Friday, May 16, 2025

ORF-Gremien: alter Proporz in neuen Schläuchen? (Teil 2 - Publikumsrat)

Das ist der zweite Teil eines längeren Textes, den ich anlässlich des Ministerratsbeschlusses vom 13. Mai 2025 geschrieben habe, mit dem die Bundesregierung über die von ihr zu bestellenden Mitglieder des Stiftungsrates und des Publikumsrates des ORF entschieden hat. Im ersten Teil habe ich mich mit dem Stiftungsrat befasst, in diesem zweiten Teil geht es um die Auswahl der Publikumsratsmitglieder und einige Schlussfolgerungen daraus.

Publikumsrat

Die von der Bundesregierung bestellten 14 Publikumsratsmitglieder (auch hier gibt es eine strikte Gleichverteilung zwischen Männern und Frauen, § 30f ORF-Gesetz ist also erfüllt) sind:

  • Mag.a Dr.in Beatrix KARL für den Bereich Hochschulen,
  • Dr. John EVERS für den Bereich Bildung,
  • Mag. Paul POET für den Bereich Kunst und Kultur,
  • Mag.a Michaela HUBER für den Bereich Sport,
  • Matthias HAUER für den Bereich Jugend,
  • Mira LANGHAMMER für den Bereich Schülerinnen und Schüler,
  • Mag.a Gertrude AUBAUER für den Bereich ältere Menschen,
  • Martin LADSTÄTTER, M.A. für den Bereich Menschen mit Behinderungen,
  • Dr. Helmut SAX für den Bereich Eltern bzw. Familien,
  • Mag. Josef BURANITS, LL.M. für den Bereich Volksgruppen,
  • MMag.a Dr.in Petra STOLBA für den Bereich Touristik,
  • MMag. Bernhard WIESINGER, MBA, MPA für den Bereich Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer,
  • Mag.a Andrea SCHELLNER für den Bereich Konsumentinnen und Konsumenten und
  • Mag.a Birgit MAIR-MARKART für den Bereich Umweltschutz

Aufteilungsschlüssel?
Für die Auswahl der von der Bundesregierung zu bestellenden Mitglieder des Publikumsrates wurde im Regierungsprogramm kein (ausdrücklicher) Schlüssel für die Verteilung zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS vereinbart, denn eigentlich geht es hier um die Vertretung der nicht zwingend parteipolitisch zuzuordnenden Zivilgesellschaft. In der Praxis schaut das freilich gelegentlich anders aus: auch die Organisationen der Zivilgesellschaft oder die sie vertretenden Personen sind häufig politisch punziert (nicht nur in Österreich, siehe im Blog zB hier).

Begründungspflicht
Beim letzten Bestellungsvorgang hat die damals zuständige Medienministerin die Auswahl in evident gesetzwidriger Weise vorgenommen (siehe dazu im Blog hier; dieses Vorgehen war wohl mit auch ein Auslöser für die Anfechtung der einschlägigen Bestimmungen durch die burgenländische Landesregierung). Solcher Willkür sollte durch die nun erfolgte Neuregelung ein Riegel vorgeschoben werden. Es wurde dabei zwar keine Rechtskontrolle über die korrekte Auswahl geschaffen, allerdings zumindest eine Begründungspflicht eingeführt, die eine gewisse Nachvollziehbarkeit der getroffenen Auswahl ermöglichen sollte. 

Kriterien für die Auswahl
Die Auswahlkriterien nach § 28 Abs. 8 ORF-Gesetz sehen vor, dass bei mehreren Vorschlägen zunächst jene in die engere Auswahl zu nehmen sind, "die von Einrichtungen bzw. Organisationen stammen, die aufgrund ihres Wirkungsbereichs von zumindest überregionaler Bedeutung sind und jedenfalls einen bedeutenden Teil an Personen des betreffenden, in Abs. 4 genannten Bereichs bzw. der betreffenden Gruppe repräsentieren", dann ist dem Vorschlag jener jener Einrichtung bzw. Organisation der Vorzug zu geben, "die umfangreichere und vielfältigere Aktivitäten im Interesse des repräsentierten Bereichs bzw. der repräsentierten Gruppe aufweist" und wenn sich unter Anwendung dieser Kriterien weiterhin keine eindeutige Präferenz begründen lässt, ist jenem Dreiervorschlag der Vorrang einzuräumen, "von dem auf Grund von Ausbildung, Erfahrung und Berufstätigkeit der zur Bestellung vorgeschlagenen Personen und deren Engagement im von der Einrichtung bzw. Organisation repräsentierten Bereich insgesamt eine bessere Gewähr für eine den Aufgaben des Publikumsrates entsprechende Qualifikation geboten wird."

Zusammengefasst sind also die - nacheinander abzuarbeitenden - Kriterien: 

  1. überregionale Bedeutung 
  2. Repräsentation eines bedeutenden Teils der Personen 
  3. umfangreichere und vielfältigere Aktivitäten
  4. die vorgeschlagenen Personen bieten bessere Gewähr für die den Aufgaben des Publikumsrates entsprechende Qualifikation

Wie diese gesetzlich vorgesehenen Auswahlkriterien gehandhabt wurden, sollte in der veröffentlichten Begründung der Auswahlentscheidung dargelegt werden. Ich habe mir das für die jeweiligen Vertretungsbereiche näher angeschaut:

1. Hochschulen

Für diesen Bereich wurden zwei Vorschläge erstattet, einmal von der Österreichischen  Universitätenkonferenz (uniko), und einmal von der Rektorinnen- und Rektorenkonferenz der österreichischen Pädagogischen Hochschulen (RÖPH). Die in der uniko zusammengefassten Universitäten sind (laut eigenen Angaben) in Summe Arbeitgeberinnen von rund 66.000 Personen (wissenschaftlich/künstlerisch/allgemein) und haben in Summe rund 265.000 Studierende. Die RÖPH repräsentiert die 14 pädagogischen Hochschulen, Zahlen zu den Studierenden sind in der veröffentlichten Bewerbung nicht genannt, laut Statistik Austria hatten sie im Wintersemester 2023/2024 nicht einmal ein Zehntel der Studierenden der Unis, nämlich nur 21.580 Studierende, dazu kommt eine in der Größenordnung mit den Unis vergleichbare Zahl von Lehrgang-Studierenden (ca. 18.000). 

Die Bundesregierung hat sich für den Vorschlag der RÖPH entschieden und begründet das damit, dass der Organisation der Vorzug gegeben worden sei, "die mit ihren Aktivitäten die weitreichenderen und nachhaltigeren Auswirkungen im Bereich Hochschulen zeitigt. So setzt die betreffende Organisation nicht nur unmittelbare akademische Akzente durch die Ausbildung von jährlich zigtausenden Studierenden; sie bildet auch kontinuierlich tausende Lehrerinnen und Lehrer weiter. Dieses Ausbildungssystem hat letztlich erhebliche Auswirkungen auf den weiteren Bildungsweg von hunderttausenden Schülerinnen und Schülern in Österreich bis hin zur möglichen Hochschulreife."

Der Begründungswert dieser Ausführungen ist null. Weshalb die Aktivitäten der PHs weitreichendere und nachhaltigere Auswirkungen im Bereich Hochschulen "zeitigen" sollen als jene der Unis mit mehr als zehnmal so vielen Studierenden, das ist ohne weitere Erklärung nicht nachvollziehbar: welche Aktivitäten sind denn da gemeint, welche Auswirkungen, und wer hat die wie bewertet? Auch die Unis bilden weiter (auch Lehrende an Schulen, btw), auch das hat Auswirkungen auf den Bildungsweg von Schülerinnen und Schülern (um die es hier im Bereich der Hochschulen aber gar nicht geht). 

Die Auswahl erfolgte hier also angeblich gestützt auf das Kriterium 3 (umfangreichere Aktivitäten). Einen Beleg dafür bleibt die Begründung schuldig, und nach allem was man vom außen beurteilen kann, dürfte ein solcher Beleg auch nicht erbracht werden können: Dass die 14 pädagogischen Hochschulen mit zusammen knapp 22.000 Studierenden (oder 40.000 Studierenden, wenn man die Lehrgänge hinzurechnet), im Hochschulbereich umfangreichere Aktivitäten entfalten als die Universitäten mit zusammen gut 260.000 Studierenden, glaubt wahrscheinlich nicht einmal die RÖPH selbst, sondern nur die Bundesregierung, die das zur Begründung ihrer Auswahlentscheidung gemacht hat.

Der Zufall will es, dass die von der RÖPH vorgeschlagene und von der Bundesregierung bestellte Vertreterin (Beatrix Karl) eine ehemalige ÖVP-Abgeordnete und Bundesministerin ist, während der von der uniko Erstvorgeschlagene Oliver Vitouch als SPÖ-nah gilt. 

2. Bildung

Für diesen Bereich wurden vier Dreiervorschläge eingebracht, vom Verband Österreichischer Volkshochschulen (VÖV), dem Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs (VWGÖ), dem Verein arbeit plus - Soziale Unternehmen Österreich und vom Österreichischen Roten Kreuz.

Nach der veröffentlichten Begründung erfolgte die Auswahl nach den Kriterien 1 (überregionale Bedeutung und 2 ("bedeutender Teil der Personen repräsentiert"); dies impliziert, dass diese Kriterien (die nur dafür heranzuziehen sind, welche Vorschläge in die engere Auswahl gezogen werden) für die anderen vorschlagenden Organisationen nicht gegeben seien (was meines Erachtens nicht eindeutig ist). Die Auswahl nach dem Kriterium 3 (umfangreichere Aktivitäten) würde aber wohl ebenso zu diesem Vorschlag führen. Die ausgewählte Person, den Generalsekretär des VÖV John Evers, wird man wohl als politischen Ausgleich zur Vertreterin des Bereichs Hochschulen sehen können, sodass der Hochschul- und Bildungsbereich offenbar rot/schwarz aufgeteilt wurde. 

3. Kunst und Kultur

Für diesen Bereich gab es ebenfalls vier Vorschläge, und zwar vom Kulturrat Österreich, vom Dachverband der österreichischen Filmschaffenden, vom Grazer Kunstverein und vom Österreichischen Blasmusikverband (ÖBV). Ausgewählt wurde der Vorschlag des Dachverbands der Filmschaffenden, wobei hier nicht der Erstgereihte bestellt wurde, sondern der Zweitgereihte Paul Poet

Die Begründung spricht von mehreren (also wohl drei) Dreiervorschlägen von Organisationen, die aufgrund ihres Wirkungsbereichs von überregionaler Bedeutung sind und einen bedeutenden Teil an Personen des Bereichs Kunst und Kultur betreffen (damit ist wohl der Grazer Kunstverein ausgeschieden, auf dessen Vorschlag für die jetzt zu Ende gehende Funktionsperiode Johann Baumgartner als Mitglied des Publikumsrates bestellt wurde - damals allerdings nur gegen die Konkurrenz der ebenfalls regional beschränkten "Alten Schmiede"/Kunstverein Wien). 

Von den drei verbleibenden Organisationen wurde der Dachverband der Filmschaffenden als jener mit den "umfangreicheren und wirkmächtigeren Aktivitäten" beurteilt - auch hier ist die Begründung recht pauschal und nicht mit "hard facts" unterlegt (gesetzlich entscheidend sind die "umfangreicheren" Aktivitäten, was ich nicht wirklich beurteilen kann; dass die Aktivitäten "wirkmächtiger" sind, oder dass der Film "wie kaum ein anderes Medium die kulturelle Wahrnehmung, kollektive Erinnerung und gesellschaftliche Debatte mit immenser Breitenwirkung, internationaler Reichweite und enormer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung" prägt, ist kein gesetzlich vorgesehenes Auswahlkriterium). 

Interessant ist auch die Begründung, weshalb der Zweitgereihte bestellt wurde: er sei jene Person aus diesem Dreiervorschlag, "die die umfangreichsten Branchenkenntnisse und langjährige Berufserfahrung im Bereich Kunst und Kultur mitbringt." Das mit der langjährigen Berufserfahrung würde der Erstgereihte wohl anders sehen, zumal dessen Berufskarriere schon begonnen hatte, als der Zweitgereihte noch nicht einmal geboren war (der Drittgereihte ist etwa gleich alt wie der Zweitgereihte); das mit den "umfangreichsten Branchenkenntnissen" kann ich nicht beurteilen. De facto ist es wohl eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung für eine Person, die - anders als der 1947 geborene Erstgereihte - noch im aktiven Berufsleben steht. Für diese Auswahl unter den einzelnen Personen, die auf den Dreiervorschlägen genannt werden, gibt es auch keine gesetzlich vorgegebenen Kriterien, die Bundesregierung ist hier also in ihrer Entscheidung frei. 

Paul Poet hat zu seiner Bestellung auf LinkedIn öffentlich erklärt, dass seine Bestellung "unterstützt von den NEOS und SPÖ/Vizekanzler Andi Babler" erfolgt sei - das war also sicher kein ÖVP-Ticket. 

4. Sport

Anders ist es beim Sport, hier gab es Vorschläge von ASKÖ und Sportunion (als gelernter Österreicher weiß man: ASKÖ = rot, Sportunion =  schwarz), die Bundesregierung entschied sich für den Vorschlag der Sportunion, begründet einfach damit, dass der Dachverband Sportunion "quantitativ mehr Vereine unter seinem Dach vereint" (was wohl eine Annäherung an das Kriterium 3 - "umfangreichere Aktivitäten" - sein soll). Dieser Punkt geht also an die ÖVP. Bestellt wurde die Sportunion-Vizepräsidentin (und beruflich ÖBB-Infra-Vorständin) Michaela Huber

 5. Jugend

Dafür punktet bei der Jugend die andere politische Seite. Vier Dreiervorschläge wurden eingebracht, und zwar von der Katholischen Jungschar Österreichs (KJSÖ) mit Katholischer Jugend (KJÖ), der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ im ÖGB), der Österreichischen Kinder- und Jugendvertretung (ÖJV) - Bundesjugendvertretung (BJV) und der Landjugend Österreich. Laut Begründung seien von den vier Vorschlägen "mehrere" (also wohl: nicht alle) durch Organisationen eingebracht worden, die aufgrund ihres Wirkungsbereichs von überregionaler Bedeutung sind und einen bedeutenden Teil an Personen des Bereichs Jugend betreffen (ich gehe davon aus, dass damit nach Ansicht der Bundesregierung die Landjugend nicht die Kriterien 1 und/oder zwei erfüllt hat, denn für die anderen Organisationen dürfte das eher unstrittig sein). 

Die Begründung für die Berücksichtigung des Vorschlags der ÖGJ (bestellt wurde der Erstgereihte Matthias Hauer) ist wenig erhellend: "Die Entscheidung fiel zugunsten jener Organisation, die als unmittelbarer Mitgliederverein den bedeutendsten – im Sinne von quantitativ größten – Teil an Personen betrifft und vertritt." Diese Argumentation lässt sich meines Erachtens nicht direkt aus dem Gesetz ableiten: ob die Organisation ein Dachverband oder ein "unmittelbarer Mitgliederverein" ist, dürfte für die Frage, ob überregionale Bedeutung vorliegt und ein bedeutender Teil der Personen des betreffenden Bereichs repräsentiert wird, nicht entscheidend sein. Im nächsten Schritt wäre nicht zu prüfen, ob die Organisation mehr Personen "betrifft oder vertritt", sondern ob sie umfangreichere und vielfältigere Aktivitäten aufweist (wozu die Begründung der Bundesregierung schweigt). Mag sein, dass die Gewerkschaftsjugend umfangreichere Aktivitäten aufweist als die Katholische Jungschar und Katholische Jugend - aber  mit "hard facts" ist auch das jedenfalls nicht unterlegt.  

6. Schülerinnen und Schüler

Der Bereich Schülerinnen und Schüler war einfach: nur ein Vorschlag, von der zweifellos überregional bedeutsamen und einen bedeutenden Teil der Schüler*innen repräsentierenden Bundesschülervertretung; bestellt wurde die Bundesschulsprecherin Mira Langhammer (die der ÖVP-nahen Schülerunion angehört).

7. Ältere Menschen

Auch die Organisationen, die die älteren Menschen in Österreich vertreten, lassen sich politisch schön zuordnen - der Seniorenbund der ÖVP und der Pensionistenverband Österreichs der SPÖ; beide haben Vorschläge erstattet, dazu auch noch der Malteser Hospitalsdienst Austria (MHDA), der aber zutreffend als nicht von überregionaler Bedeutung eingestuft wurde. 

Zwischen den beiden parteinahen Verbänden (die ähnliche Mitgliederzahlen angeben) wurde laut veröffentlichter Begründung aufgrund des vierten Kriteriums - der vorgeschlagenen Personen - entschieden. Weshalb die Personenvorschläge des Seniorenbunds "die bessere Gewähr für die Aufgaben des Publikumsrates" bieten sollen (nach dem Gesetz ginge es um die "bessere Gewähr für eine den Aufgaben des Publikumsrates entsprechende Qualifikation"), wird mit keinem Wort begründet. 

Dass aus diesem Dreiervorschlag dann die frühere ÖVP-Nationalratsabgeordnete Gertrude Aubauer bestellt wurde, wird übrigens damit begründet, dass diese "durch ihre Aktivitäten als Volksvertreterin, Funktionärin und öffentliche Person die Interessen älterer Menschen am offenkundigsten vertritt." Würde sie die Funktion als "Volksvertreterin" (Nationalratsabgeordnete) aktuell noch ausüben, wäre sie allerdings als Mitglied des Publikumsrates gemäß § 28 Abs. 2 Z 4 ORF-G ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund mutet es etwas seltsam an, dass gerade diese (frühere) Funktion hier hervorgehoben wird und für ihre Bestellung sprechen soll.

8. Menschen mit Behinderungen

Für diesen Bereich besteht die gesetzliche Besonderheit (§ 28 Abs. 4 letzter Satz ORF-G), dass die Interessen von Menschen mit Behinderungen durch eine selbst behinderte Person vertreten werden müssen. Der einzige eingebrachte Dreiervorschlag wurde vom Österreichischen Behindertenrat (ÖBR) erstattet, die Bundesregierung bestellte den in diesem Vorschlag Erstgereihten Martin Ladstätter

9. Eltern bzw. Familien

Für diesen Bereich wurden die meisten Vorschläge erstattet, und zwar insgesamt acht Vorschläge (Katholischer Familienverband, Österreichische Kinderfreunde Bundesorganisation, Volkshilfe Österreich, Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren, Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit, Rat auf Draht gemeinnützige GmbH, SOS-Kinderdorf, die möwe Kinderschutz gemeinnützige GmbH), wobei allerdings die Vorschläge der fünf zuletzt genannten Organisationen vollkommen gleichlautend waren. 

Die Begründung der Bundesregierung für die vorgenommene Auswahl ist hier insofern unvollständig, als sie nicht einmal klar angibt, welchen Vorschlag sie tatsächlich ausgewählt hat. Wörtlich heißt es in dort: "Mit Blick auf den Umfang und die Vielfalt der Aktivitäten fiel die Entscheidung für den Dreiervorschlag jener Organisation, die im Sinne von Eltern und Familien das Wohl von Kindern und Jugendlichen im relevantesten – nämlich im gesundheitlichen – Bereich in den Fokus ihrer Arbeit rückt."

Da die bestellte Person, Helmut Sax, in fünf Vorschlägen erstgereiht war, lässt sich daraus nur indirekt erschließen, welcher Vorschlag gemeint sein dürfte: wohl jener der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. Auch hier mag die Auswahl einen guten Grund haben, mit den gesetzlich vorgesehenen Kriterien nach § 28 Abs. 8 ORF-G wird sie allerdings nicht begründet: dass die Organisation das Wohl von Kindern und Jugendlichen im "relevantesten" Bereich (wie auch immer man darauf gekommen sein mag) in den Fokus der Arbeit rückt, sagt nämlich nichts aus über Umfang und Vielfalt der Aktivitäten im Interesse der Eltern bzw. Familien. 

10. Volksgruppen

Für den Bereich Volksgruppen wurden zwei Dreiervorschläge vorgelegt, und zwar vom Kroatischen Kulturverein im Burgenland/Hrvatsko kulturno društvo u Gradišću (HKD) und vom Rat der Kärntner Slowenen/ Narodni svet koroških Slovencev (NSKS). Die Bundesregierung schreibt in der Begründung zwar, dass beide Organisationen "einen bedeutenden Teil an Personen des Bereichs Volksgruppen" betreffen und "umfangreiche und vielfältige Aktivitäten im Bereich der Volksgruppen" aufweisen. Dann wird die Begründung kryptisch: "Anhand der vorgelegten Personenvorschläge fiel die Entscheidung formal für eine der beiden Organisationen; die personelle Entscheidung fiel aber auf jene eine Person, die von beiden Organisationen in ihrem Dreiervorschlag nominiert worden ist." 

Damit wird aber tatsächlich gerade nicht offengelegt, für welchen Vorschlag sich die Bundesregierung entschieden hat und nach welchen Kriterien dies erfolgt ist. Es ist nachvollziehbar, dass die Erstreihung jener Person, die auch aktuell die Volksgruppen im Publikumsrat repräsentiert, auf beiden Vorschlägen als Signal zu sehen war, dass sowohl die kroatische als auch die slowenische Volksgruppe diese Person (Josef Buranits) wieder im den Publikumsrat haben wollte. Das enthebt aber die Bundesregierung nicht der Verpflichtung, sich für einen Vorschlag zu entscheiden (was sie angeblich auch getan hat, aber nicht offenlegt) und dies entsprechend zu begründen. Die getroffene Entscheidung ist gut gemeint und dürfte auch dem Willen beider nominierender Volksgruppen entsprechen - formal korrekt argumentiert ist sie nicht. 

11. Touristik 

Für den Bereich Touristik wurde die Erstgereihte des einzigen - von der Österreich Werbung erstatteten - Dreiervorschlags, Petra Stolba, bestellt. 

12. Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer

Auch für den Bereich Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer lag nur ein Dreiervorschlag (des ÖAMTC) vor, wobei wiederum der Erstgereihte (Bernhard Wiesinger) bestellt wurde. 

2.13. Konsumentinnen und Konsumenten

Für den Bereich Konsumentinnen und Konsumenten gab es ebenfalls nur einen Dreiervorschlag, hier von der Mietervereinigung Österreichs. Bestellt wurde diesmal jedoch die Drittgereihte (Andrea Schellner), von der die Bundesregierung meint, dass sie "aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit diesen Bereich überzeugend repräsentieren kann" (warum auch immer, das wird nicht weiter begründet - und es scheint mir auf den ersten Blick auch nicht ganz klar, was der Beruf einer Wirtschaftstreuhänderin so Spezielles an sich hat, dass er den Bereich der Konsumentinnen und Konsumenten überzeugend repräsentieren kann).

2.14. Umweltschutz

Für den Bereich Umweltschutz wurden Vorschläge von den Naturfreunden Österreich, vom ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung, und vom Umweltdachverband eingebracht. Allen drei Organisationen wird von der Bundesregierung beschieden, von überregionaler Bedeutung zu sein einen bedeutenden Teil an Personen des Bereichs Umweltschutz zu betreffen. Anders als im Bereich Jugend, wo der "unmittelbare Mitgliederverein" bevorzugt wurde, wurde im Bereich Umweltschutz nicht der Vorschlag des (roten) Mitgliedervereins Naturfreunde, sondern der Vorschlag "jener Organisation, die als Dachverband die größten Umwelt- und Naturschutzorganisationen des Landes (GLOBAL 2000, WWF, VIER PFOTEN; Kooperation mit Greenpeace) und deren umfangreichen und vielfältigen Aktivitäten repräsentiert", ausgewählt. Auch in diesem Fall lässt sich der Begründung kein nachvollziehbarer Vergleich des Umfangs und der Vielfalt der Aktivitäten dieses Dachverbands mit den Aktivitäten der beiden anderen Organisationen, die Vorschläge erstattet haben, entnehmen. 

Vom Vorschlag des Umweltdachverbandes wurde die Zweitgereihte (Birgit Mair-Markart) ausgewählt,  mit der bemerkenswerten Begründung, diese sei "jene Person, die auch in einem Dreiervorschlag einer zweiten Organisation im Bereich Umweltschutz nominiert worden ist."

Schlussfolgerungen - Was lässt sich aus der Bestellung der Publikumsratsmitglieder lernen?

Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann
Die Auswahlentscheidung ist natürlich besonders einfach, wenn nur ein einziger Dreiervorschlag für den jeweiligen Vertretungsbereich erstattet wird. In diesem Fall ist nur zu prüfen, ob es sich beim Vorschlagenden um eine repräsentative Einrichtung oder Organisation handelt (wäre das nicht der Fall, so wäre nach § 28 Abs. 6 und 7 ORF-Gesetz vorzugehen), und dann eine Auswahl unter den drei vorgeschlagenen Personen vorzunehmen. Diese Auswahl liegt im freien Ermessen der Bundesregierung (wobei auf die Geschlechterverteilung iSd § 30f ORF-G Bedacht zu nehmen ist).  

Gleich in fünf Vertretungsbereichen (Schülerinnen und Schüler, Menschen mit Behinderungen, Touristik, Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer, Konsumentinnen und Konsumenten) wurde nur ein Dreiervorschlag erstattet. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass es nur eine repräsentative Organisation oder Einrichtung gibt (schwer zu glauben, zumal in der Vergangenheit in diesen Vertretungsbereichen auch andere Organisationen Vorschläge erstattet haben). Es mag auch sein, dass sich die anderen Organisationen nicht dafür interessieren (so spannend ist der Publikumsrat nun auch wieder nicht). Oder es könnte sein, dass es im Vorfeld Absprachen gegeben hat. Dabei gibt es wieder zwei Möglichkeiten: der "Vertretungsbereich" einigt sich intern darauf, wer vorschlägt (das  könnte hinter dem einzigen Vorschlag aus dem Bereich Menschen mit Behinderungen stehen), oder es wird politisch ausgedealt, wer für welchen Vertretungsbereich vorschlagen soll (nach dem - hypothetischen - Muster: wenn der rote ARBÖ keinen Vorschlag für die Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer erstattet, macht der schwarze Mieterbund keinen Vorschlag für die Konsumentinnen und Konsumenten). 

Egal wie auch immer es aber zur Situation gekommen ist, dass nur ein Vorschlag einer repräsentativen Organisation erstattet wurde: die Bundesregierung hat in diesem Fall keine Wahl, sie muss jemand aus diesem Vorschlag auswählen.

Je öfter genannt, desto besser?
In drei Fällen (Eltern bzw. Familien, Volksgruppen, Umweltschutz) hat die Bundesregierung Personen bestellt, die auf zwei oder mehr Vorschlägen genannt waren. Die Anzahl der Nennungen ist allerdings kein gesetzlich relevantes Kriterium und dürfte als solches nicht für die Auswahl des zu berücksichtigenden Dreiervorschlags herangezogen werden. Das schließt freilich nicht aus, bei der - im Ermessen der Bundesregierung liegenden - Auswahl der konkreten Personen aus dem zuvor auszuwählenden Dreiervorschlag jene Person zu nennen, die auch auf anderen Vorschlägen genannt ist. Aber grundsätzlich ist zunächst jener Dreiervorschlag (eindeutig!) auszuwählen, der den Kriterien am besten entspricht, und erst dann ist die Auswahl unter den dort genannten Personen zu treffen (das wurde beim Bereich Volksgruppen nicht getan: hier hat sich die Bundesregierung nicht festgelegt, welchen Vorschlag sie ausgewählt hat).

Außergesetzliche Kriterien
Mit der erstmaligen Festlegung von Kriterien für die Auswahl unter mehreren Dreiervorschlägen hat der Gesetzgeber versucht, dem VfGH-Erkenntnis Rechnung zu tragen, das in der (damals dem Bundeskanzler bzw. der Medienministerin zustehenden) freien Auswahl, "ob und welche Vorschläge berücksichtigt werden," ein Unterlaufen der Repräsentativität des Publikumsrates als möglich erachtet hat. Die nun erfolgte erste Bestellung nach den neuen Bestimmungen zeigt, dass die Bundesregierung vielleicht da und dort andere oder zusätzliche Kriterien heranziehen möchte, über deren gesetzliche Verankerung man diskutieren könnte. So hat sich die Bundesregierung in einem Fall (Jugend) darauf bezogen, dass es sich um einen "unmittelbaren Mitgliederverein" handelt, der den größten Teil der betroffenen Personen vertritt. In einem anderen Fall  (Umweltschutz) wiederum klingt die Begründung so, als wäre es gerade die Form des Dachverbands,  die eine Rolle bei der Auswahlentscheidung gespielt hat. In einem anderen Bereich (Eltern bzw. Familie) wird darauf abgestellt, dass die (implizit) ausgewählte Organisation einen bestimmten Aspekt aus diesem Bereich, den die Bundesregierung - warum auch immer - für den relevantesten hält, "in den Fokus der Arbeit rückt" - auch dieses "Relevanz"-Kriterium oder eine Fokussierung auf bestimmte Aspekte ist im Gesetz derzeit nicht abgebildet. 

Begründen muss man wollen (und können)
Das Gesetz verlangt die Veröffentlichung der "tragenden Gründe für die Entscheidung zugunsten der ausgewählten Einrichtung bzw. Organisation und der ausgewählten Person" (§ 28 Abs. 10 ORF-G). Diese Verpflichtung wurde (ohne relevante Folgen) im Bereich Volksgruppen schon deshalb nicht eingehalten, weil nicht bekanntgegeben wurde, für welchen Vorschlag sich die Bundesregierung entschieden hat (im Bereich Eltern bzw. Familie kann man den ausgewählten Vorschlag zumindest indirekt erschließen). Darüber hinaus bleiben manche Begründungen formelhaft: dass die Vorschläge des Seniorenbundes "die bessere Gewähr für die Aufgaben des Publikumsrates" bieten sollen (als jene des Pensionistenverbandes), wird nur behauptet, nicht erklärt.

Politaufteilung schlägt gesetzliche Kriterien
Über die konkreten Auswahlentscheidungen kann man in manchen Fällen unterschiedlicher Meinung sein, und die Kriterien sind nicht immer griffig anzuwenden. Aber schon die (bloß behauptete, nicht begründete) "bessere Gewähr" für die Aufgaben des Publikumsrates bei den Seniorenbund-Vorschlägen klingt ein wenig nach: es soll halt so sein (mit anderen Worten: das ist ein VP-"Mandat"). Ähnlich ist es bei der Jugend: hier wurde der Vorschlag der Gewerkschaftsjugend ausgewählt, weil sie "als unmittelbarer Mitgliederverein den bedeutendsten – im Sinne von quantitativ größten – Teil an Personen betrifft und vertritt"  - auch da fehlt eine nähere Auseinandersetzung, die das mit den gesetzlichen Kriterien in Beziehung setzt und mit Fakten unterlegt. Aber Jugend, das war wohl ein "rotes Ticket" (dafür kommt wieder bei den Schülerinnen und Schülern, wo es allerdings nur einen Vorschlag gab, eine Vertreterin einer ÖVP-nahen Organisation zum Zug). 

Diese Auswahlentscheidungen bei den älteren Menschen und bei der Jugend lassen sich aber noch halbwegs argumentieren und wurden nicht ganz so offensichtlich nur aufgrund der politischen Zuordnung getroffen. Anders ist das allerdings im Bereich Hochschulen: dass hier der Vorschlag der Rektorinnen- und Rektorenkonferenz der österreichischen Pädagogischen Hochschulen (RÖPH) vor jenem der Österreichischen Universitätenkonferenz bevorzugt wurde, lässt sich nicht anders als (partei-)politisch erklären. Die im Ministerratsbeschluss dafür genannten Gründe sind absurd und unglaubwürdig. Wie schon oben ausgeführt: dass die 14 pädagogischen Hochschulen mit zusammen knapp 22.000 Studierenden im Hochschulbereich umfangreichere Aktivitäten entfalten als die Universitäten mit zusammen gut 260.000 Studierenden, glaubt wahrscheinlich - wenn sie dies denn tut - nur die Bundesregierung. 

In diesem Fall ist greifbar, dass nicht die gesetzlichen Kriterien herangezogen wurden, sondern alte Proporzüberlegungen hinter der Auswahlentscheidung stehen. 

Das ist schon deshalb bedauerlich, weil damit auch die Auswahlentscheidungen in anderen Bereichen, die formal besser begründet wurden, unter diesen Verdacht geraten - wie schon gesagt: es liegt nahe, dass nach dem schwarzen Ticket für den Bereich Hochschulen der Bereich "Bildung" ein rotes Ticket war, dem roten Jugend-Ticket ein schwarzes Ticket aus dem Beriech Schülerinnen und Schüler gegenübersteht, und dass auf die "schwarzen" Kraftfahrerinnen und Kraftfahrern die "roten" Konsumentinnen und Konsumenten" folgen. Und weil die ÖVP etwas größer ist als die SPÖ, hat sie auch die Bereiche ältere Menschen, Sport und Touristik bekommen, dafür (wahrscheinlich) die SPÖ den Bereich Kunst und Kultur (zumindest hat sich der Ausgewählte bei SPÖ und NEOS bedankt). Nicht (oder jedenfalls nicht für mich) direkt parteipolitisch zuordnen lassen sich die ausgewählten Vorschläge für die Bereiche behinderte Menschen, Volksgruppen, Umweltschutz und Eltern bzw. Familien.

Zusammenfassend: die Auswahl wurde zwar transparenterer, aber da und dort schimmert das alte Proporzdenken durch. 

Was kommt jetzt?

Der nächste Schritt ist die Bestellung der Stiftungsrats- und Publikumsratsmitglieder durch die anderen bestellungsberechtigten Einrichtungen. Von besonderem Interesse ist, welche neun Mitglieder des Publikumsrates von diesem in den Stiftungsrat entsendet werden, und ob hier - wie Harald Fidler im Interview mit dem Vizekanzler im Standard in den Raum stellt - eine Aufteilung von "je vier für ÖVP und SPÖ und einem Sitz für Neos" erkennbar sein wird.

  

ORF-Gremien: alter Proporz in neuen Schläuchen? (Teil 1 - Stiftungsrat)

Mit Ministerratsbeschluss vom 13. Mai 2025 hat die Bundesregierung über die von ihr zu bestellenden Mitglieder des Stiftungsrates und des Publikumsrates des ORF entschieden. Dieser Beschluss basiert auf einer neuen Rechtslage, die erst jüngst - nachdem die Aufhebung einiger Bestimmungen des ORF-Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof wirksam geworden ist - geschaffen wurde. Die geänderte Rechtslage trägt dem VfGH-Erkenntnis formal Rechnung; wie sie in der Praxis nun umgesetzt wurde, habe ich mir für diesen Beitrag angeschaut. 

Eine Warnung vorweg: es ist ein sehr langer Text geworden, den ich daher auf zwei Posts aufgeteilt habe. Im ersten Teil gebe ich eine kurze Übersicht über die gesetzlichen Änderungen. Danach gehe ich auf die Bestellung von Stiftungsratsmitgliedern durch die Bundesregierung ein, und zwar zunächst auf die von ihr selbst auszuwählenden Mitglieder und dann auf jene Mitglieder, die von ihr auf Vorschlag der Parteien zu bestellen sind. Der zweite Teil (im Folgeposting) befasst sich dann mit der Auswahl der Publikumsratsmitglieder. 

[Wer den ganzen Text lieber in einem pdf lesen mag: bitte hier herunterladen]


Was bisher geschah - vom VfGH-Erkenntnis zur teilweisen Neuregelung der Gremienbestellung

VfGH-Erkenntnis
Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 5. Oktober 2023 einige Bestimmungen über die Bestellung der Mitglieder des Stiftungsrates und des Publikumsrates des ORF als verfassungswidrig aufgehoben (siehe dazu im Blog hier und hier). Die Aufhebung wurde mit Ablauf des 31. März 2025 wirksam. 

Neuregelung
Eine (teilweise) Neuregelung der Bestellungsregeln erfolgte mit der am 17. April 2025 kundgemachten Änderung des ORF-Gesetzes. Dabei beschränkte sich der Gesetzgeber auf eine Minimalvariante - es erfolgte also keine Reform der Gremienstruktur und es wurden nur solche Änderungen vorgenommen, die man als erforderlich ansah, um dem VfGH-Erkenntnis (gerade noch) Rechnung zu tragen. 

Was noch offen ist
Andere offene Baustellen (wie zB die Frage der Repräsentativität der nach § 28 Abs. 3 ORF-G zu bestellenden Mitglieder des Publikumsrats), die vom VfGH mangels Anfechtung nicht behandelt wurden, blieben ausgespart - da wird die Sanierung wohl erst nach dem nächsten VfGH-Erkenntnis ansetzen. Zudem wäre bis 8. August 2025 auch noch ein Begleitgesetz zum Europäischen Medienfreiheitsgesetz (EMFA) zu erlassen, damit die Bestellung und Abberufung der Führungsebene des ORF in Einklang mit den Vorgaben dieser EU-Verordnung gebracht wird (ich weiß, das ist verwirrend: der EMFA ist tatsächlich eine Verordnung, wird aber im offiziellen Kurztitel als "Gesetz" bezeichnet) . 

Übersicht zu den Änderungen im ORF-Gesetz:

  1. Die Anzahl der von der Bundesregierung zu bestellenden Mitglieder des Stiftungsrates wurde von neun auf sechs verringert.
  2. Für diese Stiftungsratsmitglieder (und nur für diese!) wurden weitere Kriterien in das Gesetz aufgenommen; nach dem neuen § 20 Abs 1b ORF-G hat die Bundesregierung bei den Bestellungen dieser Mitglieder "dafür zu sorgen, dass in den Bereichen Betriebswirtschaft, Controlling, Medienwirtschaft, Kommunikation, Technologie und Innovation sowie Rundfunk-, Urheber- und Medienrecht ausreichende Expertise gegeben ist. Die Bundesregierung hat bei der Bestellung der Mitglieder die facheinschlägige Ausbildung, Dauer und Art der Berufserfahrung sowie die Kenntnisse im jeweiligen Bereich zu berücksichtigen. Darüber hinaus hat die Bundesregierung bei den Bestellungen darauf zu achten, dass der Stiftungsrat unter Berücksichtigung des vorliegenden Bedarfs fachlich ausgewogen zusammengesetzt ist." 
  3. Die Funktionen dieser Stiftungsratsmitglieder sind auch öffentlich auszuschreiben und der in der Folge getroffene Beschluss der Bundesregierung ist zu begründen. Die Begründung ist (auf evi.gv.at) auch zu veröffentlichen. Nicht ausdrücklich veröffentlichungspflichtig ist, wer sich auf die Ausschreibung hin beworben hat - und da dies auch tatsächlich nicht veröffentlicht wurde, ist es auch schwer nachzuvollziehen, ob die von der Bundesregierung veröffentlichte Begründung für die Auswahl - unter Berücksichtigung im Hinblick der sonst zur Auswahl stehenden Bewerber*innen - stichhaltig ist.
  4. Die Anzahl der vom Publikumsrat in den Stiftungsrat zu entsendenden Mitglieder wurde von sechs auf neun erhöht.
  5. Die bisher von der Medienministerin auszuwählenden 17 Publikumsratsmitglieder aus 14 verschiedenen "Vertretungsbereichen" ("Hochschulen, Bildung, Kunst und Kultur, Sport, Jugend, Schülerinnen und Schüler, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Eltern bzw. Familien, Volksgruppen, Touristik, Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer, Konsumentinnen und Konsumenten sowie Umweltschutz") wurden auf 14 reduziert (ein Mitglied pro "Vertretungsbereich") und nun von der Bundesregierung ausgewählt
  6. Für diese Vertretungsbereiche sind wie bisher Dreiervorschläge von repräsentativen Organisationen oder Einrichtungen einzuholen - allerdings haben diese Organisationen/Einrichtungen nunmehr auch ihre Repräsentativität darzulegen ("durch Darstellung des Wirkungsbereichs und der für den betreffenden Bereich bzw. die betreffende Gruppe relevanten Aktivitäten"). Die eingelangten Vorschläge sind zu veröffentlichen und die von der Bundesregierung vorgenommene Auswahl ist zu begründen. Für den Fall, dass mehrere Vorschläge eingebracht wurden, enthält § 28 Abs. 8 ORF-G auch nähere Regeln für die Auswahl. Zudem ist (neu) auch § 30f ORF-Gesetz zu berücksichtigen, wonach "auf eine ausgewogene Vertretung beider Geschlechter Bedacht zu nehmen" ist (da merkt man übrigens, dass § 30f ORF-Gesetz schon 15 Jahre alt, als die "zwei oder mehr Geschlechter"-Debatte noch nicht in der Gesetzgebung angekommen war). Auch die Begründung für die Auswahl dieser Publikumsratsmitglieder ist zu veröffentlichen. 
  7. Die Funktionsperiode der aktuell noch bestehenden Gremien wurde per Gesetz verkürzt: sie endet am 16. Juni 2025. Am Tag danach beginnt die Funktionsperiode für die neu bestellten Gremien ("unbeschadet einer Bestellung oder Konstituierung vor diesem Datum").

Neubestellung
Vor diesem Hintergrund war nach der Kundmachung der Novelle rasch zu handeln:


Stiftungsrat

Von der Bundesregierung ausgewählte Mitglieder des Stiftungsrates

Die von der Bundesregierung ausgewählten sechs Mitglieder des Stiftungsrates (drei Männer und drei Frauen, also ganz konform mit § 30f ORF-G) sind

In der veröffentlichten Begründung für die Auswahl erfolgt keine ausdrückliche Zuordnung dieser sechs Mitglieder zu den sechs im Gesetz genannten Bereichen, vielmehr werden in sehr allgemeiner Form die Erfahrungen/Qualifikationen dargestellt. 

  • Demnach dürfte der Bereich "Betriebswirtschaft"  ganz gut abgedeckt sein, denn neben Leonhard Dobusch (Univ.-Prof. für Betriebswirtschaft) wird auch Astrid Salmhofer "erhebliche betriebswirtschaftliche Kompetenz" und Ruth Strondl "betriebswirtschaftliches Know-How" attestiert. "Controlling" als solches wird keiner der ausgewählten Personen zugeordnet (das kann man aber wohl unter den betriebswirtschaftlichen Hut bringen).
  • "Medienwirtschaft" dürfte durch Philip Ginthör (war bei Bertelsmann, Columbia und Sony) repräsentiert werden, ein wenig vielleicht auch durch Gregor Schütze (er war immerhin ein Jahr lang ATV-Geschäftsführer). 
  • Dafür ist der Bereich "Kommunikation" wieder stark vertreten - durch den Kommunikationsberater Schütze, die "Chief Communications Officer" der Wiener Stadtwerke Astrid Salmhofer und die Public Affairs-Leiterin des Kunsthistorischen Museums, Ruth Strondl. 
  • "Technologie und Innovation" dürfte das Ticket für die Unternehmensberaterin Christina Wilfinger gewesen sein, die früher bei SAP und Microsoft war; dass sie derzeit auch Aufsichtsrätin bei der Raiffeisen Holding Niederösterreich-Wien ist, macht die Sache insofern interessant, als diese Holding sich - laut Website - "aktiv im Medienbereich" engagiert, vom Kurier über die gemeinsame ORF/Raiffeisen-Tochter ORS oder Agrarverlag bis zu leadersnet.at. 
  • Und "Rundfunk-, Urheber- und Medienrecht" schließlich kann wohl auch vom Betriebswirtschafts-Professor Dobusch abgedeckt werden (er hat auch ein Jus-Studium absolviert und in seiner netzpolitischen Arbeit sowie in den Gremien des ZDF entsprechende einschlägige Erfahrung gesammelt), ebenso von Philip Ginthör (seine juristische Dissertation hat ein wenig auch mit Technologie zu tun, ist aber eher philosophisch ausgerichtet und trägt den schönen Titel: "Freiheit und Verantwortung im Lichte virtueller Sittlichkeit"; laut dem darin dargestellten Ausbildungsgang hat er aber auch den "Kurs zum Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht" absolviert); schließlich hat auch der Kommunikationsberater Gregor Schütze einen juristischen Abschluss, aber nicht einschlägig gearbeitet.

Kriterien eingehalten
Zusammenfassend kann man also sagen, dass bei der Auswahl der von der Bundesregierung nach § 20 Abs. 1 Z 3 ORF-Gesetz zu bestellenden Stiftungsratsmitglieder die vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriterien jedenfalls im Ergebnis beachtet wurden. Ob mit diesen Bestellungen der Stiftungsrat auch, wie es das Gesetz verlangt, "unter Berücksichtigung des Bedarfs fachlich ausgewogen zusammengesetzt" ist, lässt sich von außen schwer beurteilen, und man wird der Bundesregierung hier ein großzügiges Ermessen einräumen müssen - dessen ungeachtet bin ich persönlich nicht ganz überzeugt, dass es allein unter den von der Bundesregierung ausgewählten sechs Personen drei PR-Menschen (Kommunikationsberater, Public Affairs-Leiterin, Chief Communications Officer) braucht.

Unklar ist allerdings, wie die Auswahl unter allen eingelangten Bewerbungen erfolgt ist. Die veröffentlichte Begründung bezieht sich nur auf die schließlich ausgewählten Personen und enthält keine Informationen darüber, wer sich sonst noch beworben hat und welche Qualifikationen diese Personen - auch im Vergleich zu den schließlich ausgewählten - aufzuweisen hatten. Das ist meines Erachtens der klare Schwachpunkt dieser Bestellung: der Eindruck, dass es keine gesamthafte Auswahl unter allen eingelangten Interessensbekundungen gegeben hat, sondern eine parteipolitisch zuordenbare Vorauswahl, um der im Regierungsprogramm ausdrücklich vereinbarten Aufteilung (3 Bundeskanzler [also ÖVP], 2 Vizekanzler [also SPÖ], 1 ranghöchstes Regierungsmitglied der NEOS) Rechnung zu tragen.

(Regierungsprogramm 2025 - 2029, S. 234)

Von den politischen Parteien vorgeschlagene Stiftungsratsmitglieder

Die "Parteienvertreter im Stiftungsrat" werden formal ebenso von der Bundesregierung bestellt, allerdings nicht von ihr ausgewählt; sie sind nach § 20 Abs. 1 Z 1 ORF-G "unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses der politischen Parteien im Nationalrat unter Bedachtnahme auf deren Vorschläge" zu bestellen. Auch diese Bestellung ist mit dem Ministerratsbeschluss am 13. Mai 2025 erfolgt, bestellt wurden: 
  • DI.in Dr.in Hildegard AICHBERGER (Die Grünen)
  • MMag Dr. Christoph URTZ, LL.M., LL.M. (FPÖ)
  • Ing. Peter WESTENTHALER (FPÖ)
  • Dr. Markus BOESCH (NEOS)
  • Dr. Ewald ASCHAUER (ÖVP)
  • Heinz LEDERER (SPÖ)

Bestellungspflicht?
In Zusammenhang mit diesen Mitgliedern wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bundesregierung die von den Parteien vorgeschlagenen Personen jedenfalls bestellen muss. Der Gesellschaftsrechtler Martin Schauer meinte im Standard, die Bundesregierung habe nicht die Pflicht, die vorgeschlagenen Personen zu bestellen und sie dürfe nur nur solche Personen für den Stiftungsrat auswählen, die für eine professionelle Aufsichtstätigkeit zum Wohl des Unternehmens geeignet sind. Peter Westenthaler zählt für Martin Schauer offenkundig nicht zu diesen Personen (seine Auffassung wird von anderen renommierten Gesellschaftsrechtler*innen geteilt), er begründet dies im Wesentlichen damit, dass Westenthaler in  der Vergangenheit "fortgesetzt durch öffentliche Angriffe auf das Unternehmen hervorgetreten" ist, "häufig artikuliert bei einem privaten Sender, der zum ORF in einem Wettbewerbsverhältnis steht."

Der ORF ist keine Aktiengesellschaft
Meines Erachtens ist das Problem etwas differenzierter anzugehen. Zunächst ist festzuhalten, dass der Stiftungsrat zwar in vielerlei Hinsicht dem Aufsichtsrat bei Aktiengesellschaften nachgebildet ist. Der ORF ist aber gerade keine Aktiengesellschaft, sondern eine Stiftung öffentlichen Rechts, die einen besonderen öffentlich-rechtlichen Auftrag wahrzunehmen hat. Die Bundesregierung ist auch nicht Eigentümerin oder Eigentümervertreterin, sondern hat nur die ihr vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang zugewiesenen Befugnisse bzw. Pflichten - und der Gesetzgeber hat es für zweckmäßig erachtet, dass auch Vertreter*innen politischer Parteien im Stiftungsrat vertreten sind (was laut VfGH verfassungskonform ist). 

Keine Stilkritik durch die Bundesregierung
Es gehört zur politischen Auseinandersetzung, dass die Parteien auch über die Aufgaben und die Ausrichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterschiedliche Ansichten vertreten. Die Bundesregierung darf daher die Bestellung eines von einer Partei vorgeschlagenen Vertreters nicht deshalb verweigern, weil er zB die Auffassung vertritt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk solle verkleinert oder auch abgeschafft werden. Meines Erachtens kann man daher auch Stil und Inhalt der öffentlichen Äußerungen einer von einer Partei vorgeschlagenen Person nicht als Kriterium dafür heranziehen, diese Person nicht zum Stiftungsratsmitglied zu bestellen. Insofern muss man bei der Übernahme gesellschaftsrechtlicher Grundsätze zurückhaltend sein und den besonderen Charakter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Auge behalten: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein Rundfunk der Gesellschaft, und zu dieser Gesellschaft gehören auch Personen, die gerade diesen Rundfunk kritisch sehen oder ablehnen. Auch diese Personen sollen. so will es der Gesetzgeber, vermittelt über die auch diese Positionen vertretenden Parteien in den Gremien repräsentiert sein.

Gesetzliche Eignungskriterien
Voraussetzung für die Bestellung zum Stiftungsratsmitglied (für alle Mitglieder außer jene, die vom Zentralbetriebsrat bestellt werden) ist, dass die Person die "persönliche und fachliche Eignung" aufweist, und zwar entweder "durch eine entsprechende Vorbildung" oder durch "einschlägige Berufserfahrung in den vom Stiftungsrat zu besorgenden Angelegenheiten" (§ 20 Abs. 1a Z 1 ORF-G). Weiters muss diese Person "über umfassende Kenntnisse des österreichischen und internationalen Medienmarktes verfügen" oder "sich auf Grund ihrer bisherigen Tätigkeit im Bereich der Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst oder Bildung hohes Ansehen erworben haben" (§ 20 Abs. 1a Z 2 ORF-G).

Die Bundesregierung darf eine Person, die über diese Voraussetzungen nicht verfügt, nicht zum Mitglied des Stiftungsrates bestellen. Ich will nicht beurteilen (dazu fehlen mir auch die dafür notwendigen Unterlagen), ob alle von den Parteien vorgeschlagenen Personen diese Kriterien erfüllen. In der Praxis wurden diese Kriterien jedenfalls immer sehr weit ausgelegt, und ich kann mir schon vorstellen, dass man den Abschluss einer EDV-HTL als "entsprechende Vorbildung" ansieht und dass man als Verantwortlicher für die Kommunikation einer politischen Partei "umfassende Kenntnisse" des Medienmarktes aufbauen kann. 

Überprüfung des Bestellungsakts?
Die weite Auslegung dieser Kriterien ist meines Erachtens durchaus vertretbar, zumal man damit in der Regel ein anderes - und zwar ein wirklich heikles - Problem umgehen kann: Was würde passieren, wenn die Bundesregierung die Bestellung einer von einer Partei vorgeschlagenen Person verweigert? Das Bestellungsverfahren ist ein Regierungsakt, der nicht bescheidmäßig erfolgt. Eine unmittelbare rechtliche Überprüfung der Entscheidung der Bundesregierung ist daher (anders als zB bei der Bestellung der Mitglieder der Volksgruppenbeiräte) nicht möglich. 

Ein rechtswidriges Vorgehen der Bundesregierung bei der Bestellung von Gremienmitgliedern des ORF könnte daher wohl nur inzident erfolgen, also im Zusammenhang mit der Prüfung von Gremienbeschlüssen, die im Beisein der rechtswidrig bestellten (bzw. in Abwesenheit der rechtswidrig nicht bestellten) Mitglieder erfolgt sind. Ob in so einem Fall jegliche Rechtswidrigkeit oder nur eine besonders qualifizierte Rechtswidrigkeit im Bestellungsvorgang zu einer Anfechtbarkeit oder gar Nichtigkeit von Beschlüssen führt, und ob dies vor den Zivilgerichten oder im Aufsichtsweg über die KommAustria und das Bundesverwaltungsgericht (bis zum VfGH und VwGH) auszutragen wäre: das alles ist nicht ausdrücklich geregelt (wahrscheinlich wird man im Bedarfsfall diesbezüglich tatsächlich gesellschaftsrechtliche Regelungen und die einschlägige Rechtsprechung sinngemäß heranziehen müssen). 

Jedenfalls ist nachvollziehbar, dass die Bundesregierung es lieber vermeiden möchte, sich diesen Fragen zu stellen und daher auch Bestellungen von Personen durchwinkt, bei denen man vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennt, dass die Eignungskriterien des § 20 Abs. 1a ORF-G erfüllt werden. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die von den Ländern und vom Publikumsrat zu bestellenden Stiftungsratsmitglieder. 

Ausschlusskriterien
Nicht zum Mitglied des Stiftungsrates bestellt werden dürfen Personen, auf die einer der in § 20 Abs. 3 ORF-G normierten Ausschlussgründe zutrifft. Im Wesentlichen geht es dabei um bestimmte politische oder politiknahe Funktionen und um den Ausschluss eines Konkurrenzverhältnisses. In der Praxis, so auch im Ministerratsbeschluss vom 13. Mai 2025, begnügt man sich dabei mit der Vorlage einer persönlichen Erklärung, dass keine Ausschließungsgründe im Sinne von § 20 Abs. 3 ORF-G vorliegen. 

Sonstige Voraussetzungen?
Weitere Voraussetzungen für die Mitgliedschaft im Stiftungsrat bestehen für die von den Parteien vorgeschlagenen Mitglieder nicht. So sind etwa auch nicht getilgte Verurteilungen, aufgrund derer man nach der Gewerbeordnung von der Ausübung eines Gewerbes ausgeschlossen ist, kein Hindernis für eine Bestellung als Mitglied des Stiftungsrates. Wollte man diesbezüglich "nachschärfen", wäre eine Gesetzesänderung erforderlich. Zwar sieht auch das Aktiengesetz keine weiteren Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder vor  - aber hier ist wieder die Besonderheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu berücksichtigen: bei den Anteilseignern einer Aktiengesellschaft kann man in aller Regel davon ausgehen, dass sie rational handelnde Teilnehmer*innen am Wirtschaftsleben sind; sie werden daher auch die von ihnen zu bestellenden Aufsichtsratsmitglieder sorgfältig auswählen und dabei das Ziel verfolgen, dass diese durch qualifizierte Aufsichtstätigkeit zur Sicherung des gedeihlichen Wirkens der Gesellschaft beitragen. 

Diese Annahmen lassen sich allerdings nicht so einfach auf die Vorschläge politischer Parteien für die Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks übertragen. Für einzelne politische Parteien mag es durchaus politisch rational sein, weniger auf die Seriosität und fachliche Qualifikation eines potentiellen Stiftungsratsmitglieds zu schauen, sondern auf dessen politische Attraktivität oder Kampagnefähigkeit. 

Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus denkbar, dass sich der Gesetzgeber darauf verständigt, weitere Mindestanforderungen an Stiftungsratsmitglieder, egal von wem sie vorgeschlagen oder bestellt werden, festzulegen. 

Ausschluss von Mitgliedern?
Schließlich wäre es meines Erachtens auch geboten, ausdrückliche Regelungen für die Abberufung oder den Ausschluss von Stiftungsratsmitgliedern - etwa wegen neu auftretender (oder neu zutage tretender) Unvereinbarkeiten - festzulegen. Auch dafür enthält nämlich das ORF-Gesetz derzeit keine Regelungen, und es ist keineswegs gesichert, dass eine Übertragung gesellschaftsrechtlicher Wertungen (insbesondere aus dem Aktiengesetz), wie sie offenbar Kalss und Schima vorschwebt, ohne Weiteres möglich ist. 

Thursday, May 08, 2025

Vom Sideletter zum Bestandteil des Hauptvertrags: wie die Bundesregierung über die von ihr vorzuschlagenden VfGH-Mitglieder entscheiden will

Heute, 8. Mai 2025, ist der letzte Tag, an dem man sich noch für die am 9. April 2025 vom Bundeskanzler ausgeschriebene Funktion eines Mitglieds des Verfassungsgerichtshofes bewerben kann (eine weitere Ausschreibung ist bereits abgelaufen, eine Ernennung ist noch nicht erfolgt). 

Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs werden vom Bundespräsidenten ernannt, hinsichtlich der beiden aktuell zu besetzenden Mitglieder auf Vorschlag der Bundesregierung. Beschlüsse der Bundesregierung haben einstimmig zu erfolgen (§ 69 Abs. 3 B-VG). 

Nun gab es in den vergangenen beiden Legislaturperioden einige Aufregung über (zunächst) geheime Absprachen, wie die von der Bundesregierung (oder auf deren Vorschlag) zu besetzenden Funktionen auf die jeweiligen Parteien "aufgeteilt" werden. Diese Absprachen waren in Sidelettern zur jeweiligen Koalitionsvereinbarung festgehalten worden und sollten eigentlich nicht offengelegt werden. 

Aber auch vor dem Bekanntwerden der konkreten Sideletter war bekannt, dass (ua) die Bestellung von Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofes jeweils auf (den Regierungsparteien zugeordneten) "Tickets" erfolgte; meist war auch vor der Bestellung in Fachkreisen schon bekannt, ob eine Neubestellung gerade auf einem schwarzen oder roten, später auch auf einem blauen und noch später auch auf einem grünen Ticket erfolgen sollte (was nichts über Parteizugehörigkeit oder Qualifikation der bestellten Mitglieder aussagt, sondern nur, welche politische Partei letztlich über die Bestellung bestimmte). 

Diese politisch geprägte Auswahl ist beim Verfassungsgerichtshof kein Fehler, sondern Folge des von der Bundesverfassung vorgesehenen Systems, in dem gewählte bzw. indirekt demokratisch legitimierte Organe (Nationalrat, Bundesrat, Bundesregierung) die Auswahl der Mitglieder vornehmen - wie man heute so schön sagt: "it's not a bug, but a feature".

[Ob die aktuelle Form der Auswahl, etwa im Hinblick auf die Verteilung der Vorschlagsrechte auf Bundesregierung, National- und Bundesrat, in jeder Hinsicht optimal ist - darüber könnte man lange diskutieren und verschiedene Optionen erörtern, gerade auch im Hinblick auf eine mögliche Verbesserung der Resilienz in schwieriger werdenden Zeiten. Aber wir leben mit diesem System, und wir haben bisher auch nicht schlecht damit gelebt, und das stärkste Argument dafür ist sicher - sehr verknappt - auch, dass damit gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit, die über viele politisch sensible Themen zu entscheiden hat, auf recht direkte Weise auf demokratisch legitimierte Organe zurückgeführt werden kann].

Die aktuelle Koalition hat die Sideletter-Absprachen aus dem (halb) Geheimen ins Offene gebracht. Das letzte Kapitel des Regierungsprogramms ist mit "Transparente Personalauswahl und -besetzung" überschrieben und hält nach drei allgemeinen Absätzen (in denen u.a. angekündigt wird, dass "stets bestqualifizierte Personen" ausgewählt werden) penibel fest, für welche Funktionen jeweils welchem Regierungsmitglied das "Vorschlagsrecht" zukommen soll. 

Dieses "Vorschlagsrecht" kann verfassungskonform nur so verstanden werden, dass der jeweilige (einstimmig zu fassende) Beschluss der Bundesregierung, mit dem über die jeweilige Personalfrage entschieden wird, auf Antrag des in diesem Kapitel jeweils genannten Regierungsmitglieds zustandekommen soll. Politisch haben sich die Regierungsparteien also dazu verpflichtet, derartige Beschlüsse nur auf Antrag des jeweils genannten Regierungsmitglieds zu treffen.

Diese Vereinbarung im Regierungsprogramm enthebt die anderen Regierungsmitglieder freilich nicht ihrer Pflicht, an der Beschlussfassung teilzunehmen und diese auch mitzutragen. Dies setzt voraus, dass die anderen Mitglieder der Bundesregierung über alle eingelangten Bewerbungen informiert sind (oder sich zumindest informieren können) und dass sie sich - so sie dies für erforderlich oder zweckmäßig erachten - auch selbst ein Bild über die Eignung der Bewerber:innen verschaffen können. Kommt ein Regierungsmitglied zum Ergebnis, dass eine Person, die vom laut Regierungsprogramm "zuständigen" Regierungsmitglied vorgeschlagen wird, nicht geeignet - weil nicht bestqualifiziert - ist, dann darf es diesem Vorschlag auch nicht zustimmen. Zuständiges Kollegialorgan ist die Bundesregierung, nicht das laut Regierungsprogramm "vorschlagsberechtigte" Regierungsmitglied.

Parteiinternes Hearing?

Das heißt im Übrigen auch, dass die Beschlussfassung nicht durch die jeweilige Partei erfolgt, auch wenn das "Vorschlagsrecht" für ein bestimmtes Regierungsmitglied de facto als Vorschlagsrecht einer Regierungspartei zu verstehen ist. Wenn man - wie das Bundeskanzleramt derzeit - die Ansicht vertritt, dass die Namen der Bewerber:innen nicht offengelegt werden dürfen (meines Erachtens könnte man dies auch anders sehen, es geht immerhin um die - nicht ehrenrührige - Bewerbung um ein hohes öffentliches Amt), dann dürfen die Bewerber:innen auch nur den Mitgliedern der Bundesregierung (und den mit der Vorbereitung der Beschlüsse der Bundesregierung befassten Mitarbeiter:innen in den Ministerien) bekannt gegeben werden - aber nicht auch Mitgliedern der parlamentarischen Klubs oder Parteiangestellten bzw. Parteimitgliedern. Ein "parteiinternes Hearing", wie es laut Presse von den NEOS beabsichtigt sein soll, wäre daher jedenfalls dann unzulässig, wenn die Teilnehmer an diesem Hearing über die von den NEOS gestellten Regierungsmitglieder (und den Staatssekretär) sowie deren ministerielle Mitarbeiter:innen hinausgehen würde.

Sind "Vorschlagsrechte" zulässig?

Wenn man das Regierungsprogramm im oben dargestellten Sinn versteht - dass der Beschluss der Bundesregierung auf Antrag des im Regierungsprogramm jeweils genannten Regierungsmitglieds zustandekommen soll -, ist die Aufteilung der "Vorschlagsrechte"  für die VfGH-Mitglieder meines Erachtens nicht zu beanstanden (ich beschränke mich hier ausdrücklich auf die Vorschlagsrechte für die VfGH-Mitglieder, bei anderen Funktionen mag das anders zu beurteilen sein). Ich habe dazu vor drei Jahren schon zu den Sidelettern näher ausgeführt, weshalb ich das bei den VfGH-Mitgliedern für zumindest grundsätzlich - wenn nicht bereits Namen festgeschrieben werden und damit das Auswahlverfahren vorweggenommen wird - nicht problematisch erachte (dort kann man das etwas ausführlicher nachlesen). 

Hier möchte ich daher nur ganz knapp zusammenfassen: für ein VfGH-Mitglied gibt es nicht nur genau eine einzige bestgeeignete Person, sondern es spielen verschiedene Aspekte eine Rolle - das kann ein spezifisches Fachgebiet sein, das man am VfGH (vielleicht: wieder oder stärker) vertreten sehen will, etwa Steuerrecht oder Sozialversicherungsrecht, eine bestimmte berufliche "Herkunft" (bemerkenswert ist ja derzeit etwa, dass der VfGH das einzige Gericht Österreichs ist, in dem keine Richter:innen vertreten sind), oder auch Fragen der Repräsentativität, die man zB regional oder geschlechterbezogen sehen kann, usw.  

Vor diesem Hintergrund ist ein "Vorschlags-" oder "Nominierungsrecht" für ein bestimmtes Regierungsmitglied letztlich bloß die Festlegung einer Vorgangsweise, wie es die Bundesregierung bewerkstelligen will, sich auf eine ausgezeichnet geeignete Person für die jeweilige Funktion zu einigen und die - im weiteren Sinne eben politische - Auswahl vorzunehmen. 

Thursday, April 03, 2025

EuGH-Generalanwalt: Sendestopp für Klubrádió verletzte Unionsrecht

Vor mehr als vier Jahren musste Klubrádió, der letzte relevante unabhängige und auch regierungskritische Radiosender in Ungarn, seinen Sendebetrieb auf UKW einstellen. Der Orbán-treue Medienrat stützte sich dabei auf zwei kleinere Verstöße gegen Meldepflichten und als unklar oder widersprüchlich angesehene Angaben im Verlängerungsantrag, die nationalen Gerichte bestätigten dieses bürokratische Vorgehen (siehe die Pressemitteilung des Medienrats vom 9. Februar 2021). 

Für unabhängige Beobachter war allerdings klar, dass es hier um die Einschränkung der Medienfreiheit ging - detailliert auch nachzulesen im "Memorandum on freedom of expression and media freedom in Hungary" der Menschenrechtskommissarin des Europarats, das kurz nach dem (UKW-)Sendestopp von Klubrádió veröffentlicht wurde und maßgeblich auch diese Ereignisse kritisch bewertet. Auch der Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission für 2021 hielt im Ungarn-Kapitel fest, dass der Medienpluralismus "weiterhin gefährdet" ist und Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Wirksamkeit der Medienbehörde bestehen, "auch angesichts der Entscheidungen des Medienrats, die dazu führten, dass der unabhängige Radiosender Klubrádió abgeschaltet wurde." 

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission etwas Ungewöhnliches getan: sie hat drei Entscheidungen des ungarischen Medienrates, die zum Sendestopp für Klubrádió führten, zum Anlass genommen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten, und zwar wegen der Verletzung von Regeln über die Frequenzvergabe in den Rechtsvorschriften für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste. 

Das war ungewöhnlich in zweierlei Hinsicht: erstens, weil in der Regel nicht einzelne behördliche oder gerichtliche Entscheidungen zum Anlass für ein Vertragsverletzungsverfahren genommen werden (sondern Rechtsvorschriften oder zumindest eine länger währende behördliche oder gerichtliche Entscheidungspraxis), und zweitens, weil hier eher technisch ausgerichtete Normen über die Frequenzvergabe genutzt wurden, um der Sache nach ein medienpolitisches Fehlverhalten anzugreifen.

Heute hat Generalanwalt Rantos in diesem, mittlerweile beim EuGH anhängigen Verfahren (C-92/23 Kommission / Ungarn) seine Schlussanträge erstattet (siehe auch die Pressemitteilung des EuGH dazu). Er kommt zum Ergebnis, dass Ungarn durch die Weigerung. die Lizenz von Klubrádió zu verlängern und durch den Ausschluss dieses Senders von einer weiteren Ausschreibung gegen Unionsrecht verstoßen hat. Es bleibt natürlich abzuwarten, ob sich der EuGH diesen Schlussanträgen anschließen wird, aber vielleicht lohnt sich ein erster Blick auf diesen Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts.

1. Zur Anwendbarkeit des Unionsrechts 

Ungarn hat vorgebracht, dass der Rechtsrahmen für elektronische Kommunikation nicht auf die Klubrádió-Entscheidungen anwendbar sei, weil es um die Erbringung von Mediendiensten geht, die ausschließlich durch das nationale Mediengesetz geregelt sei. Die Nutzung der Frequenzen sei eine gesonderte Verwaltungsentscheidung. 

Der Generalanwalt votiert das knapp und deutlich ab: auch wenn es bei der Lizenzvergabe (Vergabe des Rechts zur Erbringung von Mediendiensten) um Inhalte geht, so schließt dieses Recht auch das Recht auf Nutzung von Funkfrequenzen ein. 

Der neue europäische Kodex für elektronische Kommunikation (EKEK) ist für den vorliegenden Fall aus zeitlichen Gründen noch nicht relevant. Der Generalanwalt hält aber fest (Rn. 37), dass die Verpflichtungen aus Art. 45 Abs. 1 des EKEK den in Art. 9 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie festgelegten Verpflichtungen gleichwertig sind, "da beide Bestimmungen u. a. die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsehen, zu gewährleisten, dass die Zuteilung von Funkfrequenzen für elektronische Kommunikationsdienste auf transparenten und angemessenen Kriterien beruht." 

Daher das erste Fazit: auch für die Vergabe von Hörfunk oder Fernseh-Zulassungen, die mit der Nutzung von Funkfrequenzen verbunden sind, sind die Bestimmungen (nun) des EKEK relevant, wonach die "Gewährung von individuellen Nutzungsrechten für Funkfrequenzen ... auf objektiven, transparenten, wettbewerbsfördernden, nichtdiskriminierenden und angemessenen Kriterien beruhen" muss bzw "die individuellen Rechte zur Nutzung von Funkfrequenzen nach offenen, objektiven, transparenten, nichtdiskriminierenden und verhältnismäßigen Verfahren" gewährt werden.

2. Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die verweigerte Verlängerung der Lizenz

Generalanwalt Rantos verweist im Hinblick auf die Ablehnung der Verlängerung der Klubrádió-Lizenz zunächst darauf, dass die für die erstmalige Frequenzvergabe maßgeblichen Kriterien auch bei jeder Verlängerung zu beachten sind. Eine Verlängerung muss zwar nicht zwingend vorgesehen sein oder könnte auch ab einem bestimmten Zeitpunkt an neue Regeln gebunden werden, dies war aber bei Klubrádió nicht der Fall. 

Die Klubrádió vorgeworfenen wiederholten Verstöße (der Sender hatte zweimal gegen die Verpflichtung verstoßen, den monatlichen Bericht über die Sendequoten abzuliefern und die dafür erhaltenen Strafen von jeweils rund 75 € nicht bekämpft), sind nach Ansicht des Generalanwalts im vorliegenden Fall nicht so schwerwiegend, dass der Ausschluss der Verlängerung der Lizenz damit zu begründen sei (Rn. 52). 

Die Bestimmung an sich, wonach eine Verlängerung nach wiederholten Verstößen ausgeschlossen ist, verstößt nach Ansicht des Generalanwalts aber nicht gegen die von der Kommission geltend gemachten Bestimmungen der RahmenRL, GenehmigungsRL oder WettbewerbsRL

3. Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Ungültigerklärung der Bewerbung bei einer weiteren Ausschreibung

Nachdem die Lizenzverlängerung abgelehnt worden war, beteiligte sich Klubrádió an einer Ausschreibung. Diese Bewerbung wurde vom Medienrat allerdings für ungültig erklärt hatte, weil geringfügige Fehler in der Antragstellung unterlaufen waren (eine Unklarheit in einer Sendungsbeschreibung, und ein fehlerhafter Eintrag in einem Formular, wo die Dauer einer Sendung mit 50 Minuten angegeben war, während diese laut Programmplan 45 Minuten dauern sollte). Für den Generalanwalt ist es offensichtlich, "dass diese Ungenauigkeiten so geringfügig sind, dass es unverhältnismäßig erscheint, sie als Grund für die Ungültigkeit des Angebots heranzuziehen."

Schließlich stützte sich die Ungültigerklärung auch noch darauf, dass Klubrádió bei der Bewerbung ein negatives Eigenkapital aufgewiesen habe. Das wurde aber nicht bei der Beurteilung der finanziellen Leistungsfähigkeit berücksichtigt, sondern weil das Angebot damit nicht geeignet sei, zur Schaffung eines stabilen Rundfunkmarkts beizutragen. 

Der Generalanwalt sieht darin einen Verstoß gegen die Transparenzpflicht, weil dieser Aspekt nicht zu den in der Ausschreibung genannten Kriterien für die finanzielle Leistungsfähigkeit genannt worden war.  

4. Frist für die Entscheidung über die Frequenznutzung

Eine weitere Verletzung des Unionsrechts im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Lizenzverlängerung betraf die Frist: nach Art 5 Abs 3 GenehmigungsRL muss über den Antrag auf Gewährung von Nutzungsrechten an Funkfrequenzen innerhalb von sechs Wochen entschieden werden. Die ungarische Behörde hatte dafür aber mehr als zehn Monate gebraucht. 

Bei wettbewerbsorientierten oder vergleichenden Auswahlverfahren (also auch bei den im Rundfunkbereich häufig anzutreffenden "Beauty Contests") kann die Frist für die Vergabe von Funkfrequenzen nach Art 7 Abs 4 der GenehmigungsRL um höchstens acht Monate verlängert werden; dies war beim zweiten Verfahren der Fall, sodass die Kommission mit dem Hinweis auf die Frist diesbezüglich nicht erfolgreich war.

5. Ausschluss von einer befristeten Lizenz

Ein Nebenstrang der Kommissionsargumentation betrifft die dritte Entscheidung des Medienrats, nämlich Klubrádió auch von einer befristet - bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Ausschreibung - zu vergebenden Lizenz auszuschließen. Hier sieht der Generalanwalt angesichts des weiten Ermessens für die bei derartigen provisorischen Zulassungen aufzuerlegenden Bedingungen keinen Verstoß Ungarns gegen Unionsrecht.

6. Art. 11 GRC

Die Kommission machte auch geltend, dass die Entscheidungen des Medienrates "Klubrádió daran gehindert hätten, seine Programme über eine Funkfrequenz auszustrahlen, was die schwerste denkbare Verletzung der Medienfreiheit darstelle und der Unterbindung der Tätigkeit eines Mediendiensteanbieters durch die nationalen Behörden gleichkomme." 

Nachdem der Generalanwalt die Bedeutung des Art 11 Abs. 2 GRC betont ("eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft"), relativiert er den vorliegenden Fall ein wenig: es gehe hier um ein Verhalten, das "die Rechte eines bestimmten Unternehmens beeinträchtigt", zu prüfen sei aber, ob dadurch die Freiheit und der Pluralismus der Medien in Ungarn beeinträchtigt sei. Diesbezüglich hat nach Ansicht des Generalanwalts die Kommission ihre Beweislast nicht erfüllt (Rn. 101-103): 

Die Kommission, der ... die Beweislast obliegt, stützt sich offenbar auf den Umstand, dass Klubrádió ein unabhängiger und regierungskritischer Radiosender sei. Die Klage beruht jedoch nicht auf einer spezifischen Prüfung des Zusammenhangs zwischen der Tätigkeit von Klubrádió und der allgemeinen Situation der Medien in Ungarn, die Kommission beschränkt sich vielmehr darauf, auf das dem Medienpluralismus gegenüber in besonderem Maße feindlich eingestellte Umfeld in diesem Mitgliedstaat hinzuweisen, das auf die starke Einmischung der ungarischen Regierung im Bereich der Medien zurückzuführen sei, wie dies von mehreren Instanzen innerhalb der Union und des Europarats bestätigt worden sei.

Insoweit trifft es zu, dass die Medienregulierung in Ungarn – und insbesondere das Mediengesetz – in den letzten Jahren oft Kritik seitens mehrerer internationaler Institutionen und Organisationen wegen der Einschränkungen der Medienfreiheit und des Medienpluralismus erfahren hat. Zudem kann und wird in einer Situation, in der die Freiheit und der Pluralismus der Medien auf die Probe gestellt werden, der Ausschluss eines Mediendiensteanbieters, der das politische Leben des Landes aufmerksam verfolgt und der politischen Macht gegenüber besonders kritisch eingestellt ist, diese Situation aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verschärfen.

Aber auch wenn bei der Prüfung der streitigen Maßnahmen offensichtlich die besonderen Umstände und der spezielle Kontext ihrer Ergreifung nicht außer Acht gelassen werden können und es daher nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Maßnahmen tatsächlich die Freiheit und den Pluralismus der Medien beeinträchtigt haben, hat die Kommission meiner Ansicht nach unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht nachgewiesen, dass eine solche Auswirkung vorliegt, und ist somit der ihr obliegenden Beweislast nicht nachgekommen. Abgesehen von einer allgemeinen Beschreibung der Situation auf dem Medienmarkt in Ungarn hat sie nämlich keine Umstände vorgetragen, die die Auswirkungen der streitigen Maßnahmen auf diese Situation belegen.

Für den Fall, dass der EuGH zum Ergebnis kommen sollte, dass die festgestellten Verstöße die Freiheit und den Pluralismus der Medien einschränken, führt der Generalanwalt aber auch noch aus, dass er bezweifle, "dass die durch die streitigen Entscheidungen auferlegten Einschränkungen insoweit notwendig und verhältnismäßig sind." 

7. Fazit 

Sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen (was ich zumindest im Kern erwarte), ist zunächst einmal klagestellt, dass auch für die Vergabe und Verlängerung von Rundfunklizenzen, die mit einer Frequenznutzung verbunden sind, die Bestimmungen (nun) des EKEK zu beachten sind, was insbesondere transparente Verfahren und verhältnismäßige Kriterien für die Entscheidung sowie die Einhaltung der dort festgelegten Fristen verlangt. 

Das bedeutet, dass bei jeder Ausschreibung die in der Auswahl anzuwendenden Kriterien möglichst klar anzugeben sind (sofern dies nicht bereits durch das Gesetz erfolgt ist), und dass bei jeder im Zug der Vergabe oder Verlängerung zu treffenden Entscheidung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. 

Klar ist jedenfalls auch, dass Art. 11 GRC für derartige Vergabeverfahren maßgebend sind (aber das war außerhalb Ungarns wohl auch kaum strittig). Der Generalanwalt stellt aber hohe Anforderungen an die Beweislast für die Kommission, aus einzelnen Verstößen ein gewissermaßen systemisches Versagen zu belegen, also hier: dass nicht nur Detailbestimmungen des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste verletzt wurden, sondern dadurch auch ein Verstoß gegen Art. 11 GRC erfolgt wäre. 

Schließt sich der EuGH auch diesbezüglich dem Generalanwalt an, so werden damit auch die Grenzen eines Vertragsverletzungsverfahrens deutlich, das aufgrund des staatlichen Vorgehens gegen ein einzelnes Medium eingeleitet wird. Für die Bekämpfung systemischen Versagens wäre ein derart spezifisches Vertragsverletzungsverfahren damit kein geeignetes Mittel.

Wednesday, March 26, 2025

EuG: Auch Internetprovider scheitern mit Klage gegen die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien

Die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien bleiben aufrecht - nachdem schon 2022 die Klage eines sanktionierten Unternehmens abgewiesen wurde, scheiterten nun auch drei niederländische Internet Service Provider, die vor dem EuG (unter anderem) geltend machten, dass durch die Sanktionen ihr Grundrecht auf Verbreitung von Informationen verletzt worden wäre. Das EuG hat diese Argumentation verworfen, ob die ISPs nun Rechtsmittel an den EuGH ergreifen, ist noch unklar

Die Vorgeschichte

Der Rat der Europäischen Union hat mit Beschluss (GASP) 2022/351 und Verordnung (EU) 2022/350, jeweils vom 1. März 2022, die im Jahr 2014 nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen gegen Russland erstmals auch auf Medieninhalte ausgeweitet. Auch davor waren schon einzelne Medienunternehmen und Medienpersönlichkeiten von typischen Sanktionen wie Reisebeschränkungen oder Einfrieren von Geldern betroffen. Neu an der Verordnung vom 1. März 2022 war aber, dass Wirtschaftsakteuren ("Betreibern") innerhalb der Union verboten wurde, Medieninhalte bestimmter staatsnaher russischer Medien zu verbreiten, und dass sämtliche Rundfunklizenzen sowie (private) Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen "ausgesetzt" wurden (siehe im Blog dazu vor allem hier). 

Von Anfang an wurde heftig diskutiert (siehe zB hier oder hier), ob damit die Medienfreiheit (Art. 11 GRC: Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit) unzulässig eingeschränkt wurde, insbesondere weil nicht auf einzelne problematische Sendungen oder Inhalte, sondern pauschal auf den Absender (zunächst RT und Sputnik, mittlerweile zahlreiche weitere, siehe hier) abgestellt wurde, und weil unter "Betreibern" auch Internet Service Betreiber zu verstehen waren, die den Zugang zu Websites mit diesen Inhalten bloß ermöglichten . 

Die Sanktionierung wurde gerichtlich zunächst von RT France bekämpft; diese Klage wurde vom EuG im beschleunigten Verfahren behandelt und mit einem in Großer Kammer ergangenen Urteil vom 27. Juli 2022, T-125/22, abgewiesen (siehe dazu hier); das zunächst dagegen erhobene Rechtsmittel wurde nach der Insolvenz von RT France wieder zurückgenommen, zu einer Entscheidung des EuGH ist es daher nicht gekommen.

Gegen die Sanktionen war aber nicht nur RT France als direkt betroffenes Medienunternehmen gerichtlich vorgegangen. Auch drei niederländische Internet Service Provider, unterstützt auch von einer niederländischen Journalistenorganisation, erhoben Nichtigkeitsklage beim EuG. 

Das Urteil des EuG

Nun - nach rund dreijähriger Verfahrensdauer - hat das EuG mit Urteil vom 26. März 2025, T-307/22, A2B Connect u.a. / Rat, auch über diese Klage entschieden. Berichter (Rapporteur) war - wie bereits in der Rechtssache RT France - wieder Roberto Mastroianni.

GASP-Beschlüsse

Das EuG verwirft die Klage zunächst insoweit, als sie sich gegen den Beschluss (GASP) 2022/351 (und einen Folgebeschluss) richtet. Dieser Beschlüsse stellten zwar restriktive Maßnahmen gegen die darin individualisierten Unternehmen dar, nicht aber gegenüber den darin nicht genannten ISPs - das Gericht habe daher keine Jurisdiktion, um über die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse im vorliegenden Verfahren zu entscheiden (Rn. 32).

Verordnungen: Zuständigkeit und Zulässigkeit

Die bekämpften Verordnungen (2022/350 und 2022/879) hingegen wurden auf Grundlage des Art. 215 Abs. 2 AEUV erlassen und unterliegen der vollen Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Unionsgerichte (Rn. 33). 

Da sich die Klage als unbegründet erweist, geht das EuG auf die - vom Rat (mit meines Erachtens  teilweise guten Gründen) bestrittene - Zulässigkeit gar nicht ein, sondern lässt diese offen und behandelt die Sache gleich in merito. 

Kompetenz des Rates zur Erlassung der Verordnungen

Um die in der Klage bestrittene Kompetenz des Rates zur Erlassung der Verordnungen zu prüfen, muss das EuG zunächst doch auf die Kompetenz des Rates zur Erlassung der Beschlüsse im Rahmen der GASP eingehen, die sich auf Art. 29 EUV (Bestimmung des Standpunkts der Union zu bestimmten Fragen) stützen. Nur wenn die Beschlüsse rechtmäßig zustande gekommen sind, können auch die Verordnungen rechtmäßig sein, da die restriktiven Maßnahmen nach Art. 215 Abs. 2 AEUV nur verhängt werden können, wenn dies ein im Rahmen der GASP [rechtmäßig] erlassener Beschluss vorsieht. Diese Kompetenzfrage wird - im Wesentlichen entlang der schon im Urteil RT France vorgezeichneten Argumentation - bejaht. Dabei wird wieder auf die gerade auch von Medienrechtlern gerne vorgebrachten Argumente eingegangen, wonach die Regulierung von Medieninhalten Sache der Mitgliedstaaten sei (siehe etwa hier), die das EuG wenig überraschend nicht beeindrucken: nicht nur dass aus nationalen Zuständigkeiten natürlich in keiner Weise Beschränkungen der Unionszuständigkeiten abgeleitet werden können, die nationalen Maßnahmen verfolgen auch ganz andere Zwecke (Rn. 56f). Auch dass andere Unionszuständigkeiten für die Regulierung von Medien bestehen, ändert an den Kompetenzen im Rahmen der GASP - und daran anknüpfend für die Erlassung restriktiver Maßnahmen nach dem AEUV - nichts: diese schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind komplementär, mit jeweils eigenem Anwendungsbereich und unterschiedlichen Zielrichtungen (Rn. 60). Dass schließlich die Erlassung von Sanktionen auf Unionsebene besser geeignet ist, das Ziel einer einheitlichen Anwendung dieser Sanktionen zu erreichen als ein Handeln auf Ebene der Mitgliedstaaten, ist für das EuG auch klar (Rn. 62). 

Recht auf eine gute Verwaltung

Die Kläger machten auch eine Verletzung des in Art. 41 GRC garantierten Rechts auf eine gute Verwaltung geltend - ein typischerweise eher schwaches Argument, das auch hier vom EuG routiniert abgehandelt wird: eigentlich geht es den klagenden ISPs nur um das Recht auf eine Begründung der getroffenen Entscheidung, und da ist zu bedenken, dass es sich hier nicht um einen Rechtsakt handelt, der individuell an die ISPs gerichtet ist. Vor diesem Hintergrund sieht das EuG die Verordnungen wenig überraschend als ausreichend begründet an (Rn 81). 

Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit

Die spannendste Frage handelt das EuG am Schluss ab: den Eingriff in die nach Art. 11 GRC geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. 

Das EuG betont zunächst, dass die Grundrechte bei allen Handlungen der Union zu beachten sind, einschließlich bei Rechtsakten, durch die Beschlüsse im Rahmen der GASP umgesetzt werden (Rn. 101). Die in Art. 11 GRC - der unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK auszulegen ist (Rn. 106) - garantierten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen , sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (Rn. 104). 

Die ISPs machen eine Verletzung sowohl in ihrem Recht auf Verbreitung von Informationen geltend als auch im Recht ihrer Nutzer auf Erhalt von Informationen. Das EuG zieht zunächst in Zweifel, ob die ISPs überhaupt Grundrechtsträger sein können, die eine Verletzung in ihrem Recht auf Verbreitung von Nachrichten geltend machen können, zumal sie sich darauf stützen, dass die eine neutrale Rolle in der Verbreitung von Inhalten einnehmen. Diese Frage lässt das EuG ausdrücklich offen, da die Klage auch erfolglos bleibt, wenn man die Grundrechtsträgereigenschaft annimmt (Rn. 110). 

Even assuming that internet service providers, such as the applicants, which after all describe themselves as operators providing internet access to individuals or businesses (see paragraph 3 above), may be regarded as holders of an autonomous right to freedom to impart information, despite relying on their neutral role in the broadcasting of content, the applicants’ arguments cannot succeed.

Danach prüft das EuG (unter der Annahme, dass ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt), ob die Eingriffsschranken iSd Art. 52 GRC gewahrt sind:  

"gesetzlich vorgesehen"

Der Eingriff hatte laut EuG eine rechtliche Grundlage in den Verträgen (Art. 29 EUV, Art. 215 AEUV; Rn. 112) und für die ISPs sei vorhersehbar gewesen, dass sie von solchen Sanktionen betroffen sein könnten (Rn. 114), sodass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage gegeben ist (Rn. 115). Bei erster Lektüre lässt mich dieser Begründungsteil ein wenig ratlos zurück, da meines Erachtens die Frage, ob der Eingriff "gesetzlich vorgesehen" war, auch direkt auf die bekämpften Verordnungen abgestellt werden könnte und das vom EGMR entwickelte Kriterium der Vorhersehbarkeit sich eher auf die Frage beziehen würde, ob für die ISPs klar war, ob sie bzw. mit welchen Handlungen sie dem Eingriff unterliegen. Aber auch diese Betrachtungsweise würde wohl keinen Unterschied im Ergebnis machen. 

"den Wesensgehalt achtend"

zur zweiten Voraussetzung, dass der Eingriff den Wesensgehalt des Rechts achten muss, verweist das EuG einerseits recht knapp darauf, dass nur wenige "media outlets" betroffen sind (Rn. 116; mittlerweile ist die Liste auf immerhin 32 angewachsen, aber auch das ist wohl noch eine vergleichsweise geringe Zahl, wenn man sie in Relation zu allen [online] "media outlets" setzt). Andererseits betont das EuG auch, dass die Einschränkungen nur zeitlich beschränkt und reversibel sind (Rn. 117f). Schließlich ist der Umstand, dass das Filtern der betroffenen Inhalte für die ISPs viel Arbeit und hohe Kosten verursacht, im Zusammenhang mit der Beurteilung, ob der Wesensgehalt des Grundrechts verletzt wird, irrelevant ist. Dieses Argument wäre eher im Zusammenhang mit Art. 16 GRC (Unternehmerische Freiheit) relevant, darauf haben sich die ISPs aber nicht gestützt (Rn. 119) - für mich völlig unverständlich, weil das gerade in der Leitentscheidung zu Netzsperren (EuGH 27.3.2014, C‑314/12, UPC Telekabel Wien) ein wesentliches Thema war.

"dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen" 

Die Maßnahmen dienen (u.a.) dem Schutz der Werte der Union und ihrer Sicherheit, waren Teil der Verfolgung dieser Zielsetzungen, konsistent mit diesen und zielten darauf ab, den Kriegszustand und die Verletzungen des Humanitären Völkerrechts zu beenden, was ebenfalls ein Ziel von grundlegendem allgemeinem Interesse ist (Rn. 122).  

Verhältnismäßigkeit 

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit stellt sich die Frage etwas anders als im Fall RT France, da hier die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die ISPs zu prüfen is (Rn. 126). Die Maßnahmen entsprachen der Zielsetzung, maximalen Druck auf die russischen Machthaber auszuüben. Es war auch angemessen für den Rat, ISPs in gleicher Weise wie andere Weiterverbreiter von Inhalten in Betracht zu ziehen (Rn. 129). Dass die sanktionierten Inhalte in in der Union noch zugänglich sind, schadet nicht: Mögliche Schwierigkeiten in der Anwendung der bekämpften Verordnungen können nicht dazu führen, dass die Maßnahmen den anerkannten Zielsetzungen nicht tatsächlich entsprechen würden (Rn. 130): 

The fact, claimed by the applicants, that the restrictive measures at issue are not suited to their purpose, because the website of the Russia Today newspaper can still be accessed everywhere in the European Union, cannot call into question the appropriateness of the broadcasting prohibition at issue. Possible difficulties in applying the contested regulations cannot render those measures inappropriate.

(Zur tatsächlichen Erreichbarkeit sanktionierter Inhalte - in Frankreich und Belgien - siehe übrigens einen aktuellen Befund hier

Das EuG bejaht auch die Notwendigkeit der Maßnahmen im Hinblick auf die ISPs ("intrinsically necessary", Rn. 132); eine Beschränkung auf Rundfunk und On Demand-Abrufdienste wäre nicht ausreichend gewesen (Rn. 133). 

Zur eigentlichen Abwägungsentscheidung betreffend die Verhältnismäßigkeit verweist das EuG auf die Bedeutung des größeren Ziels, Frieden und internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten, die auch  beträchtliche negative Konsequenzen für Unternehmen, die für diese Situation keinerlei Verantwortung tragen, aufwiegt. Die ISPs sind nur hinsichtlich der Verbreitung der Inhalte relativ weniger Unternehmen beschränkt und können ansonsten Zugang zu allen anderen Inhalten herstellen - es liegt daher kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheit, Informationen zu verbreiten, vor (Rn. 134).. 

Zur Verletzung des Rechts der Internet-Nutzer auf Zugang zu Informationen

Die ISPs haben auch auf das Recht ihrer Kunden (Nutzer) hingewiesen, Zugang zu Informationen zu erhalten. Das EuG legt sich hier zunächst gar nicht fest, ob ein solches Recht der Nutzer überhaupt besteht ("Even assuming that those users ... were able to invoke an infringement of a right to freedom of expression and information ..."); selbst wenn es besteht (was meines Erachtens nicht zweifelhaft ist) könne es nämlich von den ISPs nicht geltend gemacht werden. Die ISPs hätten auch nicht dargelegt, aus welchem Grund sie berechtigt wären, sich auf dieses Recht gewissermaßen in Vertretung ihrer Kunden zu stützen (Rn. 138f). 

In diesem Punkt überrascht mich, dass offenbar die ISPs kein substantiiertes Vorbringen erstattet haben, denn aus dem schon zitierten UPC Telekabel Wien-Urteil könnte man doch Hinweise entnehmen, dass ISPs auch Verantwortung für die Grundrechte ihrer Nutzer tragen, zumal es dort ( Rn. 55) heißt, dass ein ISP (dort als Adressat einer Anordnung zu einer Netzsperre) "auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge tragen" muss (dort ging es um die Wahl der Mittel, einer Sperrverfügung nachzukommen, aber es handelt sich doch um eine sehr ähnliche Situation, in der ein ISP nicht aus eigenem Willen, sondern aufgrund behördlicher oder gerichtlicher Entscheidung für seine Kunden den Zugang zu zuvor frei zugänglichen Inhalten unterbinden muss). 

Wie geht es weiter?

Gegen das Urteil des EuG können die ISPs Rechtsmittel an den EuGH erheben. Ob sie das tun werden, ist noch nicht klar, die erste Reaktion der niederländischen Journalistenvereinigung, die eine treibende Kraft hinter der Klage war, klingt eher zurückhaltend. 

Bis zu einem allfälligen EuGH-Urteil ist aber klargestellt, dass die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien Bestand haben und auch von Internet Service Betreibern einzuhalten sind.