Monday, December 21, 2015

EGMR: Rechtsanwalt muss es aushalten, auf einem Bewertungsportal als inkompetent bezeichnet zu werden

Vergangene Woche hat der EGMR seine Entscheidung vom 24. November 2015 im Fall Włodzimierz Kucharczyk gegen Polen (Appl. no 72966/13) bekanntgegeben. Darin hat er die Beschwerde eines polnischen Anwalts, der sich durch ein Posting auf einem Bewertungsportal in seiner Ehre verletzt fühlte, als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Die Entscheidung zieht recht weite Grenzen für die Kritik an anwaltlichen Fähigkeiten und kommt überdies zum Ergebnis, dass Art 8 EMRK nicht dazu zwingt, anonyme (oder pseudonyme) Postings generell zu untersagen.

Kommentar auf dem Bewertungsportal
Auf der Website www.znanyprawnik.eu war zum beschwerdeführenden Rechtsanwalt ein Eintrag, in dem 15 von 18 Kommentaren zu seiner Person sehr positiv für ihn waren. Das erste Posting allerdings bewertete seine Leistung als "very poor"; weiters hieß es darin (in der Übersetzung des EGMR): "I advise against [using] this attorney. [He] is utterly ignorant of his job. [He is] disorganised and incompetent." Der Kommentar war unter Pseudonym verfasst worden.

Ausgangsverfahren
Da sich Portalbetreiber weigerte, den Eintrag zu löschen, erstattete der Anwalt Strafanzeige wegen Verleumdung gegen den (unbekannten) Verfasser. Dieses Verfahren wurde eingestellt, weil der Portalbetreiber mitteilte, dass er die IP-Adresse der registrierten Nutzer nicht speichern konnte und so der Verfasser nicht ermittelt werden konnte. In der Folge ging der Anwalt gegen den Portalbetreiber zivilgerichtlich vor, weil dieser durch die Weigerung, das Posting zu löschen, seinen beruflichen Ruf ruiniert und in seine Persönlichkeitsrechte eingegriffen habe. Dabei blieb der Anwalt in allen Instanzen erfolglos (unter anderem im Hinblick darauf, dass das Posting selbst nicht rechtswidrig war und der Portalbetreiber daher auch nach E-Commerce-Recht nicht zur Entfernung verpflichtet war). Der Oberste Gerichtshof führte auch eine Abwägung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung durch und hielt fest, dass der Anwalt einen Beruf mit öffentlichem Vertrauen ausübe und daher öffentliche Bewertung und Meinungen akzeptieren müsse. Das Posting sei auch nicht besonders herabwürdigend noch sei es im Tonfall aggressiv und es habe auch nicht darauf abgezielt, den Anwalt lächerlich zu machen oder seinen Ruf als Anwalt zu zerstören.

Der Anwalt wandte sich an den EGMR, wobei sein Beschwerdevorbringen - er stützte sich nämlich auf Art 6 und Art 10 EMRK - auch nicht gerade für eine besonders positive Beurteilung in der Anwaltsbewertung sprechen. Der EGMR bog das missglückte Vorbringen aber um und prüfte es richtig unter Art 8 EMRK.

Entscheidung des EGMR
Da der Anwalt sich nicht gegen eine staatliche Aktion wandte, war zu prüfen, ob der Staat die sich aus Art 8 EMRK ergebenden positiven Verpflichtungen zum adäquaten Schutz des beruflichen Rufs verletzt habe. Der EGMR verweist dazu gleich auf den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen auf Schutz des guten Rufs und auf freie Meinungsäußerung. Ein Faktor, der bei dieser Abwägung zu berücksichtigen ist, ist die Position der von einer Veröffentlichung betroffenen Person.

- Anwaltsberuf als "profession ob public trust"
Die nationalen Gerichte hatten nicht festgestellt, ob der Anwalt etwa "public figures" vertreten hat oder sonst in aufsehenerregenden Fällen tätig war. Das hindert den EGMR aber nicht, da auch ein Anwalt ein unverzichtbares Element des Justizsystems ist und er einen Beruf öffentlichen Vertrauens ausübt. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse an Kommentaren über die beruflichen Fähigkeiten eines Anwalts - und Anwälte müssen damit leben, dass sie von jedermann, mit dem sie beruflichen Kontakt hatten, beurteilt werden. Wörtlich heißt es in der Entscheidung:
[...]it can readily be accepted that although an attorney has a different status to that of a judge or a prosecutor, his profession is nevertheless one of public trust. As such, he is an indispensable element of the justice system. Whether hired privately or assigned to represent someone under the legal-aid scheme, the role of an attorney is not merely to advise a client on the material aspects of a case or to ensure that a client’s economic interests are well represented vis-à-vis the adversary. His role goes well beyond this private aspect of an attorney-client relationship because that role is primarily to ensure that a person’s right to a fair trial is respected, whether in the determination of such person’s civil rights and obligations or in respect of any criminal charge against him. It is within this context that comments on a lawyer’s professional skills constitute matters in which the community at large has an interest. It follows that, as rightly pointed out by the domestic courts in the instant case, the applicant, as a practising lawyer, should have accepted that he might be subjected to evaluation by anyone with whom he had ever had any professional dealings. [Hervorhebung hinzugefügt]
- Werturteil
Der EGMR teilt auch die Ansicht der polnischen Gerichte, wonach es sich beim Posting um ein Werturteil gehandelt hat, das nicht mehr transportiert habe als den kritischen Eindruck, den der Verfasser von den juristsichen Fähigkeiten des Anwalts hatte ("conveying no more than the author’s critical impressions of the applicant’s legal skills"). Das Posting war nicht beleidigend oder vulgär, enthielt keine Drohungen und keine herabwürdigenden Anschuldigungen, etwa dass der Anwalt ein Disziplinarvergehen oder ein strafrechtliches Delikt begangen habe. Obwohl die Kritik also den Ruf des Anwalts berührt hat, war sie nicht verletzend, schockierend oder verstörend, und sie hat den Ruf des Anwalts auch nicht so sehr beschädigt, dass sie über die Grenzen zulässiger Kritik hinausgegangen wäre. Eine Beschränkung der Äußerungsfreiheit des Posters wäre daher nach Art 10 EMRK unverhältnismäßig gewesen.

- Art 8 EMRK verlangt keine Klarnamenpflicht für Postings
Eine interessante Frage streift der EGMR mehr, als dass er sie abschließend löst (was in einer Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht zu erwarten ist): Müsste der Staat dafür vorsorgen, dass der Verfasser des Postings ausfindig gemacht werden kann? Der EGMR verweist dazu auf den Fall K.U. gegen Finnland (im Blog dazu hier); die Umstände im vorliegenden Fall seien aber nicht einmal entfernt so schwerwiegend wie in jenem Fall ("grooming" von Minderjährigen). Nach den polnischen Rechtsvorschriften hätte der Anwalt zudem, wenn das Posting rechtswidrig gewesen wäre, eine Verfügung gegen den Portalbetreiber sowie allenfalls eine Entschädigung (und als polnische Spezialiät auch eine Entschuldigung) erreichen können; der Portalbetreiber hätte das Posting in diesem Fall auch entfernen müssen, um nicht selbst haftbar zu werden. Dieses System, das (abgesehen von der Entschuldigung) im Wesentlichen auf Basis der E-Commerce-Richtlinie in allen EU-Staaten umgesetzt sein sollte, genügt den Anforderungen des Art 8 EMRK.

Anmerkung
Nach österreichischem Recht besteht ein extrem weitgehendes (begründungsloses) Widerspruchsrecht gegen jede "nicht gesetzlich angeordnete Aufnahme in eine öffentlich zugängliche Datenanwendung" (§ 28 Abs 2 DSG). Wer also nicht in einem Bewertungsportal genannt werden möchte, könnte dies ohne weitere Begründung vom Betreiber verlangen. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Bestimmung allerdings vor kurzem (Erkenntnis vom 08.10.2015, G 264/15) wegen Widerspruchs zu Art 10 EMRK aufgehoben. Ausgangsfall beim VfGH war ein Ärztebewertungsportal, also eine durchaus vergleichbare "Datenanwendung" wie in dem vom EGMR entschiedenen Fall (auch der EGMR vergleicht Anwälte und Ärzte und verweist in seiner Entscheidung auf den Fall Bergens Tidende, in dem er festhielt, dass Vorwürfe von Patientinnen gegen einen Schönheitschirurgen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses betreffen - der VfGH bezieht sich in seinem Erkenntnis auch auf dieses Urteil des EGMR). Der VfGH hat allerdings für das Außerkrafttreten des § 28 Abs 2 DSG eine sehr lange Frist - bis zum 31.12.2016 - gesetzt. Dennoch wird, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist (was im Bereich des E-Commerce-Rechts der Fall wäre), die Aufhebungsfrist wohl dann nicht zu berücksichtigen sein, wenn dies in Widerstreit mit Art 11 GRC steht.

Tuesday, December 01, 2015

Ein Grundrecht auf YouTube-Zugang? EGMR verurteilt Türkei wegen YouTube-Sperre

Das wird Google - als Eigentümer von YouTube - freuen: der EGMR hat im heute verkündeten Urteil Cengiz ua gegen Türkei (Pressemitteilung) YouTube nicht nur als sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs bezeichnet, sondern diesem Dienst auch zugebilligt, das Entstehen eines Bürgerjournalismus ermöglicht zu haben, der oft Dinge ans Licht bringe, die von traditionellen Medien ignoriert würden. Die in der Türkei im Jahr 2008 gerichtlich angeordnete pauschale YouTube-Sperre hat, so der EGMR in seinem Urteil, die Beschwerdeführer in ihrem durch Art 10 EMRK geschützten Recht auf freien Empfang von Informationen und Ideen verletzt.

- Opferstatus
Hat der EGMR damit ein Menschenrecht auf YouTube-Zugang anerkannt, wie es die Süddeutsche zusammenfasst? Das ist vielleicht doch etwas zu verknappt dargestellt. Der EGMR hat in diesem Urteil anerkannt, dass YouTube-Nutzer - unter bestimmten Voraussetzungen - durch eine nicht an sie, sondern an Internet Access Provider gerichtete Sperrverfügung in ihren Rechten verletzt sein können (und damit "Opferstatus" nach der EMRK haben). Das impliziert, dass den Nutzern in solchen Fällen ein Rechtsweg offen stehen muss, um den dadurch bewirkten Eingriff in ihre Rechtsstellung bekämpfen zu können. [Dies erinnert sehr an das Urteil UPC Telekabel Wien des EuGH (im Blog dazu hier), in dem der EuGH zum Ergebnis gekommen ist, dass es bei Sperrverfügungen erforderlich ist, "dass die nationalen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit für die Internetnutzer vorsehen, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen, sobald die vom Anbieter von Internetzugangsdiensten getroffenen Durchführungsmaßnahmen bekannt sind."]

  ... aber nicht für alle
Der EGMR sieht aber nicht undifferenziert alle Nutzer als "Opfer" einer Sperre, sondern betont die notwendige Abwägung der Umstände des Einzelfalls, denn immerhin hat er schon einmal einen last.fm-Nutzer nicht als "Opfer" einer gegen diesen Dienst gerichteten Sperre beurteilt, obwohl dies prima facie vergleichbar scheint. Dass YouTube nicht bloß passiven Musikgenuss ermöglicht, sondern im aktuellen Fall aktive YouTube-Nutzer, die den Dienst auch beruflich/wissenschaftlich nutzten, die Beschwerde erhoben haben, war für die Zuerkennung des Opferstatus im vorliegenden Fall ebenso hilfreich wie der Umstand, dass YouTube eine Plattform für nicht-traditionelle Medien bietet. Und dass der EGMR selbst YouTube-Videos - zB zu den Voraussetzungen der Beschwerdeerhebung - bereitstellt, war der Bedeutung, die der EGMR dem Dienst zubilligt, jedenfalls auch nicht abträglich (wer weiß, wie der Fall mit last.fm ausgegangen wäre, hätte der EGMR seine Verhandlungen über diesen Dienst gestreamt!).

- keine Aussage zur Verhältnismäßigkeit von Sperren
Dass der EMRK im heute entschiedenen Fall den Opferstatus anerkennt, heißt aber nicht zwangsläufig, dass jede Sperre bereits eine Verletzung des Art 10 EMRK bedeuten muss. Im heute entschiedenen Fall lag die Verletzung des Art 10 EMRK darin, dass keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Sperranordnung bestand, sodass der EGMR seine Prüfung schon bei diesem Kriterium beenden konnte. Nach dem klassischen Prüfschema überprüft der EGMR ja zunächst, ob überhaupt ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt (das war hier gegeben) und danach, ob der Eingriff eine gesetzliche Grundlage hatte. Ist der Eingriff gesetzlich gedeckt, folgt die Prüfung, ob der Eingriff einem legitimen Ziel (im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK) diente und schließlich, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist. Zu diesen Kriterien hat sich der EGMR im vorliegenden Fall nicht geäußert (auch wenn dies der Kammerpräsident, wie er in einem Sondervotum schreibt, als sinnvoll angesehen hätte).

Ich gehe davon aus, dass der EGMR bei Vorliegen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage zum Ergebnis kommen könnte, dass eine Sperre legitimen Zielen dient (zB der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung); als wenig wahrscheinlich halte ich es aber, dass er eine derartig großflächige Sperranordnung wie die nicht näher differenzierte YouTube-Sperre als verhältnismäßig ansehen würde. Spannend scheint mir die Frage, wie die Sachlage zu beurteilen ist, wenn die Sperranordnung - wie dies nach der aktuellen türkischen Rechtslage der Fall ist - erst erfolgt, wenn der Diensteanbieter (also zB YouTube, nicht der Internet Access Provider) von den nationalen Behörden beanstandete Videos nicht entfernt, also gewissermaßen erst als Eskalationsstufe. Auf diese Fragen gibt das Urteil leider keine Antwort - und insofern kann man also auch nicht von einem unbedingten "Menschenrecht auf YouTube-Zugang" ausgehen.

- Bedeutung des Internet und von nicht-traditionellen Medien
Das Urteil schreibt die Rechtsprechung des EGMR fort, wonach das Internet "eines der wichtigsten Mittel des Einzelnen für die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit ist", und es zeigt, dass der EGMR den Bürgerjournalismus als Korrektiv für partielles Versagen der traditionellen Medien ansieht (im Englischen würde der Gerichtshof wohl den Begriff "mainstream media" verwenden), der gerade deshalb von Bedeutung ist.

Im Detail zum heutigen Urteil:

Zum Ausgangsfall
Am 5. Mai 2008 ordnete das erstinstanzliche Strafgericht von Ankara, gestützt auf das türkische Gesetz Nr. 5651, die Sperre des Zugangs zur Website http://www.youtube.com und zu einer näher spezifizierten IP-Range an. Grund dafür waren zehn auf YouTube verfügbare Videos, die nach Ansicht des Gerichts das Ansehen Atatürks beleidigten - nach türkischem Recht eine Straftat. Die YouTube-Sperre dauerte bis 30.10.2010.

Drei Rechtswissenschafter - Serkan Cengiz, Yaman Akdeniz und Kerem Altıparmak - wollten sich damit nicht abfinden und beantragten die Aufhebung der Sperre. Sie blieben vor den nationalen Gerichten erfolglos, zum einen weil die Gerichte zum Ergebnis kamen, dass die Sperre rechtmäßig war, und zum anderen, weil den Beschwerdeführern keine Parteistellung und damit kein Rechtsmittelrecht im Verfahren über die YouTube-Sperre zukomme.

Eingriff in die Meinungsfreiheit der YouTube-Nutzer?
Vor dem EGMR war vor allem strittig, ob die Beschwerdeführer überhaupt geltend machen konnten, durch die - nicht gegen sie gerichtete - Sperranordnung in ihrem durch Art 10 EMRK geschützten Rechte im Sinne des Art 34 EMRK verletzt zu sein. Die EMRK kennt nämlich keine Popularklage, die Beschwerdeführer müssen geltend machen, selbst direkt oder indirekt Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, die von einem staatlichen Akt (oder einem dem Staat zurechenbaren Akt) ausgeht.

In der Entscheidung Tanrıkulu ua gegen Türkei hatte der EGMR die Leser einer Tageszeitung, deren Vertrieb untersagt worden war, nicht als "Opfer" anerkannt; ebenso in der Entscheidung Akdeniz gegen Türkei einen Nutzer von myspace und last.fm (der damalige Beschwerdeführer Yaman Akdeniz ist auch Beschwerdeführer im nun entschiedenen Fall).

Unter Hinweis auf diese beiden Entscheidungen hält der EGMR fest, dass die Frage, ob jemand Opfer einer Zugangssperre zu einer Website ist, eine Einzelfallbeurteilung verlangt. Die Antwort hängt vor allem davon ab, wie der Betroffene die Seite nutzt wie schwer die Folgen der Sperre für ihn sind. Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass das Internet heute eines der wichtigsten Mittel des Einzelnen für die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit ist, wie der EGMR dies bereits im Urteil Yıldırım (dazu im Blog hier) festgestellt hat:
[...] la réponse à la question de savoir si un requérant peut se prétendre victime d’une mesure de blocage d’accès à un site internet dépend donc d’une appréciation des circonstances de chaque affaire, en particulier de la manière dont celui-ci utilise le site internet et de l’ampleur des conséquences de pareille mesure qui peuvent se produire pour lui. Entre également en ligne de compte le fait que l’Internet est aujourd’hui devenu l’un des principaux moyens d’exercice par les individus de leur droit à la liberté de recevoir ou de communiquer des informations ou des idées: on y trouve des outils essentiels de participation aux activités et débats relatifs à des questions politiques ou d’intérêt public (Ahmet Yıldırım, précité, § 54).
Im konkreten Fall hatten die Beschwerdeführer YouTube aktiv genutzt und auch dargelegt, dass sich die Sperre von YouTube auf ihre berufliche Tätigkeit auswirke; sie nutzten die Plattform nicht nur zum Ansehen von berufsbezogenen Videos, sondern luden auch selbst Videos hoch und teilten sie. Zwei der Beschwerdeführer nutzten YouTube auch zur Veröffentlichung von wissenschaftlichen Aktivitäten.

Der EGMR sieht den Fall daher näher am Fall Yıldırım (wo einem Wissenschafter der Zugang zu Google Pages - auf denen er Arbeiten veröffentlichte - verwehrt worden war) als am Fall Akdeniz, wo es um einen bloßen Nutzer von Musik-Diensten ging. Zudem verbreite Youtube nicht nur Musik- und künstlerische Werke, sondern sei eine sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs sowie für politische und soziale Aktivitäten. Die Sperre von YouTube habe zB den Zugang zu einer Seite gesperrt, die besondere Informationen für Beschwerdeführer vor dem EGMR enthielt, welche auf andere Art nicht leicht zugänglich seien (siehe zB das Video, wie man eine Beschwerde einbringt).

Der EGMR betont dann neuerlich die Wichtigkeit des Internets für die freie Meinungsäußerung (Hinweise auf Times Newspapers (Nr 1 und 2), Abs 27; und Delfi, Abs 110). YouTube sei zweifelsfrei ein bedeutendes Instrument zur Ausübung der freien Meinungsäußerung und zum Empfang von Informationen. Im Besonderen sei politische Information, die von traditionellen Medien ignoriert worden sei, oft über YouTube bekannt gemacht worden, und YouTube habe auch die Entwicklung eines Bürgerjournalismus ermöglicht. Unter diesem Gesichtspunkt sei YouTube einzigartig im Hinblick auf seine Eigenschaften, seine Zugänglichkeit und seine möglichen Wirkungen. Für die Beschwerdeführer habe es kein Äquivalent zu YouTube gegeben:
En particulier, comme les requérants l’ont noté à juste titre, les informations politiques ignorées par les médias traditionnels ont souvent été divulguées par le biais de YouTube, ce qui a permis l’émergence d’un journalisme citoyen. Dans cette optique, la Cour admet que cette plateforme était unique compte tenu de ses caractéristiques, de son niveau d’accessibilité et surtout de son impact potentiel, et qu’il n’existait, pour les requérants, aucun équivalent.
Der türkische Verfassungsgerichtshof habe dies in zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2014 betreffend Twitter und YouTube ebenfalls so gesehen und den Opferstatus der Beschwerdeführer anerkannt. Der EGMR teilt diese Beurteilung ausdrücklich und kommt zum Ergebnis, dass im konkreten Fall der Opferstatus der Beschwerdeführer gegeben ist. Der EGMR formuliert dabei vorsichtig; er betont die Notwendigkeit einer flexiblen Handhabung der Kriterien für den Opferstatus und des Abstellens auf die Umstände des Einzelfalls. Die Beschwerdeführer waren aber als aktive YouTube-Nutzer durch die gerichtlich angeordnete Sperre für lange Zeit vom Zugang zu YouTube ausgeschlossen und damit durch eine dem Staat zurechenbare Maßnahme in ihrem Recht auf Empfang von Informationen und Ideen betroffen - der EGMR bejaht damit das Vorliegen eines Eingriffs in die durch Art 10 EMRK geschützten Rechte.

Keine gesetzliche Grundlage für den Eingriff
Vergleichsweise kurz fällt die Beurteilung des EGMR zur Rechtfertigung des Eingriffs aus: wie schon im Fall Yıldırım (dazu im Blog hier) ausgeführt, reichte die von den türkischen Gerichten herangezogene gesetzliche Grundlage nach Ansicht des EGMR nicht aus, um den Eingriff zu legitimieren (siehe dazu noch unten zum Sondervotum von Richter Lemmens).

Der EGMR kam daher - einstimmig - zum Ergebnis, dass eine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag.

Rechtsmittelrecht?
Ein Beschwerdeführer machte vor dem EGMR auch geltend, dass ihm kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Sperre zur Verfügung stand und er dadurch in seinen Rechten nach Art 6 EMRK verletzt worden sei. Der EGMR sah es - auf Grund der Entscheidung über die Verletzung nach Art 10 EMRK - als nicht mehr erforderlich, auch über diese Frage zu entscheiden.

Strukturelle Probleme in der Türkei?
Schließlich beantragten die Beschwerdeführer noch, dass der EGMR der Türkei nach Art 46 EMRK mitteile, welche allgemeinen Maßnahmen zu treffen seien, um das Problem zu beheben. Dazu hielt der EGMR fest, dass der Fall auf strukturelle Probleme in der Türkei hinweise, dass aber das Gesetz - das den Anforderungen des EGMR nicht entspach - mittlerweile geändert wurde und es nicht Aufgabe des EGMR sei, abstrakt über die Vereinbarkeit der nationalen Rechtslage mit der EMRK zu urteilen (legt man die in diesem Urteil zum Ausdruck kommenden Maßstäbe an, dürfte aber wohl auch die neue Rechtslage - die nun ausdrücklich die Sperre des Zugangs zu einer gesamten Website ermöglicht - den Anforderungen des EGMR nicht genügen),

Sondervotum von Richter Lemmens
Paul Lemmens, der Präsident der entscheidenden Kammer, verfasste ein zustimmendes Sondervotum, in dem er darauf hinweist, dass die Begründung im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage unklar sei. Seiner Ansicht nach lag eine gesetzliche Grundlage vor, die konkrete Maßnahme habe aber nicht wirksam auf diese Grundlage gestützt werden können. Außerdem habe der EGMR die Gelegenheit versäumt, auch darauf einzugehen, ob die Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgt habe und verhältnismäßig gewesen sei. Wäre der EGMR darauf eingegangen, wenn auch nur als obiter dictum, hätte dies den Bürgern und den Behörden der Türkei Aufschluss über die Prinzipien geben können, die bei der Anwendung auch des geänderten Gesetzes über Internetsperren zu berücksichtigen sind.

PS (update 02.12.2015): wer mehr zum türkischen Gesetz Nr. 5651 wissen will, kann das (in englsicher Sprache) in einem von zwei der drei Beschwerdeführer verfassten Buch nachlesen, das online kostenlos verfügbar ist: Dr. Yaman AKDENIZ & Dr. Kerem ALTIPARMAK, Internet: Restricted Access A Critical Assessment of Internet Content Regulation and Censorship in Turkey (November 2008).

Friday, November 20, 2015

"With respect": Court of Appeal hat Zweifel an Reichweite des EuGH-Urteils zur Vorratsdatenspeicherung - neues Vorabentscheidungsersuchen

Der Court of Appeal für England und Wales (Civil Division) hat in einem heute bekanntgegebenen Urteil entschieden, dem EuGH Fragen zur Vorratsdatenspeicherung vorzulegen ([2015] EWCA Civ 1185).

Die Entscheidung wurde in einem Verfahren getroffen, das (ua) von zwei Parlamentariern (dem konservativen David Davis und Tom Watson von Labour) initiiert worden war. Es geht dabei um den Data Retention and Investigatory Powers Act 2014 ("DRIPA"), der es - vereinfacht gesagt - ermöglicht, Telekom-Betreiber zur Speicherung von Vorratsdaten für höchstens zwölf Monate zu verpflichten und der den Zugang zu diesen Daten, unter anderem aus Gründen der nationalen Sicherheit, aber auch des wirtschaftlichen Wohlergehens des UK, regelt. Der (in erster Instanz entscheidende) High Court hatte darin einen Widerspruch zum Unionsrecht gesehen und section 1 von DRIPA ab 1. März 2016 als (teilweise) unanwendbar erklärt (Urteil: [2015] EWHC 2092 (Admin)).

Für den Court of Appeal ist die Sache nicht so eindeutig, er tendiert eher dazu, DRIPA als mit Unionsrecht vereinbar zu beurteilen. Zugleich hat der Court of Appeal erhebliche Zweifel, was denn der EuGH mit dem Urteil zur Vorratsdaten-RL (C-293/12 Digital Rights Ireland und C-594/12 Seitlinger ua) genau festlegen wollte. Höflich, wie es ein englisches Gericht eben sein muss, formuliert der Court of Appeal:
Although the CJEU has pronounced in Digital Rights Ireland, there is, with respect, considerable doubt as to the effect of its decision. On this, we have the misfortune to have come to a provisional view which differs from that of the Divisional Court.
Das "Unglück" des Instanzgerichts, zu einem anderen Ergebnis als das erstinstanzliche Gericht zu kommen, verbunden mit den Zweifeln über die Reichweite des VDS-Urteils, führt also zu einem neuen Vorabentscheidungsersuchen.

Anforderungen an VDS-Richtlinie nicht dieselben wie an nationale VDS-Regeln?
Der Court of Appeal streicht heraus, dass der EuGH die Vereinbarkeit einer EU-Richtlinie mit der Grundrechtecharta zu beurteilen hatte. Was der EuGH als Mindestanforderungen an eine EU-Richtlinie beurteilte, müsse nicht notwendigerweise automatisch auch für nationale Rechtsvorschriften gelten. Die vom EuGH in den RNr 57-59 und 60-62 seines Urteils vorgenommene Aufzählung sei bloß deskriptiv, ein "catalogue of failings and omissions". Da der EuGH die Richtlinie zu beurteilen gehabt habe, habe er nicht auf "safeguards" eingehen können, die auf nationaler Ebene bestehen. Zudem seien nicht alle kritischen Anmerkungen des EuGH als zwingende Anforderungen (für Unionsrecht oder nationales Recht) zu verstehen, dazu seien sie zu allgemein. Der EuGH habe schlicht die Fehler der Richtlinie beschrieben und keine zwingenden Anforderungen festgelegt. Die Entscheidung des EuGH, dass die Vorratsdaten-RL ungültig ist, sei eine Folge des kumulativen Effekts von allem gewesen, was die Richtlinie nicht beinhaltet habe:
It is therefore our provisional view that the Court of Justice in Digital Rights Ireland was not laying down specific mandatory requirements of EU law but was simply identifying and describing protections that were entirely absent from the harmonised EU regime. The Court’s conclusion that the Data Retention Directive was unlawful was compelled by the cumulative effect of what was not in the Data Retention Directive.
Das betrifft zunächst die Beschränkung des Zugangs auf Fälle schwerwiegender Straftaten. Der Court of Appeal akzeptiert zwar, dass grundsätzlich die Rechtfertigung für den Datenzugang umso gewichtiger sein muss, je gewichtiger der Eingriff in Grundrechte ist, glaubt aber nicht, dass der EuGH vorgegeben habe, dass ein Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten nur zum Zweck der Verhinderung, Aufklärung oder Verfolgung schwerer Straftaten zulässig sein sollte. Ähnlich sieht er das im Hinblick auf das Erfordernis vorheriger richterlicher oder sonst unabhängiger Genehmigung (zumal der EuGH dabei - in RNr 62 seines Urteils - weder auf Rechtsprechung verwiesen habe noch auf gegenläufige Argumente eingegangen sei). Auch dass Daten zwingend innerhalb der Union zu speichern seien, sei nicht als Mindestanforderung an nationale Rechtsvorschriften zu verstehen.

Anwendungsbereich des Unionsrechts
Interessant sind die Ausführungen zur Reichweite der Grundrechtecharta. Unstrittig sei, dass die Rechtsvorschriften zur Speicherung der Daten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und daher den Anforderungen des Art 15 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation entsprechen müssen. Das teilt auch der Court of Appeals, der sowohl Speicherverpflichtung als auch Speicherung im Anwendungsbereich des Unionsrechts sieht. Unklarer sei das beim Zugang zu den gespeicherten Daten: Der EuGH habe festgehalten, dass bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Systems der Vorratsdatenspeicherung die Regeln für den Zugang zu diesen Daten notwendigerweise mit zu berücksichtigen sind. Der EuGH habe dies aber im Zusammenhang mit der Prüfung einer EU-Richtlinie ausgesprochen, und es wäre "überraschend", hätte er damit beabsichtigt, zwingende Anforderungen für ein nationales Regelwerk festzulegen, das außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liege, außer insoweit, als es beiläufig für das System der Datenspeicherung relevant sei:
Nevertheless, the CJEU was here concerned with a Directive which established a regime for retention. Having regard to this context it would, in our view, be surprising if the CJEU had intended to lay down definitive mandatory requirements for an access regime which lies outside the scope of EU law save to the extent that it is incidentally relevant to the retention regime. [...] It seems to us more likely, therefore, that the CJEU was simply pointing to the failure of the Data Retention Directive to provide any safeguards in this regard.
Der EuGH, so meint der Court of Appeals daher, habe sich mit der Frage von zwingenden Anforderungen an nationale Regeln für den Zugang zu Vorratsdaten gar nicht befasst.

Ging der EuGH über die Anforderungen der EGMR-Rechtsprechung zu Art 8 EMRK hinaus?
Der Court of Appeal ist sich auch nicht sicher, ob der EuGH in seinem Urteil weiter gehen wollte als der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art 8 EMRK. Er bezieht sich dabei vor allem auf das Urteil Kennedy des EGMR, in dem dieser keine vorhergehende richterliche Genehmigung für den Zugang zu gespeicherten Daten (hier sogar zu Inhaltsdaten) verlangt hatte. Der EuGH habe dagegen in RNr 62 seines Urteils auffallend genau ("with a striking degree of particularity") darauf verwiesen, dass "der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den auf Vorrat gespeicherten Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle [unterliegt], deren Entscheidung den Zugang zu den Daten und ihre Nutzung auf das zur Erreichung des verfolgten Ziels absolut Notwendige beschränken soll und im Anschluss an einen mit Gründen versehenen Antrag der genannten Behörden im Rahmen von Verfahren zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung von Straftaten ergeht." Wenn der EuGH damit - was der Court of Appeal nicht glaubt - weiter gehen wollte als der EGMR, so habe er dafür keine Gründe angegeben und auch die Rechtsprechung des EGMR nicht zitiert.

Vorlagefragen
Der Court of Appeal, der die Rechtsansicht des Erstgerichts demnach überwiegend nicht teilt, sieht sich veranlasst, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Dies auch vor dem ausdrücklich angesprochenen Hintergrund, dass sechs nationale Gerichte, darunter fünf Höchstgerichte, im Gefolge des EuGH-Urteils zur Vorratsdaten-RL nationale Rechtsvorschriften aufgehoben haben (darunter natürlich auch der österreichische Verfassungsgerichtshof). Zudem sei der "true effect" des Vorratsdaten-Urteils des EuGH für die Gültigkeit jeder zukünftigen Regelung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich von zentraler Bedeutung.

Der Court of Appeal formuliert die folgenden zwei Fragen, die er dem EuGH vorlegen möchte.
(1) Did the CJEU in Digital Rights Ireland intend to lay down mandatory requirements of EU law with which the national legislation of Member States must comply?
(2) Did the CJEU in Digital Rights Ireland intend to expand the effect of Articles 7 and/or 8, EU Charter beyond the effect of Article 8 as established in the jurisprudence of the ECtHR?
Zu den endgültigen Fragen werden, dem englischen Prozessrecht folgend, noch die Parteien gehört; die tatsächlich gestellten Fragen können also noch abweichen. Meines Erachtens wären die Fragen, so wie sie jetzt vorliegen, jedenfalls nicht geeignet, vom EuGH ohne großzügige Umdeutung (die der EuGH freilich oft vornimmt) beantwortet zu werden.

Der Court of Appeal wird ein beschleunigtes Verfahren beantragen und schlägt auch vor, die Rechtssache mit dem bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des Kammarrätten i Stockholm, das sich mit der Vereinbarkeit nationaler Vorratsdaten-Regelungen mit Art 15 Abs 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation befasst, zu verbinden.

Update 17.01.2016: Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 28.12.2015 beim EuGH eingelangt und zu C-698/15 Davis ua anhängig; die konkreten Vorlagefragen hat der EuGH noch nicht veröffentlicht (siehe zum Vorabentscheidungsersuchen auch den Beitrag auf EU Law Radar).

Update 17.03.2016: Die tatsächlichen Vorlagefragen wurden nun vom EuGH veröffentlicht. Sie lauten:
1. Legt das Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 und C-594/12, Digital Rights Ireland und Seitlinger u. a., ECLI:EU:C:2014:238 (im Folgenden: Digital Rights Ireland) (einschließlich insbesondere der Rn. 60 bis 62) verbindliche, für die nationale Regelung eines Mitgliedstaats über den Zugang zu gemäß den nationalen Rechtsvorschriften auf Vorrat gespeicherten Daten geltende Voraussetzungen für die Vereinbarkeit mit den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) fest? 
2. Erweitert das Urteil Digital Rights Ireland des Gerichtshofs den Anwendungsbereich von Art. 7 und/oder Art. 8 der Charta über den Anwendungsbereich von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wie er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) festgestellt ist, hinaus?
Der EuGH hat die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens beschlossen (Beschluss vom 01.02.2016), am 12.04.2016 findet die Verhandlung vor dem EuGH statt.

Update 26.07.2016: zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in dieser Rechtssache siehe im Blog hier,

Wednesday, October 21, 2015

Wie ein Pferd aussieht, weiß vielleicht doch nicht jeder: EuGH zum Videoangebot einer Zeitungs-Website als audiovisueller Mediendienst

Der EuGH hat heute sein Urteil in der Rechtssache C-347/14 New Media Online verkündet (siehe auch die Pressemitteilung des EuGH; zum Vorabentscheidungsersuchen siehe im Blog hier). Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage, ob die Bereitstellung von Videos mit kurzen Sequenzen aus lokalen Nachrichten, Sport und Unterhaltung auf einer Subdomain einer "elektronischen Ausgabe einer Tageszeitung" als audiovisueller Mediendienst (auf Abruf) im Sinne der RL über audiovisuelle Mediendienste anzusehen ist.

Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen noch gemeint „Wie ein Pferd aussieht, das weiß ein jeder“, und darauf aufbauend Folgendes geschrieben:
Der Umstand, dass es in der Theorie Schwierigkeiten bereitet, den audiovisuellen Mediendienst abstrakt zu definieren, bedeutet nicht, dass er auch in der Praxis schwer zu identifizieren ist. Der größte Teil der Dienste dieser Art beruht darauf, dass auf Internetseiten Langspielfilme, Fernsehserien, Sportübertragungen usw. angeboten werden. Es handelt sich also um Formen von Sendungen, die leicht als typische Fernsehsendungen eingestuft werden können. Tauchen jedoch Zweifel auf, ist im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie über die audiovisuellen Mediendienste in der Weise zu entscheiden, dass sie auf multimediale Internetseiten keine Anwendung findet. Als audiovisuelle Mediendienste dürfen daher nur diejenigen Internetseiten angesehen werden, die zweifelsfrei alle Kriterien dieses Dienstes erfüllen.
Der Generalanwalt war daher auch zum Ergebnis gekommen, dass die RL über audiovisuelle Mediendienste dahin auszulegen sei, dass weder die Internetseite einer Tageszeitung, die audiovisuelles Material enthält, noch irgendein Teilbereich dieser Internetseite als ein audiovisueller Mediendienst im Sinne dieser Richtlinie anzusehen sei.

Vielleicht ist es aber doch nicht so klar, wie ein Pferd aussieht: Der EuGH ist jedenfalls von den Schlussanträgen abgewichen und hat die vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Fragen folgendermaßen beantwortet:
1. Der Begriff „Sendung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) ist dahin auszulegen, dass er die Bereitstellung kurzer Videos, die kurzen Sequenzen aus lokalen Nachrichten, Sport oder Unterhaltung entsprechen, in einer Subdomain der Website einer Zeitung erfasst.
2. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie 2010/13 ist dahin auszulegen, dass bei der Beurteilung des Hauptzwecks eines in der elektronischen Ausgabe einer Zeitung angebotenen Dienstes der Bereitstellung von Videos darauf abzustellen ist, ob dieser Dienst als solcher in Inhalt und Funktion gegenüber der journalistischen Tätigkeit des Betreibers der betreffenden Website eigenständig und nicht nur eine – insbesondere wegen der zwischen dem audiovisuellen Angebot und dem Textangebot bestehenden Verbindungen – unabtrennbare Ergänzung dieser Tätigkeit ist. Diese Beurteilung ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Auch Videos (sehr) kurzer Dauer (nach dem Sachverhalt ging es um Videos von "30 Sekunden bis mehrere Minuten") stehen demnach einer Einstufung als "Sendung" nicht entgegen (Rn 20). Zudem geht der EuGH davon aus, dass sich die Videos - offenbar allein weil sie auf der Website zum Abruf bereitstehen - "wie ein Fernsehprogramm an ein Massenpublikum richten und bei diesem im Sinne des 21. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2010/13 eine deutliche Wirkung entfalten können" (Rn 21); ob die Videos tatsächlich ein Massenpublikum erreichen (und bei diesem "deutliche Wirkung" entfalten), scheint es daher nicht anzukommen. Wesentlich ist der Umstand, dass die Videos in Wettbewerb zu den von den (regionalen) Fernsehsendern angebotenen Informationsdiensten treten (Rn 23) bzw dass gleiche Wettbewerbsbedingungen (Rn 31) erreicht werden.

[Da ich am Ausgangsverfahren beim Verwaltungsgerichtshof als Richter beteiligt bin, kommentiere ich die Angelegenheit nicht weiter - auch nicht die Reaktion des Verbandes Österreichischer Zeitungen. Update: siehe auch die Berichte auf lto.de, in der Wiener Zeitung, auf derstandard.at, auf kurier.at, auf EurActiv.de]

Tuesday, October 20, 2015

Große Kammer des EGMR - Fall Pentikäinen: "verantwortungsvoller Journalismus" verlangt die Einhaltung allgemeiner Rechtsvorschriften

Die Große Kammer des EGMR hat heute das Urteil im Fall Pentikäinen gegen Finnland verkündet, in dem es um die Verurteilung eines Pressefotografen wegen Missachtung polizeilicher Anordnungen bei einer Demonstration ging. Die Große Kammer bestätigte das in dieser Sache ergangene Kammer-Urteil vom 04.02.2014 (im Blog hier eher kritisch beleuchtet). Nach den Urteilen in den Fällen Delfi gegen Estland und Perinçek gegen Schweiz ist dies nun das dritte Urteil in Folge, in dem die Große Kammer in Streitfällen nach Art 10 EMRK die Kammer-Urteile - ungeachtet teils recht heftiger Kritik - bestätigt hat.

Der Sachverhalt ist etwas unübersichtlich und in den Details nicht ganz unstrittig, und der EGMR hebt auch hervor, dass das Ergebnis im Licht der spezifischen Umstände des Falles zu sehen ist, wobei man darauf Bedacht nehmen müsse, jegliche Beschränkung der "watch-dog"-Rolle der Medien zu vermeiden ("The Court would stress that this conclusion must be seen on the basis of the particular circumstances of the instant case, due regard being had to the need to avoid any impairment of the media’s 'watch-dog' role"). Dennoch bringt das Urteil ein eher restriktives Verständnis von "verantwortungsvollem Journalismus" ("responsible journalism") ins Spiel, das - da es immerhin das Urteil einer Großen Kammer ist - weitreichende Folgen haben könnte. Die von vier Richtern vertretene Minderheitsmeinung (siehe dazu ganz unten) sieht in diesem Urteil immerhin die Gefahr von signifikanten "chilling effects" auf die Berichterstattung über Demonstrationen und ein Einfallstor für weitgehende Maßnahmen gegenüber journalistischem Handeln im Falle von Polizeigewalt.

Zum Ausgangsfall (zusammengefasst aus dem Blogpost vom 04.02.2104):
Am 9. September 2006 fand in Helsinki ein "Asia-Europe-Meeting" statt, gegen das mit einer "Smash ASEM"-Kundgebung demonstriert wurde.Zu Beginn der Demo wurden Flaschen, Steine und mit Farbe gefüllte Gläser auf die Polizei und umstehende Personen geworfen. Als die Demonstranten die Polizeiabsperrungen durchbrechen wollten, löste die Polizei die Kundgebung auf und forderte die Demonstranten auf, den Platz zu verlassen. Verbleibende Demonstranten wurden eingekesselt; die Polizei erlaubte ihnen, den Platz zu verlassen, stellte aber ihre Identität fest. Eine Kerngruppe von rund zwanzig Demonstranten verblieb auf dem Platz, obwohl die Polizei angekündigt hatte, sie festzunehmen, wenn sie den Platz nicht verlassen. Unter diesen auf dem Platz verbliebenen Demonstranten war auch der Beschwerdeführer vor dem EGMR, der Pressefotograf Markus Pentikäinen. Er wurde - mit den anderen Demonstranten - festgenommen und blieb fast 18 Stunden in Polizeigewahrsam.

Im nachfolgenden Gerichtsverfahren wegen Nichtbefolgung einer polizeilichen Anordnung wurde der Beschwerdeführer schuldig gesprochen; von der Verhängung einer Strafe wurde jedoch im Hinblick auf die Stellung des Beschwerdeführers als Journalist abgesehen; er habe sich mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert gesehen, einerseits von der Polizei, die ihn zum Verlassen, und andererseits von seinem Dienstgeber, der ihn zum Bleiben aufgefordert hatte.

Internationale Standards unnd Rechtsvergleichung
Der EGMR hält fest, dass in internationalen und europäischen "Standards" kaum Hinweise auf das Verhalten von Journalisten während Demonstrationen zu finden seien. Einige Empfehlungen würden aber das Verhalten der Polizei betreffen, so etwa die OSCE/ODIHR/Venice Commission Guidelines on freedom of peaceful assembly, in denen es heißt, dass ua Journalisten bei der Auflösung einer Versammlung nicht daran gehindert werden dürfen, das Handeln der Polizei zu beobachten. Aus dem "Case Law", das man nur in fünf Konventionsstaaten - darunter Österreich (gemeint wohl das Erkenntnis des VfGH vom 20.09.2012, B 1359/11) - fand, seien keine generellen Schlüsse abzuleiten.

Rechtvergleichend stellt der EGMR fest, dass alle untersuchten Konventionsstaaten auf das Verhalten von Journalisten bei der Berichterstattung über Demonstrationen das allgemeine Strafrecht anwenden; auch die Befugnisse der Polizei gegenüber Journalisten bei gewalttätigen Demonstrationen seien in der überwiegenden Mehrheit der Staaten nicht gesondert geregelt. Schließlich würden auch die Verhaltenskodizes für Journalisten auf das Verhältnis zwischen Journalisten und Polizei bei Demonstrationen nicht eingehen.

Eingriff - gesetzliche Grundlage - legitimes Ziel
Dass ein Eingriff vorlag, wurde zwar ebenso bestritten (von der Regierung), wie dass dafür eine gesetzliche Grundlage bestand (vom Beschwerdeführer); beides wird vom EGMR knapp behandelt und bejaht (Rn 82-85). Dass die gesetzliche Regelung einem legitimen Ziel dient, stand außer Streit (Rn 86). Damit bleibt nur mehr die Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Zur "Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft"
Der EGMR verweist zu den allgemeinen Prinzipien eingangs auf die Urteile der Großen Kammer Stoll, Animal Defenders International und Morice (Rn 87) und betont anschließend die entscheidende Rolle der Medien bei der Vermittlung von Informationen darüber, wie die Behörden mit Demonstrationen und Ausschreitungen umgehen. Jeder Versuch, Journalisten vom Ort einer Demonstration wegzuweisen, müsse daher einer strengen Kontrolle unterzogen werden (Rn 89).

Verantwortungsvoller Journalismus: Der Schutz des Art 10 EMRK für Journalisten steht unter dem Vorbehalt, dass sich diese redlich verhalten, um präzise und verlässliche Information in Übereinstimmung mit den Grundsätzen eines verantwortungsvollen Journalismus bereitzustellen ("subject to the proviso that they act in good faith in order to provide accurate and reliable information in accordance with the tenets of responsible journalism"). Dieses Konzept des verantwortungsvollen Journalismus ist nicht auf den Inhalt der Informartion beschränkt, sondern auch auf das Verhalten des Journalisten. In Rn 90 des Urteils heißt es dazu:
However, the concept of responsible journalism, as a professional activity which enjoys the protection of Article 10 of the Convention, is not confined to the contents of information which is collected and/or disseminated by journalistic means. That concept also embraces, inter alia, the lawfulness of the conduct of a journalist, including, and of relevance to the instant case, his or her public interaction with the authorities when exercising journalistic functions. The fact that a journalist has breached the law in that connection is a most relevant, albeit not decisive, consideration when determining whether he or she has acted responsibly.
Mit anderen Worten: wenn sich ein Journalist nicht an die Rechtsvorschriften hält (im konkreten Fall eine Anordnung der Polizei, den Platz zu verlassen), ist das ein entscheidender Faktor für die Beurteilung, ob "verantwortungsvoller Journalismus" vorliegt, der den Schutz des Art 10 EMRK genießt. Das ist eine Aussage im Urteil der Großen Kammer, die in dieser Direktheit bisher noch nicht in der Rechtsprechung des EGMR zu finden war.

Kennzeichnungspflicht für Journalisten? Zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den konkreten Fall hält der EGMR zunächst fest, dass die Anordnungen der Polizei, insbesondere auch die Anweisung, den Platz zu verlassen, gerechtfertigt waren, zumal mit Gewaltuasschreitungen zu rechnen war (Rn 96; interessant übrigens auch das Setup: 50 Demonstranten, 500 "bystanders", 50 Journalisten, 480 Polizisten).

Der Pressefotograf war bis zu seiner Festnahme nicht gehindert worden, Fotos zu machen (sein letztes Foto zeigte den festnehmenden Polizisten). Aufgrund seiner dunklen Kleidung, die dem Dresscode der Demonstranten entsprach, war er als Journalist nicht leicht identifizierbar; weder ein Presse-Badge war zu sehen, noch irgendein sonstiger Hinweis, zB auf der Kamera, der ihn als Mitarbeiter einer Zeitschrift auswies. Der EGMR statuiert dann eine Art Verpflichtung, sich als Journalist erkennbar zu zeigen (Rn 99)
the Court considers that, had the applicant wished to be acknowledged as a journalist by the police, he should have made sufficiently clear efforts to identify himself as such either by wearing distinguishable clothing or keeping his press badge visible at all times, or by any other appropriate means. He failed to do so.
Der EGMR geht auch davon aus, dass dem Fotografen dei Anordnungen der Polizei bekannt waren und dass ihm als Journalisten, der über Polizeimaßnahmen berichtet, auch die rechtlichen Konsequenzen einer Missachtung polizeilicher Anordnungen bewusst sein mussten. Der Beschwerdeführer sei daher wissentlich das Risiko eingegangen, von der Polizei festgenommen zu werden (Rn 100). Schließlich misst der EGMR auch dem Verhalten der anderen Journalisten Bedeutung bei: diese hatten nämlich die Polizeianweisungen befolgt. Auch der Beschwerdeführer hätte ohne Konsequenzen den Polizeikessel verlassen und außerhalb des Kessels weiter berichten können.

Zur Anhaltung gehen die Sachverhaltsschilderungen auseinander, ob die Polizei Telefon, Kamera und Speicherkarten inspiziert hat; für den EGMR ist wesentlich, dass die gesamte Ausrüstung wieder zurückgegeben wurde, keine Fotos gelöscht worden waren und auch keine Beschränkungen für die Verwendung der Fotos auferlegt worden waren.

Der EGMR hält fest, dass die Demonstration eine Angelegenheit von legitimem öffentlichem Interesse war, sodass die Medien die Aufgabe hatten, darüber zu berichten. Auch hier betont der EGMR allerdings wieder, dass nur der Beschwerdeführer - aber keiner der anderen rund 50 Journalisten - behauptet habe, dass sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei (Rn 107). Zudem sei der Eingriff von beschränktem Umfang gewesen, da über die Demonstration auch von außerhalb des Polizeikessels hätte berichtet werden können (Rn. 108).

Vor allem aber, so der EGMR im Hinblick auf die Veurteilung des Beschwerdeführers, geht es nicht um eine Sanktion für journalistisches Arbeiten (Informationsbeschaffung), sondern um die Bestrafung wegen der Weigerung, eine rechtmäßige allgemeine polizeiliche Anweisung am Ende einer gewalttätigten Auseinandersetzung zu befolgen. Dass der Beschwerdeführer Journalist war, berechtigte ihn nicht zu einer Sonderbehandlung: "the fact that the applicant was a journalist did not entitle him to preferential or different treatment in comparison to the other people left at the scene" (Rn 109).

Verantwortungsvoller Journalismus: Anweisungen der Polizei gehen der beruflichen Aufgabe vor!
Der EGMR erkennt, dass Journalisten in Konflikte kommen können zwischen der Pflicht zu rechtmäßigem Handeln und ihrer beruflichen Aufgabe, Informationeen zu beschaffen und zu verbreiten - und er kommt zu einem sehr einfachen Ergebnis: wenn sich der Journalist für seine beruflcihe Aufgabe entscheidet, muss er eben die (straf-)rechtlichen Konsequenzen tragen! Wörtlich heißt es in Rn. 110:
the Court accepts that journalists may sometimes face a conflict between the general duty to abide by ordinary criminal law, of which journalists are not absolved, and their professional duty to obtain and disseminate information thus enabling the media to play its essential role as a public watchdog. Against the background of this conflict of interests, it has to be emphasised that the concept of responsible journalism requires that whenever a journalist – as well as his or her employer – has to make a choice between the two duties and if he or she makes this choice to the detriment of the duty to abide by ordinary criminal law, such journalist has to be aware that he or she assumes the risk of being subject to legal sanctions, including those of a criminal character, by not obeying the lawful orders of, inter alia, the police. [Hervorhebung hinzugefügt]
Schließlich berücksichtigt der EGMR auch, wie üblich, die verhängte Sanktion. Der Beschwerdeführer war zwar verurteilt worden, hatte aber keine Strafe erhalten. Da die Verurteilung nach nationalem Recht damit auch nicht im Strafregister eingetragen wurde, habe sie - so der EGMR - auch "kaum, falls überhaupt", einen 'chilling effect' haben können.

Zusammenfassend hät der EGMR fest, dass die nationalen Behörden einen fairen Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefunden hätten. Sie hätten die Medien auch nicht absichtlich an der Berichterstattung hindern wollen und den Beschwerdeführer auch weder während noch nach der Demonstration an der Arbeit gehindert. Der Eingriff sei daher im Sinne des Art 10 EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen. Ganz zum Schluss betont der EGMR nochmals, dass diese Schlussfolgerung sich auf die sehr spezifischen Umstände des Falles gründet und man jegliche Beschränkung der "watch-dog"-Rolle der Medien vermeiden müsse (Rn 114).

Zustimmendes Sondervotum der Richterin Motoc
Die rumänische Richterin Motoc verfasste ein zustimmendes Sondervotum, das das Konzept des "verantortungsvollen Journalismus" betont und ausdrücklich von der (nicht weiter belegten) Prämisse ausgeht, dass die Rechte der Journalisten weithin bekannt seien, nicht aber deren Pflichten. Im Ergebnis ist es ihr offenbar vor allem wichtig, nochmal darauf hinzuweisen, dass Journalisten sich nicht alles erlauben können und an die allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden sind.

Abweichende Meinung des Richters Spano
Der isländische Richter Spano verfasste eine abweichende Meinung, der die Richter Spielmann, Lemmens und Dedov beitraten. Spano akzeptiert, dass die Festnahme gerechtfertigt war, da der Journalist weder seinen Presseausweis sichtbar getragen noch entsprechend unterscheidungskräftige Kleidung gewählt hatte. Allerdings hat er sich nach der Festnahme als Journalist zu erkennen gegeben und ab diesem Zeitpunkt sei die weitere Anhaltung und nachfolgende Verurteilung nicht mehr erforderlich gewesen. Spano verweist auf das Urteil Stoll, in dem - anders als nach der Mehrheitsmeinung im vorliegenden Urteil - mit der Feststellung, dass der Journalist eine strafrechtliche Bestimmung verletzt habe, die Prüfung durch den EGMR noch nicht zu Ende war, sondern weitere Kriterien geprüft werden mussten: "the interests at stake, the review of the measure by the domestic courts, the conduct of the applicant and whether the penalty imposed was proportionate". Spano führt dies näher aus und kommt zum Ergebnis, dass nach diesen Kriterien die weitere Anhaltung und Verurteilung des Journalisten nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen wäre. Auch dass die Verurteilung ohne Strafausspruch keine "chilling effects" gehabt habe, sieht Spano ganz anders:
With all due respect, to suggest that the decision to prosecute and convict a journalist for a criminal offence does not, in a case such as the present one, have, by itself, a chilling effect on journalistic activity is overly simplistic and unconvincing. On the contrary, it is in my view not unreasonable to consider that today’s decision, accepting as permissible under Article 10 § 2 of the Convention the prosecution of the applicant and his conviction for a criminal offence, will have a significant deterrent effect on journalistic activity in similar situations occurring regularly all over Europe.
[...] it is not in the least convincing for the majority to attempt to limit their findings to the “particular circumstances of the instant case” (see paragraph 114 of the judgment). On the contrary, it is quite clear that the reasoning of the majority will unfortunately allow Contracting States considerable latitude in imposing intrusive measures on journalistic activity in public settings where force is used by law-enforcement officials. [Hervorhebung hinzugefügt]
Die heutige Entscheidung des EGMR, so meinen also die vier in der Minderheit gebliebenen Richter, werde einen signifikanten Abschreckungseffekt für journalistische Berichterstattung in ähnlichen Situationen haben.
[Update 26.10.2015: siehe nun auch den Beitrag von Dirk Voorhof auf Strasbourg Observers]

Wednesday, October 07, 2015

Europäisches Übersetzungsgericht: wie das EuG den schlesischen Streuselkuchen gerettet hat (off topic)

Man kann ein Gerichtsverfahren verlieren, aber doch sein Ziel erreichen. Dem Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e.V. ist das heute mit der Abweisung seiner Klage gegen einen Beschluss der Europäischen Kommission vor dem EuG gelungen: die durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 733/2011 eingetragene geschützte geografische Angabe ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ wird zwar nicht gelöscht - aber "Schlesischer Streuselkuchen" darf von deutschen Bäckern weiter verkauft werden (Urteil des Gerichts vom 07.10.2015, T-49/14)

Die Vorgeschichte habe ich in diesem Blog schon dargestellt: ganz knapp zusammengefasst ging es darum, dass die Kommission auf Antrag Polens nach der Verordnung (EG) Nr. 510/2006 die Bezeichnung ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ als geschützte geografische Angabe eingetragen hat. Grundlage solcher Eintragungen ist ein sogenanntes "einziges Dokument", das im EU-Amtsblatt mit dem Eintragungsantrag veröffentlicht wird.

Im konkreten Fall wurde in diesem einzigen Dokument das Erzeugnis ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ (mehrfach) als "schlesischer Streuselkuchen" beschrieben. Als geografisches Gebiet, in dem dieser Kuchen hergestellt werden darf, wurden nur die Woiwodschaft Oppeln sowie einige Kreise der Woiwodschaft Schlesien (in Polen) angegeben.

Nun kann man gegen einen Eintragungsantrag Einspruch erheben, was die deutschen Bäcker aber versäumten. Sie versuchten nun vor den europäischen Gerichten  die Löschung der Eintragung zu erreichen, was freilich ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen war (worauf ich schon in meinem ersten Blogeintrag dazu hingewiesen habe).

Der Aufstand der (deutsch)schlesischen Weber Bäcker, die fürchteten, keinen schlesischen Streuselkuchen mehr verkaufen zu dürfen, war - trotz Klagsabweisung - aber im Ergebnis dennoch erfolgreich. In seinem heutigen Urteil hat das EuG seine Kompetenz zur Feststellung des Sachverhalts genützt und autoritativ entschieden, wie die Worte ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ richtig zu übersetzen sind: als "Schlesischer Kuchen" nämlich, nicht als "Schlesischer Streuselkuchen" - diese Bezeichnung war bloß ein redaktioneller Fehler. Schlesischer Streuselkuchen kann also weiter verkauft werden. Zitat aus dem Urteil:
53   Insoweit ist festzustellen, dass „Schlesischer Kuchen“ die zutreffende Übersetzung der geschützten geografischen Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ ist.
[...]
56   Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Erwähnung der Bezeichnung „Schlesischer Streuselkuchen“ in der deutschen Fassung des einzigen Dokuments ein redaktioneller Fehler ist.
57   Folglich werden „Schlesische Streuselkuchen“ nicht von der geschützten geografischen Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ erfasst, so dass Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1151/2012 deutschen Bäckern, die „Schlesische Streuselkuchen“ herstellen und vermarkten, nicht entgegengehalten werden könnte.
Die historisch sicher interessante Frage, ob Schlesien in der Durchführungsverordnung der Kommission geografisch "richtig" abgegrenzt ist, brauchte das Gericht daher nicht zu beantworten:
78   Im vorliegenden Fall wurde die geschützte geografische Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ in polnischer Sprache für die Woiwodschaft Oppeln und bestimmte Teile der Woiwodschaft Schlesien eingetragen (vgl. einziges Dokument).
79   Diese Abgrenzung hindert deutsche Bäcker jedoch nicht daran, in ganz Deutschland „Schlesische Streuselkuchen“ herzustellen, die keine durch die Eintragung geschützten „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ sind (siehe oben, Rn. 57).
Dass schließlich die durch die Grundrechtecharta geschützten Grundrechte der deutschen Bäcker durch die Eintraung der geschützten geografischen Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ gefährdet würden, kann das EuG auch nicht erkennen; da bleibt auch noch Zeit für den kleinen didaktischen Hinweis an die Klagsvertreter, dass deren weiteres "Argument" einer Verletzung des deutschen Grundgesetzes vor einem Unionsgericht nichts verloren hat (Rn. 87).

PS: Ich weiß, in diesem Blog wären in diesen Tagen eher andere Beiträge zu erwarten - zu den EuGH-Urteilen in den Rechtssachen C-362/14 Schrems, C-346/13 Base Company oder C-508/14 T-Mobile Czech Republic and Vodafone Czech Republic und zu den Schlussanträgen in der Rechtssache C-314/14 Sanoma Media Finland, jeweils vom 06.10.2015. Aber dafür bräuchte ich einfach mehr Zeit als für diese kleine Notiz - und freie Zeit zum Bloggen ist derzeit sehr knapp.

Friday, July 03, 2015

"Maßnahmen betreffend offenes Internet" und Roaming: die vorläufige Einigung im Trilog

[Update 05.10.2015: Der Rat hat in seiner Tagung am 01.10.2015 (als A-Punkt der Tagesordnung in der Ratsformation Wettbewerbsfähigkeit; also ohne weitere Erörterung) in erster Lesung seinen Standpunkt zur Verordnung über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der RL 2002/22/EG sowie der VO (EU) 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen beschlossen (Information des Rates). Der Text der Verordnung in der Fassung der ersten Lesung des Rates ist hier (gegenüber der bisher bekannten Version sind doch einige Änderungen aufgrund der Überarbeitung durch die "Sprachjuristen" erkennbar), siehe weiters auch die Begründung des Rates sowie die Erklärungen einiger Mitgliedstaaten, insbesondere auch Sloweniens und der Niederlande, die gegen die Annahme dieses Standpunkts stimmten. Das Parlament wird voraussichtlich Ende Oktober diesen Standpunkt billigen, sodass "der betreffende Rechtsakt als in der Fassung des Standpunkts des Rates erlassen" gilt. Sollte das Parlament doch Änderungen vorschlagen, ginge die Sache nochmal in den Rat zur zweiten Lesung.
Update 27.10.2015: Heute hat das Parlament dem Text des gemeinsamen Standpunkts des Rates zugestimmt, die Verordnung ist damit erlassen und wird am dritten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten und - mit Ausnahmen - ab 30. April 2016 gelten (Text des Standpunktes des Rates; Beschluss des Europäischen Parlaments)]

Update 26.11.2015: Die Verordnung ist nun im Amtsblatt kundgemacht und tritt damit am 29.11.2015 in Kraft)

In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni ist es im Trilog also doch noch zu einem Deal zwischen Vertretern des Europäischen Parlaments und des Rates über die sogenannte TSM-Verordnung ("Telecom Single Market") gekommen. Von dem, was unter der damaligen Kommissions-Vizepräsidentin Kroes vor bald zwei Jahren etwas überambitioniert unter dem Schlagwort "Connected Continent" vorgestellt wurde (im Blog dazu zB hier und hier), ist nicht mehr viel übrig geblieben: gerade Roaming und "Maßnahmen betreffend offenes Internet" haben es in den nun abgestimmtem Verordnungstext geschafft. Dementsprechend wurde auch der Titel der Verordnung angepasst, sie soll (auf englisch, andere Sprachversionen kenne ich noch nicht) "Regulation of the European Parliament and of the Council, laying down measures concerning open internet and amending Regulation (EU) No 531/2012 of the European Parliament and of the Council of 13 June 2012 on roaming on public mobile communications networks within the Union" heißen.

Die Eckpunkte der Einigung wurden in diversen Pressemitteilungen (zB des Parlaments, des Rates und der Kommission) oder "fact sheets" mitgeteilt; es gab auch eine gemeinsame Pressekonferenz von Vertretern des Parlaments, der Kommission und des Rates (Aufzeichnung hier). Soweit ich das überblicke, haben alle Parlamentsfraktionen mit Ausnahme der Grünen die Einigung begrüßt; die grüne Position wird von MEP Michel Reimon in seinem Blog dargelegt. Auf die PR rund um die Beschlussfassung möchte ich aber hier nicht eingehen (wenngleich ich überlege, bei Gelegenheit einmal etwas über "Legislation PR" zu schreiben - das ist ja mittlerweile eine eigene Kunstform in der PR, bei der man der Öffentlichkeit eben beschlossene oder mit Vorliebe auch noch längst nicht beschlossene Rechtsvorschriften mit dem entsprechenden Spin "verkauft"; ob die beworbenen Inhalte wirklich in den Rechtsvorschriften zu finden sind, ist dabei meist zweitrangig).

Auf der Grundlage des (noch nicht offiziellen) Textes der Einigung versuche ich den wesentlichen Inhalt kurz darzustellen. [Update 08.07.2015: der Rat hat nun den - vom COREPER heute angenommenen - Text samt Erwägungsgründen veröffentlicht; die Erwägungsgründe konnte ich bei der folgenden Darstellung noch nicht berücksichtigen]

I. "Offenes Internet"
Vorweg: noch ist der Text ein Entwurf, auf den man sich im Trilog verständigt hat, von dem also mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass er ohne substantielle Änderungen beschlossen werden wird (mehr zu den nächsten Schritten im Gesetzgebungsverfahren siehe weiter unten, III.). Akkordiert wurde offenbar nur der reine Verordnungstext, die dazupassenden Erwägungsgründe müssen erst ausformuliert werden. Gerade bei so umstrittenen Themen führt das übrigens nicht selten dazu, dass jede Seite noch Wünsche in die Erwägungsgründe hineinreklamiert, die mit dem tatsächlich verbindlichen Text kaum mehr in Verbindung stehen, sodass die eigentlich der Erläuterung dienenden Erwägungsgründe gelegentlich mehr verwirren als aufklären.

- Internetzugangsdienst
Die Verordnung definiert den Begriff des Internetzugangsdienstes, bei dem es sich um einen öffentlichen elektronischen Kommunikationsdienst handelt, der Zugang zum Internet und dadurch die Verbindung zu praktisch allen Endpunkten ("virtually all end points") des Internets herstellt, unabhängig von der Netzwerktechnologie und vom verwendeten Endgerät.

- "Open internet"
Die zentrale Bestimmung der Verordnung ist Art 3, der mit "Safeguarding of open internet access" überschrieben ist (der Begriff "net neutrality" wurde - aus gutem Grund - bewusst vermieden und kommt im gesamten Text nicht vor). Absatz 1 verspricht einmal Zugang zu allen gewünschten (legalen) Inhalten, Anwendungen und Diensten, und die Endnutzer sollen auch bei der Auswahl ihres Endgeräts frei sein (also kein "Routerzwang"):
End-users shall have the right to access and distribute information and content, use and provide applications and services and use terminal equipment of their choice, irrespective of the end-user’s or provider’s location or the location, origin or destination of the service, information or content, via their internet access service.
This paragraph is without prejudice to Union law or national law, in compliance with Union law, related to the lawfulness of the content, application or services.
Dieses Recht soll auch durch Vereinbarungen zwischen Providern und Endnutzern über wirtschaftliche und technische Bedingungen sowie Eigenschaften des Internetzugangsdienstes wie Preis, Datenvolumen und Geschwindigkeit sowie durch "any commercial practices conducted by providers of internet access services" nicht beschränkt werden dürfen.

- Traffic Management
Art 3 Abs 3 der Verordnung regelt die Verpflichtung der Access-Provider, jeden Verkehr gleich zu behandeln. Dies hindert jedoch angemessene Traffic Management-Maßnahmen nicht; diese müssen transparent, nicht diskriminerend und verhältnismäßig sein und dürfen auch nicht auf wirtschaftliche Überlegungen gegründet sein, sondern lediglich auf objektiv unterschiedliche Qualitätsanforderungen spezifischer Kategorien des Verkehrs ("objectively different technical quality of service requirements of specific categories of traffic"). Das bedeutet aber, dass Traffic Management so weit verstanden wird, dass tatsächlich eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Verkehrskategorien erlaubt ist, solange sie auf objektiven Qualitätsanforderungen beruht (zB bei bestimmten Diensten besonders niedrige Latenzzeiten).

Über diese - schon recht weit verstandenen - Traffic Management-Maßnahmen hinaus dürfen Einschränkungen nur im notwendigen Umfang vorgenommen werden, um Rechtsvorschriften des Unionsrechts (oder des nationalen, unionsrechtskonformen Rechts) einzuhalten (zB also "Netzsperren", soweit sie nach der kino.to-Rechtsprechung zulässig sind), oder um eine Verstopfung des Netzes zu verhindern oder deren Auswirkungen zu mildern; in diesem Fall ist eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Verkehrskategorien nicht zulässig.

- "Other services" (Spezialdienste)
Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste dürfen auch "andere Dienste als Internetzugangsdienste" anbieten, die für bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste optimiert sind, wenn diese Optimierung notwendig ist, um den dafür notwendigen Qualitätsstandard zu erreichen:
Providers of electronic communications to the public, including providers of internet access services, and providers of content, applications and services shall be free to offer services other than internet access services which are optimised for specific content, applications or services, or a combination thereof, where the optimisation is necessary in order to meet requirements of the content, applications or services for a specific level of quality.
Diese Dienste dürfen aber nur angeboten werden, wenn die Netzkapazität ausreichend ist, um sie zusätzlich zu einem Internetzugangsdienst zu erbringen. Diese Dienste dürfen auch nicht als Ersatz für einen Internetzugangsdienst verwendbar sein oder angeboten werden, und sie dürfen der Verfügbarkeit und Qualität von Internetzugangsdiensten nicht schaden.

- Monitoring
Die nationalen Regulierungsbehörden müssen die Einhaltung der Bestimmungen überwachen und die Verfügbarkeit von nicht diskriminierendem Internetzugang auf einem Qualitätsniveau, das Fortschritte in der Technologie widerspiegelt, fördern. Dazu darf die Regulierungsbehörde auch technische Eigenschaften und Mindestqualitätsstandards festslegen.

- Vertragsrecht
Wieder einmal werden in der Verordnung auch Mindestinhalte für Verträge festgelegt. Der Provider muss insbesondere Informationen über Traffic Management-Maßnahmen in den Vertrag aufnehmen, und er muss darüber informieren, wie sich Beschränkungen des Datenvolumens oder der Geschwindigkeit, aber auch andere Quality of Service-Parameter auf den Internetzugang auswirken. Schließlich muss er darüber informieren, wie sich "other services" (der Begriff sepcialised services wird auch vermieden) in der Praxis auf den Internetzugangsdienst des Nutzers auswirken können.

Diese Bestimmungen zeigen meines Erachtens sehr deutlich, dass die Verordnung den Weg zu einem Mehrklassen-Internet geht: denn wenn man über verschiedene QoS-Parameter und deren Auswirkungen informieren muss, dann setzt dies auch voraus, dass es Verträge mit solchen unterschiedlichen QoS-Parametern gibt und sich dies auf die Qualität des Internetzugangsdienstes spürbar auswirkt. Dasselbe gilt für die Spezialdienste: wenn man darüber informieren muss, wie sich das Abo eines Spezialdienstes auf den "normalen" Internetzugang auswirkt, dann setzt dies die Möglichkeit einer solchen Auswirkung voraus.

- Sondergewährleistung?
Die Access Provider müssen auch über die Up- und Download-Geschwindigkeiten informieren, wobei es bemerkenswert ist, wie hier zwischen Festnetz und Mobilnetz unterschieden wird: im Festnetz muss die mindest, normal verfügbare, höchste und die beworbene Geschwindigkeit angegeben werden (heißt das, dass die beworbene Geschwindigkeit mit den tatsächlichen Geschwindigkeiten gar nichts zu tun haben muss? Das wäre wenigstens realitätsnah), im Mobilnetz nur die geschätzte höchste und die beworbene Geschwindigkeit.

Jede signifikante - dauerhafte oder wiederkehrende - Abweichung zwischen der tatsächlichen Geschwindikeit oder anderen QoS-Parametern und den öffentlichen Angaben eines Diensteanbieters stellt eine "non-conformity of performance" (Leistungsstörung) dar, die den Konsumenten (warum hier nicht Endnutzer?) zur Inanspruchnahme der Abhilfemaßnahmen nach nationalem Recht berechtigt - dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die maßgeblichen Tatsachen durch einen Monitoring-Mechanismus festgestellt wurden, der von der nationalen Regulierungsbehörde zertifiziert wurde.

Diese Bestimmung irritiert insofern, als sie auch als Einschränkung des bestehenden Gewährleistungsrechts gelesen werden kann: denn die öffentlichen Angaben eines Anbieters werden, wenn im Vertrag nichts anderes bestimmt ist, auch jetzt in der Regel als gewöhnlich vorausgesetzte Eigenschaften anzusehen sein, deren Fehlen Gewährleistungsfolgen auslöst. Dass die Abhilfemaßnahmen des Gewährleistungsrechts nun aber nur dann in Anspruch genommen werden könnten, wenn es einen entsprechenden Monitoring-Mechanismus gibt (und dieser allein als Beweismittel zugelassen wäre), scheint mir allerdings über das Ziel der Verordnung hinausgehend, zumal nichts darauf hindeutet, dass die vertragliche Position des Endnutzers verschlechtert werden sollte.

- Strafen
Die Mitgliedstaaten müssen effektive, verhältnismäßige und abschreckende Strafen für die Verletzung der "open internet"-Bestimmungen festlegen.

- Anwendungszeitpunkt - und das Ende für nationale Netzneutralitätsregeln
Die Verordnung ist ab 30. April 2016 anwendbar. Abweichende nationale Bestimmungen - also die Regeln über die Netzneutraliät in Slowenien und den Niederlanden - dürfen noch bis 31. Dezember 2016 angewendet werden.

II. Roaming
Zum Thema Roaming war die Ausgangslage ja leichter verständlich: dass die "Abschaffung" kommen würde, war klar, strittig war vor allem der Zeitpunkt und in welchem Umfang das "kostenlose" Roaming (Roaming zu Inlandspreisen oder "roam like home") verfügbar sein sollte. Entgegen der allgemeinen PR waren ja weder Kommission noch Parlament für ein gänzliches Abschaffen von Roamingentgelten: Der Kommissionsvorschlag sah vor, dass der Anbieter die Nutzung des Roamings zu Inlandspreisen durch ein fair use-Kriterium beschränken können sollte ("... schließen nicht aus, dass ein Roaminganbieter die Nutzung regulierter Endkundenroamingdienste zu geltenden Inlandspreisen unter Bezugnahme auf ein Kriterium der üblichen Nutzung beschränkt." Auch die legislative Entschließung des Parlaments sah diese Einschränkungsmöglichkeit vor ("um eine zweckwidrige oder missbräuchliche Nutzung von Endkundenroamingdiensten zu verhindern, dürfen Roaminganbieter eine „Fair-Use-Klausel“ für die Nutzung regulierter Endkundenroamingdienste, die zu den geltenden Inlandspreisen bereitgestellt werden, anwenden").

- fair use
Nach dem nun vorliegenden Text soll der Zielzustand - grundsätzlich keine Roamingaufschläge bei Roaming innerhalb der EU - in knapp zwei Jahren (am 15. Juni 2017) erreicht werden. Auch dieser Text sieht eine "fair usage"-Einschränkung vor:
Roaming providers may apply in accordance with this Article and the implementing acts referred to in Article 6b ter a “fair use policy” to the consumption of regulated retail roaming services provided at the applicable domestic retail price level, in order to prevent abusive or anomalous usage of regulated retail roaming services by roaming customers, such as use of such services by roaming customers in another Member State than that of his domestic provider for purposes other than periodic travel.
Any fair use policy shall enable the roaming provider’s customers to consume volumes of regulated retail roaming services at the applicable domestic retail price that are consistent with their respective tariff plans.
Was unter "fair use" zu verstehen ist, soll von der Kommission (nach Konsultation mit BEREC) mit einem Durchführungsrechtsakt bis spätestens 15. Dezember 2016 festgelegt werden. Dabei muss die Kommission Folgendes berücksichtigen:
(i) the evolution of pricing and consumption patterns in the Member States;
(ii) the degree of convergence of domestic price levels across the Union;
(iii) the travelling patterns in the Union;
(iv) any observable risks of distortion of competition and investment incentives in home and visited markets.
Mit diesem Kunstgriff schieben Parlament und Rat die undankbare Aufgabe, den Umfang des "fair use"-Kontingents festzulegen, der Kommission zu. Angesichts der Kritik, die nach Bekanntwerden der von der lettischen Ratspräsidentschaft zur Diskussion gestellten fair use-Grenzen (zuletzt zB 50 Min/Jahr; siehe im Blog hier [am Ende]) laut wurde, ist das durchaus verständlich. Ich würde erwarten, dass das Kontingent letztlich etwas umfangreicher ausfallen wird, als es die lettische Präsidentschaft vorgeschlagen hatte - aber vielreisende Vieltelefonierer sollten sich doch nicht zu früh freuen.

- Begrenzung der Roamingaufschläge bei Überschreitung des fair use-Kontingents
Wer mehr telefoniert oder surft als die fair usage-policy zulässt, darf dafür jedenfalls nicht mehr zahlen als 0,19 € pro Minute für aktive Telefonate, 0,06 € für abgehende SMS und 0,20 € pro MB Daten. Dieser Preis setzt sich aus dem Inlandstarif und dem Roamingzuschlag zusammen, wobei der Roamingzuschlag höchstens dem maximalen Großkundenentgelt nach der Verordnung entsprechen darf (0,05 € für Anrufe, 0,02 € für SMS und 0,05 € pro MB). Ist der Inlandstarif also entsprechend niedrig, wird auch der Gesamtpreis für den Roaminganruf noch deutlich unter 0,19 € liegen. Für Passivgespräche darf nicht mehr als der europaweite gewichtete Durchschnitt der jeweils höchsten nationalen Mobilterminierungsentgelte verlangt werden.

- Zuschlag auf Inlandspreise
Die Abschaffung der Roamingentgelte kann natürlich zu Verteuerungen bei den Inlandsgesprächen führen. Nachdem die Preisbildung auf Endkundenmärkten im Telekombereich grundsätzlich frei ist (sieht man vom Roaming ab und vom Ausnahmefall, in dem einem Betreiber mit beträchtlicher Marktmacht auf einem Endkundenmarkt als spezifische Verpflichtung die Entgeltkontrolle auferlegt bekommt), können die Betreiber ihre Preise grundsätzlich autonom anpassen.
Dennoch sieht die Verordnung eine zusätzliche Möglichkeit zur Preiserhöhung vor, um nach dem Wegfall der Roamingentgelte die "Nachhaltigkeit" des Inlandstarifs (sustainability of the domestic charging model") zu sichern. In außergewöhnlichen Umständen kann demnach ein Anbieter, dessen tatsächliche Kosten aus dem Roaming nicht gedeckt werden können, einen Zuschlag verrechnen. Dieser Zuschlag muss von der Regulierungsbehörde genehmigt werden. Die Kommission soll wiederum mit einem Durchführungsrechtsakt die Methoden festlegen, um die "sustainability" zu bewerten.

- Übergangs-Roamingentgelte
Zwischen 30. April 2016 (Inkrafttreten der Verordnung) und 15. Juni 2017 (Wirksamwerden der "Abschaffung" der Roamingentgelte) werden die höchstzulässigen Roamingentgelte neuerlich verringert, wobei nur mehr ein Aufschlag auf die Inlandstarife verrechnet werden darf. Dieser Aufschlag darf die höchsten Großkundenentgelte nicht übersteigen, also wiederum 0,05 € für Anrufe, 0,02 € für SMS und 0,05 € pro MB).

- Wholesale-Review
Mit Inkrafttreten der Verordnung wird die Kommission auch verpflichtet, einen Review des Wholesale Roaming Markts durchzuführen:
The Commission shall review, inter alia, the degree of competition in national wholesale markets, and in particular assess the level of wholesale costs incurred and wholesale charges applied, and the competitive situation of operators with limited geographic scope, including the effects of commercial agreements on competition as well as the ability of operators to take advantage of economies of scale. The Commission shall also assess the competition developments in the retail roaming markets and any observable risks of distortion of competition and investment incentives in home and visited markets.
Dieser Review soll bis 15. Juni 2016 abgeschlossen sein und auf seiner Grundlage sollen die Regelungen über Großkundenentgelte in der Roamingverordnung angepasst werden,

III. Wie geht das Gesetzgebungsverfahren weiter?
Der jetzt vorliegende Text wurde im sogenannten "Trilog" ausgehandelt; dabei treffen VertreterInnen der Ko-Gesetzgeber Parlament und Rat sowie der Kommission aufeinander und versuchen, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen, die dann von Parlament und Rat im ordentlichen Gesetzgebungs­verfahren angenommen werden kann (siehe zum Trilog bzw zum Gesetzgebungsverfahren schon hier, gegen Ende).

Formal befindet sich das Gesetzgebungsverfahren jetzt noch immer im Stadium nach der ersten Lesung im Parlament und vor der ersten Lesung im Rat. Wenn der Text, auf den man sich im Trilog geeinigt hat, finalisiert ist und auch die Erwägungsgründe ausformuliert vorliegen, wird er zunächst - nach der Freigabe im COREPER - dem Rat vorgelegt. [Update 08.07.2015: COREPER hat den Text heute angenommen, siehe die Pressemitteilung des Rates und den angenommenen Text]

Der Rat wird dann den Text als seinen Standpunkt in erster Lesung annehmen (Art 294 Abs 5 AEUV) und ihn daraufhin dem Parlament übermitteln. Der Rat kann seinen Standpunkt in jeder beliebigen Ratsformation annehmen, dh er müsste nicht auf die nächste Tagung in der Formation TTE (Transport, Telekommunikation, Energie) warten (nach dem provisorischen Kalender der luxemburgischen Präsidentschaft wäre die nächste TTE-Ratstagung mit Telekom-Themen erst für den 11. Dezember vorgesehen).

Das Parlament kann dann innerhalb von drei Monaten diesen Standpunkt billigen, in diesem Fall "gilt der betreffende Rechtsakt als in der Fassung des Standpunkts des Rates erlassen." Das Parlament könnte aber auch Änderungen vorschlagen, dann ginge das wieder zum Rat in zweiter Lesung - danach, wenn der Rat das nicht akzeptiert, bliebe nur mehr der Vermittlungsausschuss (näheres dazu in Art 294 AEUV).

Thursday, June 11, 2015

EuGH: Keine Universaldienstfinanzierung von Sozialtarifen für mobile Kommunikationsdienste

"Es ist jedoch festzustellen, dass 'an einem festen Standort' das Gegenteil von 'mobil' ist." 
Diese Erkenntnis verdanken wir dem heutigen Urteil des EuGH in der Rechtssache C-1/14 Base Company und Mobistar, der sich mit der Universaldienstfinanzierung in Belgien zu befassen hatte.

Ausgangsverfahren
Nach belgischem Recht umfasst die "soziale Komponente" des Universaldienstes in der elektronischen Kommunikation die Bereitstellung von "besonderen Tarifbedingungen an bestimmte Kategorien von Begünstigten" (vereinfacht gesagt: Sozialtarife) auch für mobile Kommunikationsdienste und mobilen Internetzugang. Zugleich sind unzumutbare Belastungen, die Unternehmen aus der Erbringung dieses Universaldienstes entstehen, aus einem Fonds auszugleichen, in den alle Erbringer elektronischer Kommunikationsdienste (ab einer bestimmten Umsatzgrenze) einzuzahlen haben. Diese Normen wurden von Mobilnetzbetreibern vor dem belgischen Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) angefochten; dieses Gericht hatte Bedenken, dass die nationale Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar ist und richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.

Universaldienstrichtlinie
Der Universaldienst ist nach der Universaldienstrichtlinie 2002/22 (in der Fassung der RL 2009/136) ein Mindestangebot von Diensten, die allen Endnutzern unabhängig von ihrem geografischen Standort und zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt werden. Dieses Angebot umfasst nach Art 4 der RL den "Anschluss an ein öffentliches Kommunikationsnetz an einem festen Standort"; dieser Anschluss "muss Gespräche, Telefaxübertragungen und die Datenkommunikation mit Übertragungsraten ermöglichen, die für einen funktionalen Internetzugang ausreichen" (weitere Bereiche des Universaldienstes sind Auskunftsdienste und Teilnehmerverzeichnisse, Öffentliche Münz- und Kartentelefone und Maßnahmen für behinderte Endnutzer). Artikel 9 der RL sieht schließlich vor, dass die Mitgliedstaaten auch (vereinfacht) Sozialtarife als Universaldienstverpflichtungen festlegen können.

Unzumutbare Belastungen durch die Erbringung des Universaldienstes können nach Art 13 der UniversaldienstRL auf die Betreiber elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste aufgeteilt werden. 

Art 32 der RL ermöglicht es den Mitgliedstaaten, weitere "Pflichtdienste" festzulegen; für diese darf aber keine Beteiligung der Betreiber an der Finanzierung vorgeschrieben werden.

EuGH-Urteil
Das Ergebnis des EuGH ist angesichts der diesbezüglich recht klaren Rechtslage nicht wirklich überraschend. Der EuGH stellt fest, dass 'an einem festen Standort' das Gegenteil von 'mobil' ist (RN 36) und daher "mobile Kommunikationsdienste definitionsgemäß von dem in Kapitel II der Universaldienstrichtlinie festgelegten Mindestangebot an Universaldiensten ausgeschlossen sind, denn deren Erbringung setzt keinen Zugang zu und keinen Anschluss an ein öffentliches Kommunikationsnetz an einem festen Standort voraus. Ebenso ist davon auszugehen, dass Internetabonnements, die mittels mobiler Kommunikationsdienste erbracht werden, nicht unter dieses Mindestangebot fallen. Hingegen sind Internetabonnements in diesem Mindestangebot enthalten, wenn ihre Erbringung einen Internetanschluss an einem festen Standort voraussetzt." (RN 37) Auch der Finanzierungsmechanismus nach Art 13 der RL bezieht sich dementsprechend nur auf Festnetzdienste. Als zusätzliche Pflichtdienste können mobile Dienste bzw Sozialtaife für mobile Dienste zwar festgelegt werden, dürften aber nicht durch Pflichtbeiträge der Betreiber finanziert werden.

Gleichheitswidrig?
Der belgische Verfassungsgerichtshof hatte auch die Frage gestellt ob "die betreffenden Bestimmungen der Universaldienstrichtlinie vereinbar [sind] mit dem Gleichheitsgrundsatz, so wie er u. a. in Art. 20 der Charta verankert ist?" Diese Frage beurteilte der EuGH als unzulässig, weil das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung "weder die tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, die einen Verstoß gegen den in Art. 20 der Charta verankerten Gleichheitssatz darstellen könnten, noch die Gründe, aus denen ihm die Gültigkeit der Art. 9 und 13 Abs. 1 Buchst. b der Universaldienstrichtlinie fraglich erscheint, angegeben oder erläutert hat."

Friday, May 15, 2015

"Laut einem Medienbericht" - wie Nonsense aus der "Bild" die Roaming-Debatte bestimmt

Die "Bild"-Zeitung gilt offenbar als Nachrichtenagentur: was dort steht, wird von anderen Medien übernommen und bestimmt die Debatte - und anders als bei "herkömmlichen" Nachrichtenagenturen ist es bei der "Bild"-ZeitungAgentur auch ziemlich egal, ob etwas neu oder alt, richtig oder falsch ist.

Heute zeigt sich das sehr schön beim Thema Roaming. "Bild" publizierte unter dem Titel "Roaming-Schock | Telefonieren im Ausland bleibt teuer" einen Beitrag, der angeblich auf Dokumenten "einer Sitzung der europäischen Telekommunikationsminister" beruhte. Faktisch beruht die Information aber auf einer Note der Präsidentschaft vom 27. April 2015 (von statewatch.org hier schon am 28.04.2015 geleakt; im Blog hier auch am 28.04.2015 [siehe update am Ende] schon besprochen).

Die wesentliche Information - der Rat teilt die Position des Europäischen Parlaments zum Roaming nicht - ist ohnehin nicht neu, sie wurde von der Ratspräsidentschaft Anfang März auch offiziell kommuniziert. Auch dass die Ratsvertreter im Trilog einen Vorschlag einbrachten, der eine Minuten- bzw MB-Begrenzung für "roam like home" enthielt, stand nicht nur in diesem Blog (und sicher in vielen anderen), sondern zB auch in klassischen Mainstream-Medien (zB in der futurezone.at/Kurier).

Die Information ist aber nicht nur nicht neu, sie ist - so wie sie von Bild gebracht und von anderem Medien weitererzählt wurde - auch falsch: es gab keine "Sitzung der europäischen Telekommunikationsminister" am 27. April 2015, schon gar nicht gab es eine Sitzung des "Europäischen Rates".

Nun kann man vielleicht von "Bild"-JournalistInnen nicht erwarten, dass sie eine Vorstellung davon hätten, was der Europäische Rat ist (wahrscheinlich haben sie auch keine Ahnung, was Ratsformationen sind). Aber dass dann Agenturen diesen Nonsense einfach übernehmen und weiterverbreiten, ist schon erschreckend (Reuters war die Quelle zB des Stern und der FAZ, wohl auch - nicht ausgewiesen - der Süddeutschen Zeitung; die APA war Quelle etwa für den Standard).


Wäre es wirklich zuviel verlangt, einmal kurz eine Suchmaschine zu bedienen, um die Behauptungen der "Bild" zu überprüfen, vor allem wenn sie schon beim ersten Blick unglaubwürdig sind? Hätte nicht irgendjemand auf die Idee kommen können, sich das "Geheimpapier" einmal anzuschauen? Man muss mit der konkreten Materie auch nicht im Geringsten vertraut zu sein, um einen einfachen Blick auf den Sitzungskalender des Rates zu werfen (hier findet man zB, dass die nächste Sitzung des Rates in der Formation Verkehr, Telekommunikation und Energie, bei der Telekomthemen behandelt werden, am 12.06.2015 stattfindet); dasselbe gilt für den Europäischen Rat, von dem man als JournalistIn doch zumindest die ungefähre Sitzungshäufigkeit und auch die Themen kennen sollte, die dort behandelt werden (ganz sicher ist es nicht die Frage, ob eine Roaminggrenze 50 oder 100 MB ausmachen soll).

Nun haben wir also heute eine Debatte über einen im informellen Trilog eingebrachten, seit mehr als zwei Wochen bekannten Vorschlag der lettischen Ratspräsidentschaft, der aufbauend auf dem vom COREPER (Ausschuss der Ständigen Vertreter) erteilten Verhandlungsmandat für die Ratsvertreter Kompromissmöglichkeiten aus der Sicht der Ratspräsidentschaft auslotet. Dass das keine Basis für einen tatsächlichen Kompromiss mit dem Parlament sein kann, ist ziemlich klar, aber das ist eben das Wesen von Verhandlungen, dass sich Standpunkte erst annähern müssen (oder - das ist hier durchaus noch denkbar - dass Verhandlungen auch scheitern können).

Es gibt jedenfalls heute keine relevanten Neuigkeiten zum Roaming. Das heißt natürlich nicht, dass man nicht auch ausgerechnet heute darüber einmal berichten kann (wenn man es schon vorher verschlafen hat). Aber braucht es wirklich die "Bild", damit das Thema aufgegriffen wird? Und wenn es schon die "Bild" braucht, könnte man dann nicht trotzdem auch einmal die Fakten richtig bringen?

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PS: zum konkreten Gesetzgebungsverfahren habe ich zuletzt hier geschrieben (da ist - am Ende - auch das "Geheimpapier" der Bild schon behandelt); was der Trilog ist und wie so etwas abläuft, habe ich hier (gegen Ende des Beitrags) beschrieben.

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PPS: Drei nachträgliche Anmerkungen vom 17.05.2015

1. Plötzliche Meinungsänderung?
 "Tatsächlich sind die EU-Minister plötzlich nicht mehr mit der Abschaffung einverstanden", hieß es in einem Bericht der ZIB24 vom Freitag im ORF (hier noch bis 22.05. nachzusehen) - als ob sie das bisher je gewesen wären. Und das einzig "Plötzliche" an dieser Sache ist nur das Aufwachen der Medien, weil sie in der "Bild" etwas gelesen haben.

2. "Die Abschaffung der Roaminggebühren wackelt"
In anderen Medien - etwa im profil - hieß es allgemein, dass die Abschaffung der Roaminggebühren "wackelt". Das zeigt aus meiner Sicht ein grundsätzliches Problem der Berichterstattung über Themen der EU-Gesetzgebung: oft wird nämlich schon mit der Entschließung des Europäischen Parlaments in erster Lesung - wenn nicht gar schon mit der Vorstellung des Vorschlags durch die Kommission - so getan, als sei damit die Sache "gegessen": "EU-Parlament beschließt Abschaffung der Roaming-Gebühren" hieß es da gelegentlich vor einem Jahr, als das EU-Parlament über den Vorschlag in erster Lesung abstimmte und dabei einige gravierende Änderungen gegenüber dem Kommissionsvorschlag machte. Dabei war jedem halbwegs informierten Beobachter klar, dass diese Entschließung - nicht nur, aber auch, im Hinblick auf die Roaming-Regelungen - niemals eine Chance hatte, vom Rat akzeptiert zu werden  (ich könnte wieder einmal "I told you so" sagen, weil ich zwei Tage nach der Abstimmung im Parlament hier im Blog geschrieben habe, dass die vom Parlament eingenommene Position "eine Zustimmung des Rates zu diesem Text meines Erachtens aus[schließt].")

Wer aber nach einem Parlamentsbeschluss schon so schreibt, als sei der dort beschlossene Text Gesetz, muss bei einer abweichenden Position des Rates dann so tun, als sei (plötzlich?) etwas scheinbar völlig Gefestigtes wieder ins Wanken (oder "Wackeln") gekommen. Das EU-Gesetzgebungsverfahren ist tatsächlich im Detail kompliziert, aber zumindest den einen Eckpfeiler des ordentlichen Verfahrens - dass es einen übereinstimmenden Beschluss von Parlament und Rat braucht - sollte man als JournalistIn nicht nur kennen, sondern auch zu vermitteln versuchen.

3. Die Legendenbildung
Rund um Roaming blühen die Heldenlegenden (siehe zu früheren Beispielen bereits im Blog hier und hier). Das Schlimme daran: sie werden bei jeder Gelegenheit fortgeschrieben. So schreibt "Die Presse" vom 16.05.2015 davon, dass es "die wohl letzte publikumswirksame Initiative der [...] EU-Kommission von José Manuel Barroso" gewesen sei, dass die damalige Digital-Kommissarin Neelie Kroes am 30. Juni 2014 "die bis dato letzte Senkung der Roaminggebühren" präsentiert habe, und dass es das Ziel "Brüssels" (hier wohl gemeint: der Kommission) gewesen sei, dass mobile Kommunikation in einem EU-Land nicht teurer sein sollte als im Heimatland.

Dazu sollte man wissen, dass die Kommission zwar die Senkung der Roamingentgelte per 1. Juli 2014 in einer Pressemeldung "verkauft" hat, dass diese Senkung aber per Verordnung des Parlamentes und des Rats erfolgte - keine Rede von widerspenstigen Telekomministern, die hier gegen die heldenhafte Kommission blockierend aufgetreten wären. Im Gegenteil: die von der Kommission in ihrem Vorschlag für die Verordnung vorgesehene Absenkung der Roamingentgelte wäre geringer ausgefallen, als es Parlament und Kommission schließlich beschlossen haben.

Neelie Kroes, die sich wie Viviane Reding gerne als heldenhafte Kämpferin für die Abschaffung der Roamingentgelte positioniert, hätten den Telekomunternehmen also noch höhere Tarife zugestanden (im Übrigen ist es bemerkenswert, wie sehr ausgerechnet Kroes und Reding als liberale bzw konservative Politikerinnen auf das Mittel staatlicher Preisregulierung setzen).

Auch der aktuelle Vorschlag der Kommission - wäre er von Parlament und Rat angenommen worden - hätte übrigens keineswegs zum völligen Ende von Roamingentgelten geführt: insbesondere sah auch der Kommissionsvorschlag vor, dass die "Nutzung regulierter Endkundenroamingdienste zu geltenden Inlandspreisen unter Bezugnahme auf ein Kriterium der üblichen Nutzung [...] begrenzt" werden kann - das hätte also im Wesentlichen bedeutet, dass die Telekomunternehmen Ähnliches hätten tun können, was nun mit Minuten- bzw MB-Grenzen in den Dokumenten des Rates bzw der Ratspräsidentschaft legistisch zu fassen versucht wird.