaften bestellte Mitglied angenommen werden kann.
Zusammenfassend sind damit von den 31 Mitgliedern des Publikumsrats in seiner künftigen Zusammensetzung 6 als "staatsnah" und 17 als "nicht hinreichend staatsfern bestellt" im Sinne des BVerfG-Urteils anzusehen - eine gute Zwei-Drittel-Mehrheit.
Was noch fehlt: Diversifizierung, Geschlechtergleichstellung und Transparenz
Das deutsche Bundesverfassungsgericht verlangt in seinem Urteil auch, zur Gewährleistung der Vielfalt "einer Dominanz von Mehrheitsperspektiven sowie einer Versteinerung in der Zusammensetzung der Rundfunkgremien entgegenzuwirken" (Abs 72). Wie das im Detail ausschauen soll, hat das BVerfG dann nicht mehr ausgeführt, weil die gesetzgebenden Körperschaften die Zusammensetzung des ZDF-Fernsehrats ohnehin insgesamt neu zu regeln haben und sie dabei auch über die Frage, wie die Mitglieder hinsichtlich der Mitglieder gesichert werden soll, neu zu entscheiden haben - unter Beachtung der "verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine möglichst aktuelle und plurale Zusammensetzung auch in Blick auf Minderheiten, sowie Art. 3 Abs. 2 GG". (Abs 100).
Dieses Problem stellt sich natürlich auch in Österreich: so ist zB festgeschrieben, dass Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche je ein Mitglied des Publikumsrates bestellen - andere Religionsgemeinschaften oder Konfessionslose haben kein derartiges Recht. Religiöse, ethnische, gesellschaftliche oder politische Minderheiten können nicht einmal Vorschläge für die vom Bundeskanzler zu bestellenden Publikumsratsmitglieder machen, da in der dafür maßgebenden Bestimmung nur hinsichtlich der Volksgruppen auch Minderheiten vorkommen, sonst aber sehr große "Bereiche bzw Gruppen" genannt sind, für die lediglich "repräsentative" Einrichtungen vorschlagsberechtigt sind.
§ 30f ORF-G verlangt, dass bei der Bestellungen von Mitgliedern von Gremien "auf eine ausgewogene Vertretung beider Geschlechter Bedacht zu nehmen" ist. Aktuell ist freilich noch eine spürbare Geschlechterdisparität in den Gremien zu erkennen, weniger im Publikumsrat (ein Drittel Frauen) als im Stiftungsrat (nur ein Fünftel Frauen). Das deutsche BVerfG verlangt ausdrücklich die Beachtung des Gleichstellungsauftrags nach Art 3 Abs 2 GG (zB Abs 39 und 100 des Urteils) - ob es sich mit einer doch recht weichen Norm wie § 30f ORF-G zufrieden geben würde, ist meines Erachtens offen.
Das BVerfG hat eine Verfassungswidrigkeit der Regeln über den ZDF-Fernsehrat auch in der mangelnden Transparenz gesehen: Der Gesetzgeber müsse dafür Sorge tragen, dass in den Gremien "ein Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Rundfunkaufsicht und den Vertraulichkeitserfordernissen einer sachangemessenen Gremienarbeit" hergestellt werde. Das BVerfG verlangt nicht zwingend die Sitzungsöffentlichkeit, wohl aber "Regeln, die ein Mindestmaß an Transparenz gewährleisten. Hierzu gehört jedoch, dass die Organisationsstrukturen, die Zusammensetzung der Gremien und Ausschüsse sowie die anstehenden Tagesordnungen ohne weiteres in Erfahrung gebracht werden können und dass zumindest dem Grundsatz nach die Sitzungsprotokolle zeitnah zugänglich sind oder sonst die Öffentlichkeit über Gegenstand und Ergebnisse der Beratungen in substantieller Weise unterrichtet wird."
Das ORF-Gesetz kennt derartige Transparenzvorschriften im Hinblick auf die Gremienarbeit nicht, sondern geht grundsätzlich eher von der Vertraulichkeit aus: Nach § 19 Abs 4 ORF-G sind sämtliche Mitglieder der Stiftungsorgane, "soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, zur Verschwiegenheit über alle ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit bekannt werdenden Umstände der Stiftung und der mit ihr verbundenen Unternehmen verpflichtet." Der Publikumsrat hält seine Sitzungen in der Regel zwar öffentlich, dies ist aber lediglich in seiner Geschäftsordnung, nicht aber bereits im Gesetz vorgesehen und würde damit den Anforderungen des BVerfG nicht genügen.
Ergebnis (und Disclaimer)
Würde man die vom deutschen Bundesverfassungsgericht im ZDF-Urteil angewandten Maßstäbe tatsächlich auf die Bestimmungen im ORF-Gesetz betreffend Publikums- und Stiftungsrat anwenden, so würden die ORF-Gremien diesen "Staatsferne-Test" meines Erachtens nicht bestehen: einerseits wegen der überwiegend "nicht hinreichend staatsfernen" Bestellung der Mitglieder, andererseits aber auch wegen der fehlenden gesetzlichen Vorkehrungen für Vielfalt in den Gremien und für ausreichende Transparenz.
Das ist natürlich nur ein Gedankenexperiment, und diese Überlegungen sind keinesfalls dahin zu verstehen, dass ich die Positionen des deutschen Bundesverfassungsgerichts als für Österreich relevant ansehen würde. Auch für Deutschland müssen sich diese Positionen zudem erst bewähren (ich bin insbesondere sehr gespannt, wie die Gesetzgeber etwa die "möglichst aktuelle und plurale Zusammensetzung auch in Blick auf Minderheiten" so sicherstellen können, dass dies auch vom BVerfG akzeptiert wird). Die Überlegungen zu "staatsnahen" oder "nicht staatsfern bestellten" Gremienmitgliedern bringen natürlich auch keine Bewertung der konkreten Personen zum Ausdruck. Und zu aktuellen Bestellungen oder Vorschlägen betreffend die ORF-Gremien sage ich bewusst gar nichts.
---
*) Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sein Ergebnis im ZDF-Urteil übrigens auch am Maßstab des Art 10 EMRK gemessen, gleich nach der Zusammenfassung der zentralen Aussagen des Urteils (Abs 48-49).
Zusammenfassend verlangt das Gebot der Staatsferne damit eine Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die - orientiert an dem Ziel der Vielfaltsicherung und zugleich zur Verhinderung der politischen Instrumentalisierung des Rundfunks - staatsfernen Mitgliedern in den Aufsichtsgremien einen bestimmenden Einfluss einräumt und die eventuelle Mitwirkung staatlicher und staatsnaher Mitglieder begrenzt.
Diese Erfordernisse entsprechen den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet Art. 10 EMRK die Konventionsstaaten, durch gesetzliche Ausgestaltung die Vielfalt im Rundfunk zu gewährleisten und diese Pflicht insbesondere nicht dadurch zu unterwandern, dass eine gewichtige ökonomische oder politische Gruppe oder der Staat eine dominante Position über eine Rundfunkanstalt oder innerhalb einer Rundfunkanstalt einnehmen kann und hierdurch Druck auf die Veranstalter ausüben kann (vgl. EGMR, Manole and Others v. Moldova, no. 13936/02 [im Blog dazu hier], §§ 95-102; EGMR (GK), Centro Europa 7 S.r.l. u.a. v. Italien, Urteil vom 7. Juni 2012, Nr. 38433/09 [im Blog dazu hier], NVwZ-RR 2014, S. 48 <52 f.="">, §§ 129 ff.; jeweils unter Hinweis auf Entschließungen und Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates).52>