Sunday, March 31, 2013

Beweise für die Auferstehung? Zum Verbot religiöser und politischer Rundfunkwerbung (aus der Serie "Rundfunkrecht und Ostern")

Ostern und Rundfunkrecht, das ist mittlerweile in diesem Blog schon eine kleine Serie: den Beginn machte der "Lehrbub des Osterhasen", der es vor alle drei österreichischen Höchstgerichte geschafft hat (hier). Im zweiten Teil ging es um einen von der Medienbehörde beanstandeten Werbespot für die ORF "Oster-Nachlese" (hier). Und dann war da noch die Entscheidung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien zur Frage, ob der Wunsch "Frohe Ostern" ein - nach dem ORF-Gesetz unzulässiger - Hinweis auf den Inhalt eines periodischen Druckwerks oder nicht doch bloß ein im zeitlichen Zusammenhang mit dem Osterfest nicht unüblicher Wunsch war (hier).

EGMR: Murphy gegen Irland - Verbot religiöser Rundfunkwerbung
Heuer möchte ich auf ein schon fast zehn Jahre altes Urteil des EGMR zu Art 10 EMRK hinweisen, das sich auch mit österlicher Werbung im Rundfunk auseinandersetzt. Im Fall Murphy gegen Irland (Appl. no 44179/98, Urteil vom 10. Juli 2003; siehe auch diese deutschsprachige Zusammenfassung) hatte der EGMR zu beurteilen, ob ein von der irischen Rundfunkbehörde ausgesprochenes Ausstrahlungsverbot für einen Radiospot einer christlichen Organisation diese in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK verletzte. Der Spot sollte auf ein Video hinweisen, das "Beweise für die Auferstehung" liefern sollte und das von der christlichen Organisation während der Osterwoche wiederholt vorgeführt (und auch im Satellitenfernsehen gezeigt) wurde. Nach der damaligen irischen Rechtslage war Werbung für religiöse und politische Zwecke untersagt ("No advertisement shall be broadcast which is directed towards any religious or political end"; die aktuelle Rechtslage in Irland enthält ein solches absolutes Verbot nicht mehr, siehe dazu näher Sec. 41(4) des Broadcasting Act 2009).

Das Verbot war daher gesetzlich vorgesehen und der EGMR sah - mit extrem knapper Begründung - auch ein legitimes Interesse für den Eingriff im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK als gegeben an ("to ensure respect for the religious doctrines and beliefs of others so that the aims of the impugned provision were public order and safety together with the protection of the rights and freedoms of others").

Wesentlich ausführlicher setzte sich der EGMR dann mit der Frage auseinander, ob das Verbot in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und ob dafür "ausreichende und relevante" Gründe vorlagen - was er im Ergebnis bejahte, wenngleich unter deutlichem Hinweis auf die konkreten Umstände in Irland, vor allem die "besonderen religiösen Empfindlichkeiten in der irischen Gesellschaft" ("the particular religious sensitivities in Irish society"), auf die sich die irische Regierung zur Rechtfertigung des Verbots stützte. In die Abwägung miteinbezogen wurde auch der Umstand, dass sich das Verbot nur auf audiovisuelle Medien bezog, die - wie der EGMR unter Hinweis auf das Urteil Jersild ausdrücklich anerkannte - "eine unmittelbarere, eindringlichere und stärkere Wirkung auch auf den passiven Rezipienten" hätten. In Printmedien wäre die Werbung daher zulässig gewesen. Außerdem betraf das Verbot nur Werbung, nicht aber die Behandlung religiöser Themen im Programm (einschließlich Dokumentationen, Diskussionen, Filme oder Live-Übertragung von Gottesdiensten). Der Beschwerdeführer hatte das selbe Recht wie jeder andere Bürger, an Programmen über religiöse Themen mitzuwirken und Gottesdienste seiner Kirche übertragen zu lassen. Die Programmgestaltung musste ausgewogen und neutral sein, die Zulässigkeit religiöser Werbung hingegen würde zu einer Begünstigung jener religiösen Gruppen führen, die über größerer Ressorucen verfügten (meines Erachtens sind das eher merkwürdige Argumente: denn welches Recht hat denn ein einfacher Bürger, an religiösen Programmen mitzuwirken, oder gar dass Gottesdienste seiner Kirche übertragen würden? Gerade die ausgewogene Programmgestaltung führt zudem wohl eher dazu, dass in der Bevölkerung stark verankerte Religionsgemeinschaften - die in der Regel auch über mehr Ressourcen verfügen - stärker im Programm vorkommen).

Was unterscheidet religiöse von politischer oder ideeller Werbung?
Das Urteil Murphy ist meines Erachtens nur vor dem konkreten Hintergrund der besonderen irischen Religionskonflikte zu verstehen, auf die der EGMR bei seiner Abwägung Bedacht genommen hat. In Fällen politischer Werbung - die in einigen Mitgliedstaaten, etwa auch in Irland, gleich wie religiöse Werbung geregelt und damit oft verboten oder eingeschränkt war - ist der EGMR nämlich zu anderen Ergebnissen gekommen. Das geschah bereits im Fall VgT Verein gegen Tierfabriken gegen Schweiz (Appl. no. 24699/94; Urteil vom 28. Juni 2001) im Hinblick auf Werbung einer Tierschutzorganisation und schließlich im Fall TV Vest und Rogaland Pensjonistparti gegen Norwegen (Appl. No. 21132/05; Urteil vom 11. Dezember 2008) im Hinblick auf Werbung politischer Parteien (siehe dazu in diesem Blog hier). Auch aus diesen Urteilen ergibt sich freilich nicht, dass politische und ideelle Werbung uneingeschränkt zulässig sein muss, ein völliges Verbot solcher Werbung wäre aber nur zu rechtfertigen, wenn dies im Hinblick auf besondere "Empfindlichkeiten" ("sensitivities as to divisiveness or offensiveness") notwendig wäre. Daher muss man wohl davon ausgehen, dass man an Einschränkungen etwa in Staaten, in denen massive politische Konflikte erst kurze Zeit zurückliegen - etwa den Staaten des Westbalkan -, andere Maßstäbe anlegen könnte als in etablierten Demokratien ohne jüngere Konfliktvergangenheit. 

Animal Defenders - die Große Kammer des EGMR wird am 22.4. entscheiden
Besonders spannend ist der vor dem EGMR noch anhängige Fall Animal Defenders International gegen Vereinigtes Königreich (Appl. no. 48876/08), in dem die Große Kammer des EGMR am 22. April 2013 ihr Urteil verkünden wird. Dabei geht es wiederum um das Verbot politischer Werbung, diesmal im Vereinigten Königreich, aufgrund dessen ein Fernsehspot der Tierrechtsorganisation ADI (Spot "My Mate's a Primate", hier auf YouTube zu sehen) nicht gesendet werden durfte (mehr Hintergrund dazu im "Statement of Facts" des EGMR und hier bzw hier auf Inforrm's Blog; dort ist auch die Stellungnahme des UK an den EGMR zu finden).

Politische Werbung in Österreich: müssen wir die Krot schlucken?
In Österreich ist politische und religiöse Werbung weder im öffentlich-rechtlichen noch im privaten Rundfunk verboten. 

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 12.12.2011, B 1672/10, zu einem Fernsehspot der Arbeiterkammer ("Müssen wir jede Krot schlucken?" hier auf YouTube zu sehen) Folgendes ausgeführt:
Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR, wonach ein generelles Verbot politischer Werbung iwS im Konflikt mit Art 10 EMRK steht (EGMR 28.6.2001, Fall VgT Verein gegen Tierfabriken, Appl. 24.699/94, und 30.6.2009, Fall VgT Verein gegen Tierfabriken [Nr. 2], Appl. 32.772/02; 11.12.2008, Fall TV Vest AS & Rogaland Pensjonistparti, Appl. 21.132/05), ist § 13 Abs 3 ORF-G [in der damaligen Fassung, nun § 14 Abs 1 ORF-G] verfassungskonform dahingehend zu verstehen, dass er auch nicht-kommerzielle, ideelle Werbung erfasst. Diese Sichtweise entspricht sowohl dem Europäischen Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen (an dessen Werbebegriff sich das Rundfunkgesetz weitgehend orientiert hat, wie sich aus den Materialien zum Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen ergibt: RV 1064 BlgNR 20. GP, 35 ff., und AB 1256 BlgNR 20. GP), als auch der Rechtsprechung des OGH (24.2.2009, 4 Ob 223/08k) sowie der Praxis des BKS (vgl. BKS 28.9.2009, 611.009/0015-BKS/2009; zum Ganzen Kogler, TV (on demand), 2010, 154 f.).
In der Praxis ist allerdings "Werbung mit religiösem oder parteipolitischem Inhalt" in den Fernseh- und Hörfunkprogrammen des ORF aufgrund der AGB für Werbesendungen in den österreichweiten Programmen (Punkt 3d) ausgeschlossen (ebenso in den interessanterweise gesonderten AGB für ORF III, als wäre dieses Programm nicht österreichweit; sowie in den AGB für Radiowerbung in bundeslandweiten Programmen und regionale Fernsehwerbung). Die AGB des ORF für sogenannte "Beiträge im Dienst der Öffentlichkeit" legen fest, dass solche Beiträge keine parteipolitische Werbung beinhalten dürfen (Punkt 1) und schließen auch Beiträge mit religiösem Charakter aus (Punkt 6). Auf orf.at ist Werbung mit religiösem Inhalt ausgeschlossen (Punkt 3.4), nicht hingegen (partei)politische Werbung (AGB ORF.at), dasselbe gilt für Werbung im Teletext (AGB Teletext).

Wednesday, March 27, 2013

Älter, aber aus aktuellem Anlass: EGMR zur Presseakkreditierung bei Gerichtsverhandlungen

Die Vorgangsweise des OLG München bei der Akkreditierung von MedienvertreterInnen im bevorstehenden "NSU"-Strafprozess hat in den letzten Tagen zu Kritik geführt (zB SZ, FAZ, Focus), weil keine türkischen oder griechischen BerichterstatterInnen akkreditiert wurden, obwohl die Verbrechensopfer türkischer und griechischer Herkunft waren. Die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen und Journalisten Union (dju) meinte in einer Presseaussendung unter anderem, dass "die bayerische Justiz" das Akkreditierungsverfahren für den Prozess "wie eine Losbude auf dem Jahrmarkt organisiert"

Nun weiß ich nicht verlässlich, wie Losbuden auf deutschen Jahrmärkten organisiert sind, aber dass dort Preise in der Reihenfolge des Loskaufes vergeben würden, kann ich mir kaum vorstellen. Der zuständige Strafsenat des OLG München hat aber genau das getan: die Akkreditierungsgesuche wurden, wie in einer Presserklärung mitgeteilt wurde, in der Reihenfolge ihres Eingangs innerhalb einer dafür gesetzten Frist berücksichtigt. Das ist an sich kein unübliches und - soweit ich das überblicke - in Deutschland auch in der Rechtsprechung akzeptiertes Verfahren im Fall beschränkter Raumkapazitäten. Ob es im konkreten Fall sachgerecht war, allein auf das Eingangsdatum abzustellen und nicht (zusätzlich) dabei auch verschiedene Kategorien von Medien zu unterscheiden (etwa regionale/überregionale/ausländische), will ich nicht kommentieren - eine "Losbude" war es aber jedenfalls nicht.

EGMR: Losentscheid zulässig - Bild darf draußen bleiben
Dabei wäre jedenfalls vor dem Hintergrund des Art10 EMRK eine tatsächliche "Losbude" - also die Zulassung von MedienvertreterInnen durch Losentscheid - durchaus zulässig gewesen, wie sich an einem vor rund einem Jahr vom EGMR entschiedenen Fall zeigt (Entscheidung vom 13. März 2012, Axel Springer AG gegen Deutschland, Appl. no. 44585/10; siehe dazu auch die Pressemitteilung des EGMR).

Dabei ging es um die Berichterstattung über ein Jugendgerichtsverfahren zu einem spekatulären Verbrechen ("Vierfachmord von Eislingen"), über das natürlich gerade die Bild-Zeitung in ihrer bekannt zurückhaltenden Art berichtet hatte (siehe zu den Urteilen dann hier und hier). Im Jugendgerichtsverfahren war die Öffentlichkeit ausgeschlossen, der Vorsitzende hatte dennoch neun PressevertreterInnen zugelassen, wobei er in seine Abwägungsentscheidung ausdrücklich die Pressefreiheit einbezog und berücksichtigte, dass eine breite Medienberichterstattung über die Verbrechen stattgefunden hatte ("médiatisation de l’affaire"). Er legte fest, dass je drei VertreterInnen erstens der regionalen Presse, zweitens der überregionalen Presse und der Agenturen und drittens der Runfunkanstalten zugelassen würden, wobei bei größerem Andrang ein Losentscheid erfolgte. Die "Bild" ging bei der Verlosung leer aus (die Plätze der überregionalen Presse und Agenturen bekamen Spiegel, Stern - beides keine Tageszeitungen - und die Presseagentur dpa). Beschwerden an das Bundesverfassungsgericht scheiterten

Vor dem EGMR machte die Axel Springer AG eine Verletzung in ihren Rechten nach Art 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art 10 EMRK geltend. Sie wandte sich nicht gegen die BEschränkung ds Zugangs an sich, sondern gegen die Auswahlmethode für dei MedienvertreterInnen. Eine "Pool-Lösung" oder die Zulassung ausschließlich von Agenturen wäre weniger diskriminierend gewesen.

Der EGMR wies die Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurück. Der Gerichtshof erkannte an, dass die Beschränkung des Zugangs in den Anwendungsbereich des Art 10 EMRK fiel, auch wenn aus der EMRK kein Recht der Presse auf Zugang zu bestimmten Informationen abzuleiten ist ("on ne saurait tirer de la Convention un droit en soi pour la presse d’avoir accès à une source d’information particulière").

Die Einschränkung hatte einem legitimen Zweck gedient (Schutz der minderjährigen Angeklagten). Zur Verhältnismäßigkeit der Zugangsbeschränkung hielt der EGMR fest, dass die gewählte Methode nicht bestimmte PressevertreterInnen bevorzugt, sondern einen gleichen Zugang für alle interessierten JournalistInnen ermöglicht habe; ausdrücklich spricht der EGMR von einem neutralen Verfahren der Platzzuweisung ("cette procédure neutre d’attribution des places disponibles"). Zudem war Bild nicht an der Berichterstattung gehindert, da das Gericht nach den Verhandlungstagen Pressemitteilungen veröffentlichte und zudem eine Agentur unter den zugelassenen Medien war, der allgemein die Rolle zukommt, andern (zahlenden) Medien Informationen zur Verfügung zu stellen.

Zum Vorbringen der Beschwerdeführerin, die Akkreditierung der Agentur (dpa) sei nur dem Zufall geschuldet, hielt der EGMR fest, dass es nicht seine Aufgabe sei, in abstracto über die Rechtslage und nationale Praxis zu urteilen, sondern er nur die konreten Umstände des Beschwerdefalles zu beurteilen habe. Im konkreten Fall sei die Axel Springer AG jedenfalls nicht benachteiligt worden.

Zugangsbeschränkungen für die Presse und Art 10 iVm Art 14 EMRK
Die Entscheidung des EGMR spricht zwar im Hinblick auf den Losentscheid von einem neutralen Verfahren, schließt aber nicht generell aus, dass die vorgenommene Kategorisierung unter anderen Umständen allenfalls zu einer Verletzung des Art 10 in Verbindung mit Art 14 EMRK hätte führen können. Damit steht zumindest im Raum, dass eine nicht vollständig neutrale Vergabe von Zutrittsberechtigungen - etwa eine willkürliche Kategorisierung (zB "nur regionale und nationale, aber keine ausländischen Medien" oder Ähnliches) - am Maßstab der Sachgerechtigkeit nach Art 14 EMRK scheitern könnte.

Zum Abschlus aber noch ein Satz aus einem Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 30.10.2002, 1 BvR 1932/02, über eine Verfassungsbeschwerde von NDR und ZDF betreffend den (ihnen verweigerten) Zugang zum Sitzungssaal bei einer Verhandlung in einer Strafsache gegen einen mutmaßlichen El-Kaida-Terroristen:
"Hauptzweck der mündlichen Verhandlung ist auch in einem aufsehenerregenden Strafverfahren dessen Durchführung, nicht die Sicherung der Berichterstattung."

PS: Die Frage, wie knappe Ressourcen sachgerecht vergeben werden können, ist natürlich in vielen Rechtsgebieten von Bedeutung - nicht zuletzt auch im Telekommunikations- und Rundfunkrecht. Dabei hat sich das früher oft gewählte "first-come, first-served"-Verfahren (wie es hier das OLG München gewählt hat) meist nicht als optimal erwiesen; nicht zufällig sind für Frequenzvergaben im Mobilfunkbereich mittlerweile überwiegend Versteigerungen, im Rundfunkbereich überwiegend vergleichende Auswahlverfahren ("beauty contests") üblich.

Friday, March 22, 2013

EuGH zu Entgelten für Frequenznutzungsrechte: (almost) "anything goes"?

Entgelte für Nutzungsrechte an Funkfrequenzen müssen nach Art 13 der Genehmigungsrichtlinie 2002/20/EG (konsolidierte Fassung idF der RL 2009/140/EG) "objektiv gerechtfertigt, transparent, nichtdiskriminierend und ihrem Zweck angemessen" sein - nähere Vorgaben zur Höhe oder zur Berechnungsweise enthält die RL nicht.

Im Urteil C‑85/10 Telefónica Móviles España SA (dazu im Blog hier) hatte der EuGH, damals noch zur RL 97/13/EWG, kaum Schranken für die - dort sogar erst nach der Frequenzzuweisung erfolgte - Festlegung der Entgelte für die Nutzungsrechte gesehen: sie sollten bloß nicht exzessiv oder unterbewertet sein ("no sea excesivo ni esté subevaluado"; in der deutschen Übersetzung - Verfahrenssprache war Spanisch - heißt es bloß: "weder zu hoch noch zu niedrig").

Mit dem gestern bekanntgegebenen Urteil in der Rechtssache C-375/11 Belgacom hat der EuGH diese Rechtsprechung auch zu den Nachfolgebestimmungen in der GenehmigungsRL zwar im Wesentlichen fortgeschrieben - aber im Detail doch etwas modifiziert. Dem Gerichtshof lagen Vorlagefragen des belgischen Verfassungsgerichtshofes vor (zu den Fragen im Blog schon hier), in denen es um die Zulässigkeit von wiederkehrenden und (zusätzlich) einmaligen Entgelten für Frequenznutzungsrechte vor allem bei der Verlängerung bestehender Nutzungsrechte ging (mehr zur Ausgangssituation und zu den von Generalanwalt Nääskinen erstatteten Schlussanträgen habe ich schon hier geschrieben).

Vorab stellt der EuGH fest, dass Art 3 und 12 der GenehmigungsRL - Erhebung von 'Verwaltungsabgaben' - nicht auf die Frequenznutzungsentgelte anzuwenden sind (RNr 35). 

Verlängerung von Rechten ist gleich zu behandeln wie erstmalige Einräumung
Der EuGH hält fest, dass die GenehmigungsRL keine besondere Bestimmung für Verfahren zur Verlängerung von Frequenznutzungsrechten enthält. Werden individuelle Nutzungsrechte auf bestimmte Zeit eingeräumt, so ist die Verlängerung einer solchen Genehmigung als Gewährung neuer Rechte für einen neuen Zeitraum anzusehen (RNr 38). Der Gerichtshof kommt daher zum Ergebnis, dass das Verfahren zur Zuteilung der Nutzungsrechte für Funkfrequenzen und das Verfahren zur Verlängerung dieser Rechte derselben Regelung unterliegen müssen und Art 13 der GenehmigungsRL daher auf beide Verfharen gleichermaßen anzuwenden ist (RNr 39).

Einmaliges Entgelt zusätzlich zu bereits eingehobenem jährlichen Entgelt zulässig
Zur Frage, ob die Einhebung eines einmaligen Frequenznutzungsentgelts zusätzlich zu einem bereits eingehobenen jährlichen Entgelt "für die Bereitstellung der Frequenzen" (sowie daneben weiteren Entgelten zur Deckung der Verwaltungskosten) zulässig ist, erinnert der EuGH daran, dass die Mitgliedstaaten nach Art 13 der GenehmigungsRL - über die Entgelte zur Deckung der Verwaltungskosten hinaus - ein Entgelt für die Nutzungsrechte für Funkfrequenzen erheben können, dessen Zweck es ist, die eine optimale Nutzung dieser Ressource sicherzustellen. Art. 13 der Genehmigungsrichtlinie legt aber weder die Form, die ein solches für die Nutzung von Funkfrequenzen auferlegtes Entgelt haben muss, noch die Häufigkeit seiner Auferlegung ausdrücklich fest (RNr 42 und 43).

Entgelte sind an den Zielen der RL - ua optimale Frequenznutzung - zu messen
Nicht hundertprozentig schlüssig wirkt auf mich die Argumentation in den RNr 45 bis 47: einerseits gibt demnach die GenehmigungsRL nicht vor, zu welchem Zweck die Entgelte eingehoben werden (RNr 45: "vgl. in diesem Sinne Urteil Telefónica Móviles España, Randnr. 33"; sie müssen jedoch "ihrem Zweck angemessen" sein - RNr 46), andererseits müssen sie nach eben dieser Richtlinie das Ziel verfolgen, eine optimale Nutzung dieser Ressourcen sicherzustellen und die Entwicklung innovativer Dienste und des Wettbewerbs auf dem Markt nicht zu erschweren (RNr 47). Ob zwischen Zweck (egal) und Ziel (Sicherstellung der optimalen Nutzung) wirklich so klar unterschieden werden kann? Ich bin mir da jedenfalls nicht so sicher, vor allem auch, wenn ich mir andere Sprachfassungen des Urteils anschaue:  in der französischen Sprachfassung - der Sprache des Verfahrens! - wird in beiden Fällen der Begriff "le but" verwendet, was ich eher als "Ziel" verstehen würde, in der englischen Fassung in beiden Fällen der Begriff "purpose", was für mich mehr nach "Zweck" klingt; in der spanischen Sprachfassung wiederum wird unterschieden: in RNr 45 heißt es "los fines" (was so auch im zitierten Urteil in der Rechtssache Telefónica Móviles España steht, in der Spanisch Verfahrenssprache war), in RNr 47 heißt es dann "el objetivo".

Für mich entsteht damit der Eindruck, dass die etwas weite Aussage des Urteils Telefónica Móviles España zu der - dort noch nicht einmal anzuwendenden - Genehmigungsrichtlinie damit etwas eingeschränkt wird: es ist eben nicht vollkommen egal, zu welchem Zweck (oder Ziel?) ein Entgelt für die Frequenznutzung eingehoben wird (und solche Zwecke kann es ja viele geben: Budgetsanierung zum Beispiel fiele mir als eines der ersten ein), denn die RL verlangt jedenfalls die Beurteilung, ob das eingehobene Entgelt auch den Zielen nach Art 8 der RahmenRL Rechnung trägt und das Ziel verfolgt, die optimalen Frequenznutzung sicherzustellen und die Entwicklung innovativer Dienste und des Wettbewerbs nicht zu erschweren. Diese Beurteilung wird vom nationalen Gericht vorzunehmen sein.

Der EuGH sieht es jedenfalls als geboten an, dass das Entgelt "in angemessener Höhe festgesetzt wird, also u. a. den Wert der Nutzung dieser Ressourcen widerspiegelt, was eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen und technologischen Situation auf dem relevanten Markt erfordert (Urteil Telefónica Móviles España, Randnr. 28)." [RNr 51]

Sowohl die Fortschreibung einer früheren einmaligen Konzessionsabgabe bei der Verlängerung oder Neuvergabe von Frequenznutzungsrechten als auch die Versteigerung werden vom EuGH als grundsätzlich geeignete Methoden für die Ermittlung des Wertes der Funkfrequenzen angesehen; für den konkreten Fall heißt es im Urteil wörtlich:
53   Unter Berücksichtigung der vom Königreich Belgien zur Festsetzung der früheren einmaligen Konzessionsabgabe herangezogenen Grundsätze erlaubt es nämlich offenbar sowohl die eine als auch die andere dieser Methoden, zu Beträgen zu gelangen, die im Verhältnis zur voraussichtlichen Rentabilität der betreffenden Funkfrequenzen stehen. Die Genehmigungsrichtlinie steht der Verwendung eines derartigen Kriteriums zur Festlegung der oben genannten Entgelte nicht entgegen.
54   Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass die Art. 12 und 13 der Genehmigungsrichtlinie in dem Sinne auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, den Mobilfunkbetreibern, die Inhaber von Nutzungsrechten für Funkfrequenzen sind, ein einmaliges Entgelt aufzuerlegen, das sowohl für einen Neuerwerb von Nutzungsrechten für Funkfrequenzen als auch für deren Verlängerung geschuldet wird und das zu einem jährlichen Entgelt für die Bereitstellung der Frequenzen hinzukommt, das die optimale Nutzung der Ressourcen fördern soll, sowie zu einem Entgelt zur Deckung der Verwaltungskosten der Zulassung, unter der Voraussetzung, dass diese Entgelte tatsächlich eine optimale Nutzung der Ressource, die die Funkfrequenzen darstellen, fördern sollen, dass sie objektiv gerechtfertigt, transparent, nichtdiskriminierend und ihrem Zweck angemessen sind und dass sie den in Art. 8 der Rahmenrichtlinie genannten Zielen Rechnung tragen; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
55   Unter derselben Voraussetzung kann die Festsetzung eines einmaligen Entgelts für die Nutzungsrechte von Funkfrequenzen, entweder anhand der Höhe der früheren einmaligen Konzessionsabgabe auf der Grundlage der Zahl der Frequenzen und der Monate, auf die sich die Nutzungsrechte beziehen, oder anhand der durch Versteigerung ermittelten Beträge, eine geeignete Methode für die Ermittlung des Wertes der Funkfrequenzen sein.
Änderung von Frequenznutzungsentgelten
Ein Mitgliedstaat, der die für früher erteilte Nutzungsrechte von Funkfrequenzen geltenden Entgelte ändern möchte, muss - so der EuGH in RNr 60 des Urteils - sicherstellen, "dass diese Änderung die in Art. 14 Abs. 1 der Genehmigungsrichtlinie vorgesehenen Bedingungen erfüllt, d. h., dass sie objektiv gerechtfertigt ist, die Verhältnismäßigkeit wahrt und allen interessierten Kreisen vorab angekündigt wurde, damit sie Gelegenheit haben, ihren Standpunkt darzulegen." Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, muss das nationale Gericht beurteilen.

Nach Art 14 Abs 2 der GenehmigungsRL - der für den Vorlagefall noch nicht maßgeblich sein dürfte - dürfen die Mitgliedstaaten (ua) Rechte zur Nutzung von Funkfrequenzen nicht vor Ablauf des Zeitraums, für den sie gewährt wurden, einschränken oder entziehen, außer in begründeten Fällen und gegebenenfalls im Einklang mit dem Anhang und einschlägigen nationalen Vorschriften über Entschädigungen für den Entzug von Rechten. Dazu hält der EuGH fest, dass -selbst wenn man die Anwendbarkeit der (geänderten) Genehmigungsrichtlinie auf den Ausgangssachverhalt annimmt - durch die Einhebung des (neuen) einmaligen Entgelts "Inhalt und Umfang der den betreffenden Betreibern verliehenen Rechte zur Nutzung von Funkfrequenzen" nicht beeinflusst werde. Die Änderung des Entgeltsystems stellt demnach weder eine Einschränkung noch einen Entzug der Rechte zur Nutzung von Funkfrequenzen im Sinne von Art 14 Abs 2 der Genehmigungsrichtlinie dar.

Conclusio
Die Mitgliedstaaten haben nach der GenehmigungsRL einen sehr weiten Gestaltungsspielraum für die Festlegung von Frequenznutzungsentgelten: sie können die Entgelte periodisch verlangen, einmalig, oder auch - wie in Belgien - als Kombination wiederkehrender und einmaliger Entgelte, sie können zudem die Höhe des Entgelts durch eine Versteigerung bestimmen oder sie einfach administrativ festsetzen, zB auch durch Fortschreibung früher eingehobener Entgelte. Und schließlich können Entgelte auch während der Laufzeit von Frequenznutzungsrechten geändert werden. Unbeschränkt ist die Freiheit aber keineswegs: denn bei der Entgeltfestlegung ist jedenfalls darauf zu achten, dass "diese Entgelte tatsächlich eine optimale Nutzung der Ressource, die die Funkfrequenzen darstellen, fördern sollen,"  was eine Orientierung am wirtschaftlichen Wert der Frequenzen erfordert.

Mit der Feststellung des Werts der Frequenzen im Rahmen einer Versteigerung wird man daher als Mitgliedstaat ziemlich auf der sicheren Seite sein, was die Einhaltung des Art 13 GenehmigungsRL anbelangt, zumal es sich bei der Versteigerung, wie der Generalanwalt schon in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache festgehalten hatte, um die "klassische Methode zur Feststellung des Wertes der Frequenzen schlechthin" handelt, "weil dabei der Marktwert der Frequenzen unmittelbar erkennbar wird". Doch selbst bei einer administrativen Verlängerung bestehender Frequenznutzungsrechte, wie sie in Belgien (teilweise) erfolgte, können die Anforderungen zumindest des Art 13 GenehmigungsRL erfüllt werden, wenngleich dies im Einzelfall möglicherweise durch die nationalen Gerichte schwieriger zu beurteilen ist.

PS: in Deutschland forderte jüngst der VATM die Verlängerung statt Neuversteigerung von Frequenznutzungsrechten, natürlich unterlegt mit juristischen und ökonomischen Gutachten (ich nehme an, dass es auch gegenläufige juristische und ökonomische Gutachten gibt oder jedenfalls demnächst geben wird). In Österreich hat die Telekom-Control-Kommission am vergangenen Montag das Verfahren zur Versteigerung von Frequenzen in den Bereichen 800/900/1800 MHz gestartet (Pressemitteilung, Auktionswebsite mit näheren Informationen), die Verwendung der möglichen Erlöse ist offenbar schon verplant

Tuesday, March 19, 2013

EuGH - Bouygues: auch nicht angenommenes Anbot einer staatlichen "Kreditlinie" (Aktionärsvorschuss) ist Beihilfe

Mit dem heutigen Urteil in den Rechtssachen C-399/10 P und C-401/10 P, Bouygues, (Pressemitteilung des EuGH) hat der EuGH das Urteil des EuG vom 21.05.2010 in den Rechtssachen T-425/04, T-444/04, T-450/04 und T-456/04, Frankreich ua/Kommission (im Blog dazu hier), aufgehoben. Allein das Anbot einer staatlichen Kreditlinie kann demnach bereits einen dem Beihilfenrecht unterliegenden Vorteil für das solcherart begünstigte Unternehmen darstellen.

Im Verfahren ging es um eine Beihilfenentscheidung der Kommission (C(2004)3060), wonach der "Aktionärsvorschuss, den Frankreich France Télécom im Dezember 2002 in Form einer Kreditlinie von 9 Mrd. EUR gewährt hat, [...] vor dem Hintergrund der ab Juli 2002 abgegebenen Erklärungen eine staatliche Beihilfe dar[stellt], die mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist." Das EuG hatte diese Kommissionsentscheidung für nichtig erklärt (bzw, um genau zu sein: das EuG hatte Art 1 der Entscheidung für nichtig erklärt und die Anträge, Art 2 der streitigen Entscheidung - die Beihilfe nicht zurückzufordern - für nichtig zu erklären, als erledigt beurteilt).

Zur Vorgeschichte: 
France Télécom (FT), im Jahr 2002 noch zu 56,45 % im Eigentum des französischen Staates, wies für 2001 einen Verlust von 8,3 Mrd Euro aus und hatte Nettoschulden von 63,5 Mrd Euro. Die Ratingagenturen stuften das Rating für FT herab, der Aktienkurs fiel erheblich. Daraufhin erklärte der Wirtschaftsminister im Juli 2002 in einem Interview, dass der Staat, sollte FT Finanzprobleme haben, die für die Überwindung erforderlichen Entscheidungen treffen werde. Ähnliche Erklärungen wurden im September und Oktober wiederholt. Die Ratingagenturen berücksichtigten diese Erklärungen bei ihren Einstufungen als positiv. Am 04.12.2002 stellte der neue Vorstand von FT den Plan "Ambition 2005" vor, der eine Kapitalerhöhung uim 15 Mrd Euro vorsah. Am selben Tag wurde eine Pressemitteilung des Wirtschaftsministers veröffentlicht, in der die Unterstützung des Staates für den Plan "Ambition 2005" bekräftigt wurde. Der Staat werde sich an der Kapitalerhöhung mit 9 Mrd Euro beteiligen und sei bereit, seine Beteiligung an der Kapitalerhöhung in Form eines befristeten Aktionärsvorschusses vorwegzunehmen. (Der Plan Ambition 2005 einschließlich des Aktionärsvorschusses wurde ebenfalls am 04.12.2002 der Kommission notifiziert.)

Mehrere aufeinanderfolgende Maßnahmen als eine einzige Maßnahme?
Der EuGH sieht einen Rechtsfehler des EuG zunächst in dessen Ansicht, die Kommission sei verpflichtet, bei jedem staatlichen Eingriff einzeln zu prüfen, ob damit ein spezifischer Vorteil aus staatlichen Mitteln gewährt wurde. Er hält dazu fest:
103   Da die staatlichen Maßnahmen unterschiedliche Formen annehmen und nach ihren Wirkungen zu untersuchen sind, kann nicht ausgeschlossen werden, wie die Unternehmen Bouygues und die Kommission zutreffend ausführen, dass mehrere aufeinanderfolgende Maßnahmen des Staates für die Zwecke der Anwendung von Art. 107 Abs. 1 AEUV als eine einzige Maßnahme zu betrachten sind.
104   Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn aufeinanderfolgende Maßnahmen insbesondere in Anbetracht ihrer zeitlichen Abfolge, ihres Zwecks und der Lage des Unternehmens zum Zeitpunkt dieser Maßnahmen derart eng miteinander verknüpft sind, dass sie sich unmöglich voneinander trennen lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 1980, Kommission/Italien, 72/79, Slg. 1980, 1411, Randnr. 24).
Im konkreten Fall ist die Lage für den EuGH jedenfalls hinsichtlich der Erklärung vom 04.12.2002 und dem darin auch erwähnten Aktionärsvorschuss klar:
131   Es ist offensichtlich, dass die Ankündigung vom 4. Dezember 2002 nicht von dem in Form einer Kreditlinie von 9 Mrd. Euro angebotenen Aktionärsvorschuss, der in dieser Ankündigung ausdrücklich erwähnt wird, getrennt werden kann. Außerdem erfolgte die Ankündigung vom 4. Dezember 2002 am selben Tag wie die Anmeldung des Aktionärsvorschusses bei der Kommission.
Verringerung eines Postens im Staatshaushalt muss nicht dem gewährten Vorteil für das begünstigte Unternehmen entsprechen
Der EuGH teilt auch die Auffassung des EuG nicht, wonach nur eine Verringerung eines Postens im Staatshaushalt oder ein hinreichend konkretes, diesen Haushalt belastendes wirtschaftliches Risiko, das eng mit einem auf diese Weise festgestellten Vorteil verknüpft ist und ihm entspricht, der Voraussetzung der Finanzierung aus staatlichen Mitteln im Sinne von Art 107 Abs 1 AEUV genüge:
109   Die Kommission muss daher zum Zweck der Feststellung des Vorliegens einer staatlichen Beihilfe einen hinreichend engen Zusammenhang zwischen dem Vorteil, der dem Begünstigten gewährt wird, einerseits und der Verringerung eines Postens des Staatshaushalts oder einem hinreichend konkreten wirtschaftlichen Risiko für dessen Belastung andererseits dartun [...].
110   Entgegen der Ansicht des Gerichts ist dagegen weder erforderlich, dass eine solche Verringerung oder ein solches Risiko diesem Vorteil entspricht oder ihm gleichwertig ist, noch dass diesem Vorteil eine solche Verringerung oder ein solches Risiko gegenübersteht, noch dass er von gleicher Art wie die Bindung staatlicher Mittel ist, denen er entspringt.
Auch in diesem Punkt kommt der EuGH daher zu einem anderen Ergebnis als das EuG und bestätigt die Vorgangsweise der Kommission. Dass die mit dem angebotenen Aktionärsvorschuss eröffnete "Kreditlinie" schließlich von FT nicht angenommen wurde (weil die Kapitalerhöhung schon bald darauf durchgezogen wurde und wohl auch weil allein die Ankündigung die Ratingagenturen schon beruhigt hatte), schadet dabei nicht:
137   In Bezug auf die Voraussetzung der Bindung staatlicher Mittel, die ebenfalls in Art. 107 Abs. 1 AEUV aufgestellt wird, ist festzustellen, dass der Aktionärsvorschuss die Eröffnung einer Kreditlinie von 9 Mrd. Euro bedeutet. Zwar hat FT die ihr vorgelegte Vorschussvereinbarung nicht unterzeichnet, doch hätte sie [...] sie jederzeit unterzeichnen können und damit Anspruch auf sofortige Überweisung des Betrags von 9 Mrd. Euro gehabt.
138   Ferner hat die Kommission in Fn. 116 der streitigen Entscheidung angeführt, dass FT am 5. Dezember 2002 in einer Präsentation für die Investoren die „Kreditlinie“ des französischen Staates als sofort verfügbar beschrieben habe, S & P am selben Tag angekündigt habe, dass der französische Staat sofort einen Aktionärsvorschuss gewähren werde, dass dem Finanzausschuss der französischen Nationalversammlung mitgeteilt worden sei, dass FT „bereits ein Aktionärsvorschuss zur Verfügung gestellt“ worden sei, und dass Moody’s am 9. Dezember 2002 erklärt habe, es sei bestätigt, dass „eine Kreditlinie von 9 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt wurde“.
139   In Anbetracht zum einen der potenziellen zusätzlichen Belastung der staatlichen Mittel in Höhe von 9 Mrd. Euro und zum anderen der in Randnr. 107 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hat die Kommission zutreffend festgestellt, dass der in Randnr. 132 des vorliegenden Urteils beschriebene Vorteil aus staatlichen Mitteln im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gewährt wurde.

Friday, March 15, 2013

Manchmal Gericht, manchmal Verwaltungsbehörde: Generalanwalt Jääskinen zur Schienen-Control Kommission

Nein, die Schienen-Control Kommission kontrolliert keine Schienen (siehe dazu schon hier), sondern sie ist einfach die österreichische Regulierungsbehörde für den Schienenverkehrsmarkt (mit der Besonderheit, dass sie mit 01.01.2014 zugleich einerseits aufgelöst und andererseits neu gegründet wird; mehr dazu hier).

Die Schienen-Control Kommission wurde vom EuGH in seinem Urteil vom 22.11.2012, C-136/11, Westbahn Management GmbH, als vorlageberechtigtes Gericht im Sinne des Art 267 AEUV anerkannt (ich hatte hier im Blog dazu unter Hinweis auf den Beschluss des EuGH in der Rechtssache C-265/05, Telekom Austria AG, gewisse Zweifel geäußert).

Die Begründung des EuGH für die Gerichtseigenschaft der Schienen-Control Kommission war im Wesentlichen darauf gestützt, dass die §§ 81 bis 84 EisbG zeigten, "dass die Schienen-Control Kommission die Kriterien der gesetzlichen Grundlage, der ständigen und obligatorischen Gerichtsbarkeit, der Anwendung von Rechtsnormen sowie der Unabhängigkeit einer solchen Einrichtung erfüllt" und dass "auf das Verfahren vor der Schienen-Control Kommission [...] das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz Anwendung findet, was den streitigen Charakter des Verfahrens vor dieser Einrichtung gewährleistet, in dem die Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen haben und die streitige Erörterung zu einer mündlichen Verhandlung führen kann, zu der Zeugen und Sachverständige geladen werden können."

All dies gilt für die Schienen-Control Kommission freilich unabhängig davon, ob sie nach § 72 EisbG über eine Beschwerde von Zugangsberechtigten gegen die Zuweisungsstelle entscheidet (wie dies dem Vorabentscheidungsersuchen zu C-136/11 zugrunde lag), oder ob sie zB nach § 78b EisbG Entschädigungsbedingungen nach der Fahrgastrechte-Verordnung (VO Nr 1371/2007) zu beurteilen hat. In letzterem Fall aber ist sie nach Auffassung von Generalanwalt Jääskinen in seinen gestern veröffentlichten Schlussanträgen in der Rechtssache C-509/11, ÖBB-Personenverkehr AG, nicht als Gericht, sondern als Verwaltungsbehörde zu beurteilen (GA Jääskinen hatte übrigens schon die Schlussanträge in der Rechtssache C-136/11 Westbahn Management GmbH verfasst, wo auch er die Schienen-Control Kommission als Gericht beurteilte). Die Unterschiede arbeitet er in den Schlussanträgen zu C-509/11 nun so heraus:
49. [...] Wie durch die vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen geklärt worden ist, hat die Schienen-Control Kommission zwei Arten von Funktionen.
50. Erstens wird sie in Fällen wie denen, um die es im Urteil Westbahn Management ging, quasi als Verwaltungsgericht im Kontext eines kontradiktorischen Zwei-Parteien-Verfahrens tätig. Wie der Gerichtshof in diesem Urteil bestätigte, besitzt sie die erforderlichen Eigenschaften, um die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien in Bezug auf Unabhängigkeit und Zusammensetzung zu erfüllen.
51. Im vorliegenden Verfahren hat die Schienen-Control Kommission dagegen die Rolle einer Verwaltungsbehörde, der im Rahmen der Durchsetzung der Verordnung Nr. 1371/2007 die Aufgaben der zuständigen nationalen Stelle übertragen wurden.
[...]
56. Diese Entscheidung [der Schienen-Control Kommission] kann von dem Eisenbahnunternehmen vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochten werden. Die Schienen-Control Kommission hat dann die Rolle des Beklagten im gerichtlichen Verfahren. Daher kann die Schienen-Control Kommission in einem derartigen Kontext nicht als Gericht betrachtet werden, weil sie die gegnerische Partei im Rechtsstreit mit der ÖBB-Personenverkehr AG ist.
Anders als mit dem merkwürdigen Hinweis auf das Verfahrensrecht im Urteil C-136/11, Westbahn Management GmbH, wird damit der meines Erachtens einzig tragfähige Grund der Differenzierung angesprochen: ging es im Westbahn-Fall um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Eisenbahnunternehmen, die von der Schienen-Control Kommission zu entscheiden war - was den kontradiktorischen Charakter ("die Streitigkeit") unterstreicht, so liegt im Fall ÖBB-Personenverkehr AG zunächst noch kein Streit vor, sondern es werden von der Schienen-Control Kommission erst - in verwaltungsbehördlicher Funktion - Maßnahmen gegenüber einem Unternehmen ergriffen (erst wenn dieses Unternehmen dann einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einlegt, kann ein Streit vorliegen, und damit eine der Voraussetzungen für die Gerichtsqualität einer Einrichtung nach Art 267 AEUV, nämlich dass im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden ist, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt).

Nach Auffassung von Generalanwalt Jääskinen (ob der EuGH sich dazu im Urteil überhaupt äußern wird, bleibt abzuwarten, zur Fallentscheidung schiene es mir nicht erforderlich) ist die Schienen-Control Kommission daher je nach konkreter - im Sinne des österreichischen Rechts aber in jedem Fall: verwaltungsbehördlicher - Tätigkeit einmal als Gericht iSd Art 267 AEUV anzusehen, und einmal "nur" als Verwaltungsbehörde (die daher in solchen Fällen auch kein Vorabentscheidungsersuchen stellen könnte).

Eine solche "Doppelgesichtigkeit" ist nicht ungewöhnlich: so hat etwa auch das Landesgericht Salzburg - um ein konkretes, vom EuGH schon entschiedenes Beispiel zu nehmen - manchmal bloß Entscheidungen ohne Rechtsprechungscharakter zu treffen, zB wenn es als Registergericht über Eintragungen ins Firmenbuch zu entscheiden hat (EuGH 22.01.2002, C-447/00, Holto Ltd). In anderen Fällen, selbst wenn es "nur" um die Bewilligung der Verfahrenshilfe im Zusammenhang mit einem Zwangsvollstreckungsverfahren geht, bestehen auch beim EuGH keine Zweifel, dass die vom LG Salzburg zu treffenden Entscheidungen Rechtsprechungscharakter haben (EuGH 13.06.2012, C-156/12, GREP GmbH). 

Damit bleibt noch einmal zu prüfen, wie das alles mit dem Beschluss des EuGH in der Rechtssache C-265/05, Telekom Austria, zusammenpasst: dort ging es um ein - amtswegig eingeleitetes - Verfahren der Marktanalyse, in dem die Telekom-Control-Kommission einen Maßnahmenentwurf vorbereitet hatte, mit dem spezifische Verpflichtungen eines Kommunikationsnetzbetreibers aufgehoben werden sollten. Auf den ersten Blick scheint das tatsächlich ein "einseitiges" administratives Verfahren zu sein, das nicht zu einer Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter führt. Allerdings sind an diesem Verfahren - jedenfalls als Folge des EuGH-Urteils C-426/05 - Tele2UTA - auch Wettbewerber des primär betroffenen Kommunikationsnetzbetreibers Partei des Verwaltungsverfahrens (vgl nun § 37a TKG 2003), sodass man materiell durchaus von einem Verfahren sprechen könnte, in dem eine Streitigkeit zwischen den Verfahrensparteien über die Auferlegung oder Aufhebung von spezifischen Verpflichtungen zu entscheiden ist. Hinzu kommt, dass die vom EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C-136/11, Westbahn Management, genannten Kriterien, welche die Schienen-Control Kommission erfüllt (siehe oben), genauso auf die Telekom-Control-Kommission zutreffen. Freilich ist dennoch nicht zu erwarten, dass der EuGH ein neuerliches Vorabentscheidungsersuchen der Telekom-Control-Kommission in einem Marktanalyseverfahren deshalb nun annehmen würde. Hat die Telekom-Control-Kommission aber im Rahmen von Zusammenschaltungsstreitigkeiten aufgrund eines Antrages eines Netzbetreibers über die Herstellung bzw die Bedingungen der Zusammenschaltung zu entscheiden, so sehe ich jedenfalls keinen für die Frage der Gerichtsqualität iSd Art 267 AEUV relevanten Unterschied zur Tätigkeit der Schienen-Control-Kommission, wie sie Ausgangspunkt für das Urteil C-136/11, Westbahn-Management, war.
PS: Die Kernfragen der aktuellen Schlussanträge sind natürlich andere. Es geht - vereinfacht - um die Frage, ob Eisenbahnunternehmungen von der Fahrpreisentschädigung nach der VO Nr 1371/2007 befreit sind, wenn eine Verspätung, ein verpasster Anschluss oder ein Zugausfall durch höhere Gewalt verursacht wurden (Generalanwalt: nein), und um die Art der Durchsetzung der VO durch die dafür zuständige nationale Stelle. (siehe dazu auch den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichtshofes).

Thursday, March 14, 2013

EGMR: Weshalb man zu Ex-Präsident Sarkozy "Hau ab, Idiot!" sagen durfte

 
Politiker müssen mehr an Kritik aushalten als Personen, die nicht im öffentlichen Leben stehen. Das hat der EGMR mit seinem heutigen Urteil im Fall Eon gegen Frankreich wieder einmal betont (siehe zuletzt zum türkischen Premier hier). Betroffen war diesmal Frankreichs Ex-Präsident Sarkozy.

Sarkozy handelte bekanntlich selbst nicht immer ruhig und überlegt - wie man im oben eingebundenen Video sehen kann: bei einem Besuch der Agrarmesse drängte Sarkozy händeschüttelnd durch die Menge, aber ein Bauer wollte sich von ihm nicht berühren lassen. Sarkozy darauf: "Casse toi alors pauvre con" (etwa: "Hau ab, armer Idiot"; der EGMR übersetzt es ins Englische mit "Get lost, you sad prick"). Wenige Monate später, bei einem Besuch Sarkozys in Laval, stand Hervé Eon zum Empfang des Präsidenten mit einem Schild bereit, auf dem er "casse toi pov'con" geschrieben hatte. Herr Eon wurde festgenommen, aufs Kommissariat gebracht und schließlich gerichtlich wegen Beleidung des Präsidenten der Republik zu einer bedingten Geldstrafe von 30 € verurteilt. Das Gericht (auch in zweiter Instanz) sah den Beleidigungsvorsatz gegeben, zumal Herr Eon ein Aktivist und früherer sozialistischer Bürgermeister war, der das Plakat auch vorbereitet hatte. Ein Verfahrenshilfeantrag für ein weiteres Rechtsmittel blieb erfolglos, die - daraufhin nicht weiter ausgeführte - Kassationsbeschwerde wurde vom Kassationsgerichtshof zurückgewiesen.

Zur Zulässigkeit:
Der EGMR ließ die Beschwerde zu: er sieht zunächst den innerstaatlichen Instanzenzug als erschöpft an (was eher zielorientiert im Wesentlichen mit dem Erfodernis begründet wird, das Zulässigkeitskriterium "mit einer gewissen Flexibilität und ohne übertriebenen Formalismus" anzuwenden). Zweitens sei auch das - mit dem 14. Zusatzprotokoll zur EMRK eingeführte - Zulässigkeitskriterium des erheblichen Nachteils gegeben. Zwar geht es nur um eine minimale und noch dazu bedingte Geldstrafe, doch bei der Beurteilung der Schwere einer Verletzung muss auch die subjektive Wahrnehmung und der objektive Streitgegenstand ("l’enjeu objectif d’une affaire donnée") berücksichtigt werden. Die subjektive Bedeutung war hier offenkundig, zur objektiven Bedeutung der Angelegenheit verweist der EGMR darauf, dass die Angelegenheit große mediale Aufmerksamkeit erhalten hatte und die im Parlament häufig erörterte Frage betraf, ob das Delikt der Präsidentenbeleidigung aufrecht erhalten werden sollte. Die Zulässigkeit wurde daher - mit 6:1 Stimmen - bejaht; der tschechische Richter Pejchal sprach sich in einer teilweise abweichenden Meinung gegen die Zulässigkeit aus, da dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden sei. 

In der Sache:
Die Verurteilung stellte einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dar, beruhte auf einem Gesetz und diente dem Schutz legitimer Interessen, konkret des guten Rufs anderer. Damit bleibt nur die Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Der EGMR hält fest, dass die Aufschrift auf dem Schild zwar nach ihrem Wortlaut beleidigend war, aber im Lichte der gesamten Umstände beurteilt werden muss, im besonderen der Art des Adressaten (des Präsidenten) wie auch des Beschwerdeführers, und ihrer Form und dem Kontext ihrer Präsentation. 

Die Wiederholung der vom Präsidenten selbst verwendeten Worte sieht der EGMR nicht als Verletzung der Privatsphäre oder der Ehre des Präsidenten oder als grundlosen persönlichen Angriff gegen seine Person. Er erinnert an die "Lingens-Rechtsprechung", wonach die Grenzen zulässiger Kritik bei Politikern weiter gezogen sind als bei Privatpersonen. Politiker setzen sich unvermeidlich und wissentlich der eingehenden Kontrolle aller ihrer Worte und Taten durch die Presse und die allgemeine Öffentlichkeit aus und müssen daher ein größeres Maß an Toleranz zeigen.

Zudem habe der Beschwerdeführer durch die Verwendung des schroffen Ausdrucks ("formule abrupte"), den der Präsident selbst verwendet hatte und der durch die Medien weit verbreitet und von einem großen Publikum oft humorvoll kommentiert worden war, seine Kritik satirisch vorgetragen. Satire - das hat der EGMR schon öfter festgehalten - ist eine Form des künstlerischen Ausdrucks bzw des gesellschaftlichen Kommentars, die durch Übertreibung und Verzerrung der von ihr charakterisierten Wirklichkeit ihrer Natur nach darauf abzielt, zu provozieren und aufzurütteln. Deshalb muss jeder Eingriff in das Recht eines Künstlers - oder einer anderen Person -, sich dadurch auszudrücken, mit besonderer Sorgfalt geprüft werden ["il faut examiner avec une attention particulière toute ingérence dans le droit d’un artiste – ou de toute autre personne – à s’exprimer par ce biais (Vereinigung Bildender Künstler c. Autriche, no 8354/01, § 33, 25 janvier 2007 [dazu hier], Alves da Silva c. Portugal, no 41665/07, § 27, 20 octobre 2009, et mutatis mutandis, Tuşalp c. Turquie, nos 32131/08 et 41617/08, § 48, 21 février 2012 [dazu hier])."]

Der EGMR kommt daher zum Schluss, dass die Kriminalisierung eines Verhaltens wie im vorliegenden Fall geeignet ist, eine abschreckende Wirkung auf satirische Interventionen zu gesellschaftlichen Themen zu haben, die auch eine sehr wichtige Rolle in einer freien Debatte über Fragen des allgemeinen Interesses spielen können, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt. Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers war daher unverhältnismäßig zum damit verfolgten Ziel und somit in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.

Der EGMR stellte daher (mit 6:1 Stimmen) eine Verletzung des Art 10 EMRK fest und sprach (mit 5:2 Stimmen) zum beantragten Schadenersatz von 5.000 Euro aus, dass die Feststellung der Verletzung eine ausreichende Genugtuung darstellt (dagegen sprach sich die irische Richterin Power-Forde in einem Sondervotum aus, dem sich die ukrainische Richterin Yudkivska anschloss).

Update 14.03.2013: siehe zu diesem Urteil auch Beiträge im Verfassungsblog und im UK Human Rights Blog; siehe weiters auch die Pressemitteilung des EGMR und (update 08.06.2013) das "legal summary" des EGMR.

Wednesday, March 13, 2013

EGMR zur Abwägung zwischen Urheberrecht und freier Meinungsäußerung (Neij und Sunde, The Pirate Bay)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit dem heute bekanntgegebenem Beschluss vom 19.02.2013, Neij und Sunde Kolmisoppi gegen Schweden (Appl. no. 40397/12), die Beschwerden von zwei führenden Vertretern von "The Pirate Bay"  (TPB) gegen ihre strafrechtliche Verurteilung als unzulässig zurückgewiesen (siehe auch die Pressemitteilung des EGMR und die rechtliche Zusammenfassung).

Fredrik Neij war technischer Entwickler, Peter Sunde Pressesprecher von TPB, der weltweit größten BitTorrent tracker-Website. Die Website ermöglichte mittels torrent files ihren Nutzern, in Kontakt mit anderen Nutzern zu treten und dann direkt mit diesen (nicht über die Server von TBP) durch file sharing urheberrechtlich geschützte Musik- und Filmwerke auszutauschen. 

Neij und Sunde wurden wegen Beihilfe zu Urheberrechtsverletzungen angeklagt und in einem medial vielbeachteten Strafverfahren in erster Instanz zu je einem Jahr Haft verurteilt (in der Instanz auf zehn bzw acht Monate reduziert). Weiters wurden sie gemeinschaftlich zu Schadenersatz in der Höhe von rund 5 Mio € verurteilt. In ihrer Beschwerde an den EGMR stützten sie sich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK

Der EGMR sieht die Aktionen der Beschwerdeführer grundsätzlich als durch Art 10 EMRK geschützt, die Verurteilung war daher eine Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung. Ein derartiger Eingriff ist nur dann rechtmäßig, wenn er auf einem Gesetz beruht, ein in Art 10 Abs 2 EMRK genanntes legitimes Ziel verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Die Verurteilung hatte eine klare Grundlage im schwedischen Urheberrechtsgesetz, und sie verfolgte das legitime Ziel des Schutzes der Rechte anderer und der Verbrechensverhütung. Entscheidend war daher die Frage, ob der Eingriff auch einem dringenden sozialen Bedarf ("a pressing social need") entsprach und damit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Bei der Antwort auf diese Frage muss der EGMR verschiedene Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Art der betroffenen gegenläufigen Interessen und das Ausmaß, in dem diese Interessen unter den Umständen des Falles Schutz erfordern. Hier war der EGMR aufgerufen, einerseits das Interesse der Beschwerdeführer an der Erleichterung des Informationsaustausches und andererseits das Interesse am Schutz der Urheberrechte abzuwägen. Auch das Urheberrecht (als geistiges Eigentum unter dem Schutz des Art 1 1. ZP EMRK) steht unter dem Schutz der EMRK, so dass der Konventionsstaat zwei gegenläufige, jeweils von der EMRK geschützte Interessen abzuwägen hatte. In einem solchen Fall kommt ihm ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Die Weite des Beurteilungsspielraums hängt von einer Anzahl verschiedener Faktoren ab; die Art der Information ist dabei von besonderer Bedeutung: 
In the present case, although protected by Article 10, the safeguards afforded to the distributed material in respect of which the applicants were convicted cannot reach the same level as that afforded to political expression and debate. It follows that the nature of the information at hand, and the balancing interest mentioned above, both are such as to afford the State a wide margin of appreciation which, when accumulated as in the present case, makes the margin of appreciation particularly wide [...].
Da die schwedischen Behörden verpflichtet waren, die Eigentumsrechte der Rechteinhaber zu schützen, bestanden gewichtige Gründe für die Einschränkung des Rechts der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung. Auch die Freiheitsstrafe und die Verurteilung zum Schadenersatz wurden nicht als unverhältnismäßig beurteilt; der EGMR berücksichtigt dabei insbesondere, dass die Beschwerdeführer trotz Aufforderung nichts unternommen hatten, um die fraglichen torrent files zu entfernen.

Der EGMR kam daher zum Schluss, dass der Eingriff im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und beurteilte die Beschwerde als offensichtlich unbegründet. 

Nach dem Urteil im Fall Ashby Donald ua gegen Frankreich hat der EGMR damit binnen kurzer Zeit neuerlich zum Verhältnis zwischen Urheberrecht und Recht auf freie Meinungsäußerung Stellung genommen. Wie schon bei Ashby Donald (RNr 41) sieht der Gerichtshof dabei einen besonders weiten Beurteilungsspielraum der nationalen Behörden, und er streicht auch hervor, dass es ganz wesentlich auf die Art der vermittelten Informationen ankommt. Im Fall Neij und Sunde (The Pirate Bay) ging es um ein kommerzielles Unternehmen, das - etwas vereinfacht - Informationen über Möglichkeiten zum (widerrechtlichen) Austausch urheberrechtlich geschützter Musik- und Filmwerke bereitstellte (die Verurteilung bezog sich nur auf solche urheberrechtlich geschützten torrents); im Fall Ashby Donald ging es um Modefotos, die verkauft werden sollten - auch hier verfolgten die Beschwerdeführer ausschließlich kommerzielle Interessen und trugen nicht zu einer Debatte von allgemeinem Interesse bei. 

PS: dass das Recht auf freie Meinungsäußerung urheberrechtlichen Ansprüchen entgegenstehen kann, ist in Österreich - seit dem Fall "Medienprofessor" - ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (siehe RS0115377); zum "Medienprofessor" siehe aber auch das Urteil des EGMR im Fall Krone Verlag GmbH & Co KG gegen Österreich (Nr. 5) - und dazu diesen Beitrag im Blog.

Update 17.03.2013: siehe zu dieser Entscheidung auch Lorna Woods auf Law, Justice and Journalism und Monica Horten auf Iptegrity.com; in einem Bericht auf Torrentfreak.com wird Peter Sunde zitiert, der gemeint habe: "not all doors are closed yet." Für das Verfahren vor dem EGMR sehe ich - da die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen wurde und daher, anders als bei Kammerurteilen (wie etwa Ashby Donald), auch keine Anrufung der Großen Kammer mehr möglich ist - allerdings keine offene Türen mehr.
Update 22.03.2013: siehe nun auch ein Blogpost von Dirk Voorhoof und Inger Høedt-Rasmussen auf dem Kluwer Copyright Blog und den Beitrag auf nipclaw.