Was aber ist eine journalistische Quelle? Mit dieser Frage befasste sich der EGMR in seiner vor zehn Tagen bekannt gegebenen Entscheidung vom 27. Mai 2014, Stichting Ostade Blade gegen Niederlande (Appl. no. 8406/06; siehe auch die Pressemitteilung des EGMR sowie das "legal summary"). Das Ergebnis: Der Verfasser eines Bekennerbriefs zu einem Bombenanschlag ist keine journalistische Quelle. Die Durchsuchung von Redaktionsräumen, um den einer Zeitschrift zugegangenen Bekennerbrief zu finden, verletzte die beschwerdeführende Medieninhaberin daher nicht in ihrem Recht nach Art 10 EMRK.
Zum Ausgangsfall
Der Sachverhalt reicht zurück in eine Zeit, in der die Auswertung von Schreibmaschinen-Farbbändern noch kriminalistische Standardaufgabe war: Nach drei Bombenanschlägen auf eine chemische Fabrik in Arnhem im Jahr 1996 veröffentlichte eine "militante" Zeitschrift eine Pressemitteilung. Sie teilte darin mit, dass die Gruppe "Earth Liberation Front" in einem Schreiben an die Zeitschrift die Verantwortung für die Anschläge übernommen habe. Zugleich wurde der Text des Bekennerschreibens veröffentlicht.
Am folgenden Tag wurde auf Grund richterlicher Anordnung und unter Aufsicht eines Untersuchungsrichters eine Durchsuchung in den Räumen der Zeitschrift durchgeführt. Vor der Durchsuchung wurde der anwesende Redakteur informiert, dass der Bekennerbrief gesucht wird; er antwortete, dass dieser Brief nicht in den Räumen der Redaktion sei. Der Untersuchungsrichter ordnete darauf hin an, dass nach dem Brief, aber auch nach Verbindungen zwischen der "Earth Liberation Front" und dem Magazin gesucht werden solle; dazu wurden von der Polizei schließlich vier Computer (unter anderem mit der Abonnenten-Datenbank), sowie unter anderem Adressverzeichnisse, ein Kalender und eine Schreibmaschine sichergestellt und mitgenommen. Das war gar nicht so einfach, denn inzwischen waren die Redaktionsräume versperrt worden und die Polizei musst schließlich die Tür aufbrechen; beim Verlassen der Redaktion wurden sie von Gegnern der Durchsuchung bedrängt, die den Polizisten auch einige der sichergestellten Unterlagen entrissen.
Wenige Tage später wurden die Gegenstände wieder retourniert - mit Ausnahme eines Schreibmaschinen-Farbbands, das noch ausgewertet werden sollte (immerhin: der Untersuchungsrichter ordnete an, dass die Schreibmaschine mit einem neuen Farbband zurückgegeben wurde).
In der nächsten Ausgabe der Zeitschrift wurde ein Bericht über die Durchsuchung veröffentlicht. Darin stand auch, dass der Bekennerbrief von den Redakteuren noch am Tage des Einlangens vernichtet worden sei, wie es bei dieser Zeitschrift üblich sei. Die Redaktion weigere sich, einer gerichtlichen Untersuchung gegen "direkte Aktionen" zu helfen.
Die Medieninhaberin und ein verantwortlicher Redakteur verlangten den Ersatz materieller und immaterieller Schäden, blieben aber vor den nationalen Gerichten - die Angelegenheit ging zweimal bis zum obersten Gerichtshof - weitgehend erfolglos. Der verantwortliche Redakteur scheiterte schon daran, das er den Ausspruch des zweitinstanzlichen Gerichts, wonach er keinen Schaden erlitten habe, nicht bekämpft hatte (aus diesem Grund wurde die Beschwerde des Redakteurs vom EGMR auch schon - mit gesonderter Entscheidung vom 05.02.2013, Stichting Ostade Blade und F.J. Kallenberg gegen die Niederlande - zurückgewiesen).
Im Hinblick auf die Medieninhaberin kamen die nationalen Gerichte zum Ergebnis, dass es zwei Ziele der Durchsuchung gegeben habe: erstens, um den Bekennerbrief zu finden, und zweitens, um mögliche Verbindungen zwischen dem Magazin und der Organisation, die sich zu den Anschlägen bekannt hatte, zu finden. Zum ersten Ziel wurde festgehalten, dass es keinen anderen Weg als die Durchsuchung gegeben hätte, um den Brief zu finden, und dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt worden sei, weil es um schwere Straftaten ging und eine Fortsetzung solcher Taten zu erwarten gewesen sei.
Das zweite Ziel der Durchsuchung (Aufspüren möglicher Verbindungen zwischen dem Magazin und der kriminellen Organisation) habe hingegen die Rechte der Medieninhaberin nach Art 10 EMRK verletzt, weil auch nicht dargelegt worden sei, dass es gelindere Mittel gegeben hätte, um solche Verbindungen aufzuklären. Eine Entschädigung wurde jedoch nicht gewährt, auch musste die Medieninhaberin die Kosten des Verfahrens tragen, weil sie mit dem Großteil ihrer Forderungen unterlegen war.
Der tatsächliche Täter, der die Bombenanschläge verübt hatte, wurde übrigens 2007 festgenommen und wegen Mordes, mehrerer bewaffneter Banküberfälle und Brandstiftung (ua in den Fällen von Arnhem) zu lebenslanger Haft verurteilt. Er gestand auch, den Bekennerbrief (mit Fax) an das Magazin geschickt zu haben.
Entscheidung des EGMR
- Empfehlung Nr R(2000) 7
Bei der Darlegung der relevanten Rechtsquellen zitiert der EGMR - wie in solchen Fällen mittlerweile üblich - ausführlich auch die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Nr R(2000) 7 über das Recht der Journalisten, ihre Informationsquellen nicht offenzulegen. Darin heißt es unter den Definitionen:
the term "source" means any person who provides information to a journalistIn einem "Explanatory Memorandum" zu dieser Empfehlung wird der Begriff der Quelle so beschrieben:
Source- Eingriff
Any person who provides information to a journalist shall be considered as his or her "source". The protection of the relationship between a journalist and a source is the goal of this Recommendation, because of the "potentially chilling effect" an order of source disclosure has on the exercise of freedom of the media (see, Eu. Court H.R., Goodwin v. the United Kingdom, 27 March 1996, para. 39). Journalists may receive their information from all kinds of sources. Therefore, a wide interpretation of this term is necessary. The actual provision of information to journalists can constitute an action on the side of the source, for example when a source calls or writes to a journalist or sends to him or her recorded information or pictures. Information shall also be regarded as being "provided" when a source remains passive and consents to the journalist taking the information, such as the filming or recording of information with the consent of the source.
Der EGMR hält fest, dass die Anordnung, den Bekennerbrief zu übergeben und die - nach der Verweigerung der Herausgabe des Briefes folgende - Durchsuchung einen Eingriff in das nach Art 10 EMRK geschützte Recht der Medieninhaberin, Informationen zu empfangen und mitzuteilen, darstellte.
- "Quelle"?
Noch vor der Prüfung, ob der Eingriff nach den Kriterien des Art 10 Abs 2 EMRK gerechtfertigt ist, befasst sich der EGMR mit der Art des Eingriffs, da sich die beschwerdeführende Medieninhaberin im Wesentlichen auf den Schutz journalistischer Quellen stützte. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist jedermann frei, der Presse Informationen offenzulegen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. Daraus folgt aber nicht, so der EGMR (in Abs 62 des Urteils), dass jede Person, die von einem Journalisten für Informationen gebraucht werde, eine "Quelle" in diesem Sinne sei (der EGMR verweist dazu auf den Fall Nordisk Film & TV A/S [dazu im Blog hier], in dem undercover gefilmte Personen nicht als Quellen beurteilt wurden).
Auch wenn es hier nicht um den Schutz echter journalistischer Quellen gehe, könne die Anordnung an einen Journalisten, Material herauszugeben, "chilling effects" haben. Im Original heißt es in Abs 64 des Urteils:
64. It is undeniable that, even though the protection of a journalistic “source” properly so-called is not in issue, an order directed to a journalist to hand over original materials may have a chilling effect on the exercise of journalistic freedom of expression. That said, the degree of protection under Article 10 of the Convention to be applied in a situation like the present one does not necessarily reach the same level as that afforded to journalists when it comes to their right to keep their “sources” confidential. The distinction lies in that the latter protection is twofold, relating not only to the journalist, but also and in particular to the “source” who volunteers to assist the press in informing the public about matters of public interest (see Nordisk Film, cited above).Im vorliegenden Fall sei der "Informant" des Magazins nicht vom Wunsch motiviert gewesen, Informationen zu liefern, auf die die Öffentlichkeit ein Anrecht hatte. Im Gegenteil: der Informant habe sich (im Namen einer fiktiven Organisation) zu Straftaten bekannt, die er selbst begangen habe. Sein Ziel sei es gewesen, sich hinter der Anonymität zu verstrecken und seiner eigenen strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Er (der Informant!) habe daher kein Anrecht auf den selben Schutz wie die Quellen in den Fällen Goodwin, Roemen und Schmit, Ernst ua, Voskuil, Tillack, Financial Times [im Blog dazu hier], Sanoma [im Blog dazu hier] und Telegraaf [im Blog dazu hier].
Der EGMR stellt hier also darauf ab, dass das Redaktionsgeheimnis bzw der sogenannte Quellenschutz tatsächlich auch dem Schutz der "Quelle" dienen soll (obwohl sich die "Quelle" nicht darauf berufen kann, sondern vertrauen muss, dass die Journalisten nicht leichtfertig die Quelle identifizieren). Die mangelnde Schutzwürdigkeit des anonymen Bekennerbrief-Schreibers schlägt dann gewissermaßen auf das Redaktionsgeheimnis durch: weil sich der Bekennerbrief-Schreiber nicht an den Journalisten gewandt hat, um eine Information mitzuteilen, auf die die Öffentlichkeit ein Anrecht hat, besteht demnach auch kein absolutes Recht des Journalisten, die Quelle geheim zu halten. (Die Prämisse, dass die Öffentlichkeit kein Recht an der Information hat, dass sich jemand zu Bombenanschlägen "bekennt", halte ich nicht - jedenfalls nicht in jedem Fall - für zwingend).
- Rechtfertigung des Eingriffs
Im Folgenden handelt der EGMR den Fall nach dem klassischen Prüfschema ab: der Eingriff war im niederländischen Recht gesetzlich vorgesehen und er diente dem legitimen Ziel der Verbrechensverhütung. Das Bekennerschreiben wurde gesucht, um eine mögliche Spur zur Identifikation der Person(en) zu finden, die mehrere Bombenanschläge durchgeführt hatten. Es sei jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass das Originaldokument nützliche Information hätte bieten können, sodass es auch nicht entscheidend sei, dass der Brief im Magazin ohnehin wörtlich zitiert worden war oder dass andere Spuren zu den Tätern verfügbar gewesen seien (wie die beschwerdeführende Medieninhaberin behauptete).
Alle sichergestellten Gegenstände - mit Ausnahme des Schreibmaschinen-Farbbandes - wurden zurückgegeben, alle nicht relevanten Informationen wurden vernichtet, und es gibt keine Anhaltspunkte, dass durch die Suche die Vertraulichkeit von Informationen, die dem Magazin anvertraut worden waren, verletzt worden wäre: aus all diesen Umständen, die noch weiter dadurch charakterisiert werden, dass die Suche durch die absichtliche Zerstörung des Bekennerbriefs ausgelöst wurde, sei der EGMR - so der etwas moralische Abschluss in Abs 72 des Urteils - nicht dazu bereit, die Schuld bei den Behörden zu finden:
In the circumstances, which are further characterised by the fact that the search was occasioned by the wilful destruction of the letter, the Court is not disposed to lay the blame on the authorities.Die Beschwerde wurde daher als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig zurückgewiesen. Die Entscheidung erfolgte allerdings nur mehrheitlich; wie groß die Mehrheit im Senat von sieben RichterInnen war, wird nicht offengelegt (das passiert nur bei Urteilen, nicht auch bei Unzulässigkeitsentscheidungen wie hier; anders als Kammerurteile sind solche Entscheidungen auch sofort endgültig).
PS: siehe zu dieser Entscheidung auch den Blogpost von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.