Thursday, November 04, 2021

Blowing the whistle from the top? Anmerkungen zu Whistleblowing, Redaktionsgeheimnis und Justizkommunikation

Whistleblowing, Redaktionsgeheimnis, Justizkommunikation: das sind drei Themen, die Kernfragen der Freiheit der Meinungsäußerung berühren, mit denen ich mich schon öfters auseinandergesetzt habe. 

Zugleich sind es Themen, die in den letzten Tagen im Zusammenhang mit einem aktuellen Gerichtsverfahren in den klassischen und sozialen Medien vermehrt thematisiert wurden. Ich werde dieses Verfahren und insbesondere das gestern ergangene freisprechende Urteil in keiner Weise kommentieren,*) zumal - was ich hier ausdrücklich festhalten möchte - diese Fragen auch nicht unmittelbar mit den in jenem Verfahren entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmalen des dort beurteilten Delikts zu tun haben. 

Dennoch möchte ich - motiviert durch diesen Thread eines Standard-Journalisten auf Twitter, in dem diese Themen angesprochen wurden - ein paar Anmerkungen aus meiner Sicht dazu machen.


1. Whistleblower

Whistleblower (der deutsche Begriff "Hinweisgeber" wird sich außer in Rechtsvorschriften wohl nicht mehr durchsetzen) sind vereinfacht gesagt Personen, "die Informationen über eine Gefährdung oder Schädigung des öffentlichen Interesses im Zusammenhang mit ihren beruflichen Tätigkeiten melden" (so Erwägungsgrund 31 zur "Whistleblower-Richtline" (EU) 2019/1937; Punkt 1 der Entschließung 1729 (2010), Protection of "whistle-blowers", der parlamentarischen Versammlung des Europarates spricht von "concerned individuals who sound an alarm in order to stop wrongdoings that place fellow human beings at risk"). 

Indem sie mit diesen Informationen nach außen gehen - zum Beispiel auch, aber nicht nur, an Medien - setzen sich Whistleblower in der Regel über Verschwiegenheits- Vertraulichkeits- oder Loyalitätspflichten hinweg, an die sie in ihrer beruflichen Tätigkeit gebunden sind. Das können gesetzliche Verpflichtungen (etwa Amtsgeheimnis, berufsrechtliche Verschwiegenheitspflichten) genauso sein wie vertragliche (Vertraulichkeitsvereinbarungen, Non Disclosure Agreeements usw.). Whistleblower sind daher häufig nachteiligen Folgen ihrer Meldung ausgesetzt, die von arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung, Schadenersatzforderungen oder auch Mobbing und Rufschädigung in sozialen Medien gehen (eine beispielhafte Aufzählung von Repressalien findet sich in Art. 19 der Whistleblower-RL). 

Die Meldung von Missständen, etwa in der öffentlichen Verwaltung, ist auch eine durch Art. 10 EMRK geschützte "Mitteilung von Nachrichten". Dennoch ist "Whistleblowing" nicht einfach uneingeschränkt zulässig, sondern kann Einschränkungen aus den in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannten Gründen (etwa zum Schutz der Rechte anderer, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten) unterworfen werden; natürlich nur, soweit diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind und sie "in einer demokratischen Gesellschaft ... unentbehrlich" und verhältnismäßig sind.

In der Rechtsprechung des EGMR haben sich dafür Kriterien herausgebildet, die mittlerweile auch in einige Rechtsvorschriften (vor allem im Finanzbereich) Eingang gefunden haben und auf die sich insbesondere auch die - in Österreich erst umzusetzende - Whistleblower-RL stützt (so ausdrücklich Erwägungsgrund 31 der RL). Diese Kriterien sind im Wesentlichen bereits im Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 12.2.2008 im Fall Guja gegen Republik Moldau ausgeführt (dieser Fall betraf übrigens eine Information der Presse durch den Pressesprecher der Generalprokuratur über versuchte politische Interventionen in der Justiz). Auch in diesem Fall betont der EGMR die Verpflichtung  von Arbeitnehmer*innen zur Loyalität, Zurückhaltung und Verschwiegenheit, die öffentlich Bedienstete in besonderer Weise treffe. Für die Frage, ob eine Durchbrechung dieser Pflicht - durch Weitergabe von Informationen an Außenstehende - durch Art. 10 EMRK geschützt ist, sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  1. Die Offenlegung der Information sollte zunächst gegenüber den Vorgesetzten oder einer anderen zuständigen Behörde erfolgen; nur wo dies offensichtlich undurchführbar ist, kann die Information, als letztes Mittel, auch öffentlich bekanntgegeben werden. Dabei ist zu berücksichtigen, ob ein anderes wirksames Mittel zur Beseitigung des Missstands zur Verfügung stand.
  2. Besondere Bedeutung kommt dem öffentlichen Interesse an der Bekanntgabe der Information zu (die versuchte Druckausübung auf Staatsanwälte/Staatsanwältinnen durch politische Funktionsträger im Fall Guja hat der EGMR zB als sehr wichtige Angelegenheiten von öffentlichem Interesse angesehen).
  3. Wesentlich ist die Authentizität der Information: wer mit Informationen an die Öffentlichkeit geht, muss deren Wahrheitsgehalt zuvor sorgfältig recherchiert haben.
  4. Der Schaden, den die von der Information betroffene Einrichtung als Folge der Veröffentlichung erleidet, ist ebenfalls zu berücksichtigen (das Interesse an der Aufrechterhaltung des öffentlichen Vertrauens in bestimmte staatliche Institutionen wie zB in die Armee, einen Nachrichtendienst oder die Justiz steht aber einer Offenlegung von gravierenden Missständen in diesen Einrichtungen nicht entgegen). 
  5. Das Motiv hinter der Offenlegung ist ebenfalls von Bedeutung: wesentlich ist, dass die Offenlegung in gutem Glauben ("in good faith") erfolgt; deutlich weniger starken Schutz genießen Offenlegungen, die aus persönlichen Motiven (persönlichen Streitigkeiten oder Feindschaft oder aus Erwartung eines persönlichen Vorteils) erfolgen. 
  6. Letztlich ist bei der Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 10 EMRK erfolgte, natürlich auch immer die Schwere der Sanktion von Bedeutung; so kann beispielsweise eine Entlassung unverhältnismäßig sein, wenn geringere disziplinäre Maßnahmen ausreichend gewesen wären. 

Nach diesen Kriterien kann ein Beamter/eine Beamtin Schutz als Whistleblower nur dann beanspruchen, wenn ein interner Missstand zunächst "nach oben" (oder an dafür allenfalls sonst eingerichtete Stellen, etwa die interne Revision, oder ein "Hinweisgebersystem") gemeldet wurde. Von dieser Verpflichtung, zunächst intern Abhilfe zu suchen, muss nur dann nicht Gebrauch gemacht werden, wenn dies offensichtlich undurchführbar ("clearly impracticable") ist, also etwa wenn der/die Vorgesetzte selbst an den Missständen beteiligt ist oder trotz Kenntnis davon in angemessener Frist nichts dagegen unternimmt. Auch die Whistleblower-RL sieht den Vorrang "interner Meldekanäle" vor  und schützt Whistleblower, die unmittelbar (bzw. über Medien) an die Öffentlichkeit gehen, in der Regel nur dann, wenn zuvor die nach dieser Richtlinie eingerichteten internen und externen Meldekanäle erfolglos genutzt wurden (ausgenommen bestimmte Notsituationen nach Art. 15 Abs. 1 lit. b der RL). 

Legt man das auf einen Fall um, in dem eine Staatsanwaltschaft eine - angenommen: unbegründete - Anzeige gegen jemanden an eine andere, für allfällige Ermittlungen zuständige Staatsanwaltschaft richtet, so läge das angenommene Fehlverhalten in diesem Fall bei der "anzeigenden" StA; dieses Fehlverhalten würde, normalen Verlauf der Dinge angenommen, zu keinen weiteren Konsequenzen führen, als dass die zuständige StA mangels Anfangsverdacht kein Ermittlungsverfahren einleitet. Der angenommene Fehler der anzeigenden StA könnte im Rahmen der regulären Dienstaufsicht thematisiert und abgestellt werden. Jemand, der in der Hierarchie in der Lage gewesen wäre, selbst für die Behebung der Mängel zu sorgen, erfüllt schon das erste und entscheidende Kriterium des EGMR nicht, weil es eben alternative Wege zur Abstellung des angenommenen Missstands gegeben hätte: ein Eingreifen der Aufsicht. Wer aber selbst für die Behebung von Mängeln zuständig ist (und daran auch nicht von außen gehindert wird), kann nicht zugleich von Art. 10 EMRK geschützter "Whistleblower" sein. Nähme man allerdings an, dass - aus welchen Gründen immer - die reguläre Dienstaufsicht nicht in der Lage gewesen wäre, das angenommene Fehlverhalten der "anzeigenden" StA abzustellen, dann wäre jedenfalls noch der Meldeweg "nach oben", also an die zuständige Bundesministerin, offen gestanden und - bevor man Außenstehende informiert - auch zu nutzen gewesen. 

Zusammenfassend: mit rechtlich geschütztem "Whistleblowing" hätte die Information einer Journalistin über ein angenommenes Fehlverhalten einer Staatsanwaltschaft durch jemanden aus der Justiz, der davon amtlich Kenntnis erlangt hat, und der entweder selbst in der Lage gewesen wäre, das angenommene Fehlverhalten abzustellen oder zumindest eine Meldung an das ihm übergeordnete dafür zuständige Organ, die Bundesministerin für Justiz, hätte machen können, nichts zu tun. 


2.  Redaktionsgeheimnis 

Sollten Chats, die sich auf (rechtmäßig) sichergestellten Handys befinden, und die Kontakte mit Journalist*innen betreffen, besser geschützt werden? Oder wird, wie das gelegentlich vereinfachend und irreführend gesagt wird, mit der Auswertung solcher Chats das Redaktionsgeheimnis umgangen? 

Vorweg: die Frage, inwieweit das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Straftaten gegenüber dem - auch grundrechtlich geschützten - Interesse der Betroffenen nach Vertraulichkeit ihrer Kommunikation zurücktritt, ist gerade vor dem Hintergrund der einschlägigen Grundrechte (Fernmeldegeheimnis, Briefgeheimnis, Unverletzlichkeit des Hausrechts, Achtung des Privat- und Familienlebens etc.) nicht immer einfach zu beantworten. Die Grundrechte geben eine Grenze vor, abseits davon besteht ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum, in dem die Frage der Auswertung sichergestellter Handys legitim diskutiert werden kann. Den derzeit gegebenen Rahmen halte ich für grundrechtlich angemessen austariert, was aber nicht bedeutet, dass leichte Verschiebungen in die eine oder andere Richtung nicht auch noch grundrechtlich zulässig wären. Zu beachten ist freilich immer, dass nicht nur durch eingriffsintensive Maßnahmen (zB das "Abhören" von Kommunikation) Grundrechte verletzt werden können, sondern dass auch das Fehlen entsprechender gesetzlicher Ermittlungsmöglichkeiten Grundrechte beeinträchtigen kann (siehe dazu vor allem das EGMR-Urteil K.U. gegen Finnland [im Blog dazu hier], wo die Möglichkeit von Internetprovidern, sich auf Vertraulichkeit zu berufen, die effektive Verfolgung einer Straftat verhinderte und damit das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht des Opfers der Straftat verletzt wurde). 

Das Redaktionsgeheimnis (siehe für einen schnellen Crashkurs dazu aktuell den Thread von Michael Rami) schützt, sehr vereinfacht, Journalist*innen davor, dass sie durch die Verpflichtung zur Zeugenaussage oder durch eine Sicherstellung und Auswertung ihrer Unterlagen, Computer, Handys etc. in die Situation kommen, dass ihre vertraulichen Quellen "auffliegen". Das Redaktionsgeheimnis schützt, entgegen weit verbreiteter Ansicht, in keiner Weise die Quellen selbst. Finden etwa Amtsgeheimnisse den Weg in die Zeitung, dann darf die Staatsanwaltschaft deshalb nicht die Redaktionsräume durchsuchen, um den "Verräter" zu finden. Gibt die Journalistin/der Journalist aber (absichtlich oder unabsichtlich) preis, von wem die Informationen stammen oder gibt es aus anderen Gründen einen konkreten Verdacht, wer die Verletzung des Amtsgeheimnisses zu verantworten hat, hindert das Redaktionsgeheimnis die Staatsanwaltschaft nicht an Ermittlungsmaßnahmen gegenüber dieser Person, natürlich einschließlich der Sicherstellung und Auswertung von Handys, Computern etc.

Wird nun zB ein Handy von jemandem (rechtmäßig) sichergestellt, der einer bestimmten Straftat verdächtig ist, und ergibt die Auswertung, dass auch der Verdacht auf den Verrat von Amtsgeheimnissen im Hinblick auf eine andere Angelegenheit besteht, so steht das Redaktionsgeheimnis der Verwertung dieser Informationen nicht entgegen. In diesem Fall wird ja nicht die Journalistin/der Journalist zur Offenlegung der Quelle gezwungen, sondern die Quelle selbst hat sich (wenn auch nicht freiwillig) verraten. 

Ein Grund dafür, weshalb solche Chats dem Redaktionsgeheimnis unterworfen werden sollten, womit die Verfolgung von Straftaten erschwert würde, ist für mich nicht erkennbar. Wenn es um den Schutz vor "chilling effects" geht, wäre der richtige Ansatzpunkt für diesen Fall nicht das Redaktionsgeheimnis, sondern der angemessene Schutz von Whistleblowern. Es müsste also darum gehen, ob die Kommunikation mit der Journalistin bzw. dem Journalisten, auf die man bei der Auswertung eines sichergestellten Handys (nicht der Journalistin/des Journalisten, sondern einer Person, gegen die ermittelt wird) stößt, als "Whistleblowing" zu sehen ist, das (nach den oben dargelegten Kriterien) selbst eine grundrechtlich geschützte Mitteilung von Nachrichten ist. 

Mit diesem Ansatz könnte adäquat auf Fälle reagiert werden, in denen es "bloß" um den Verrat von Amtsgeheimnissen geht, bei denen etwa vertrauliche Informationen über Missstände "geleakt" werden. 

Denn der weitergehende "Schutz" von Chats mit Journalist*innen (egal ob unter dem Titel "Ausweitung des Redaktionsgeheimnisses" oder "Einschränkung der Verwertbarkeit von Zufallsfunden") könnte auch gravierende Straftaten betreffen, bei denen die Unterlassung einer weiteren Verfolgung nicht zu rechtfertigen wäre: Stellen wir uns einen etwas zugespitzten Fall vor, in dem ein mutmaßlicher Mörder mit einer Journalistin chattet und ihr dabei auch von einem weiteren, noch nicht entdeckten Mord berichtet. Wird nun das Handy des mutmaßlichen Mörders sichergestellt (weil die Polizei ihm auf die Schliche des ersten Mordes gekommen ist), dürfte dann der zweite Mord nicht verfolgt werden, weil die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft erst durch Auswertung des Chats mit der Journalistin auf diese Straftat aufmerksam wurde? Ich gehe nicht davon aus, dass jene, die nun eine Einschränkung der Auswertung von Chats mit Journalist*innen fordern, auch diese Konsequenz in Kauf nehmen würden. 

Zusammenfassend: die Auswertung eines (rechtmäßig) bei einem Amtsträger sichergestellten Handys  auch im Hinblick auf darauf befindliche Nachrichten an eine Journalistin berührt nicht das Redaktionsgeheimnis. 


3. Justizkommunikation

Fabian Schmid meint (im eingangs erwähnten Twitter-Thread), dass "die Justizkommunikation an sich reformiert werden" sollte, weil der Medienerlass oft sehr eng ausgelegt werde und Angst vor Ermittlungen wegen Geheimnisverrats herrsche, dass aber Journalist:innen Ansprechpartner:innen (in der Justiz) bräuchten, die Dinge erklären. 

Zu Fragen der Justizkommunikation hätte ich viel zu sagen, was man insgesamt vielleicht mit den Worten zusammenfassen kann: es ist wirklich nicht einfach. Vielleicht vertiefe ich das später einmal, heute nur drei Anmerkungen: 

1. Ja, die Fesseln der Amtsverschwiegenheit sind eng, und im Kernbereich der Kommunikation über einzelne anhängige oder erst anhängig werdende Verfahren wohl zu recht so. Der Schutz der Verfahrensbeteiligten und des ordnungsgemäßen Verfahrens an sich ist ein hohes Gut, und ich finde es zwar schwierig, aber notwendig, auf Litigation PR von Beteiligten nicht mit Litigation PR der Justiz zu reagieren. Kernaufgabe der Justiz ist die Verfahrensführung, nicht die Kommunikation, und die ohnedies knappen Ressourcen der Justiz müssen vor diesem Hintergrund zweckmäßig eingesetzt werden. 

2. Dennoch: mehr Transparenz ist möglich und notwendig, und zwar ganz im Sinne des von Fabian Schmid angesprochenen "Erklärens", auch gegenüber Journalist*innen. Keine Amtsverschwiegenheit hindert etwa einen Sektionschef, allgemeine Fragen zu erklären: unter welchen Voraussetzungen erlaubt die StPO eine Sicherstellung, wie läuft ein Ermittlungsverfahren üblicherweise ab, wie lange dauert es im Allgemeinen, bis die Auswertung einer Telefonüberwachung vorliegt, wer kann Anklage erheben, welche Rechtsbehelfsmöglichkeiten haben Beteiligte? All das lässt sich ohne Verletzung von Amtsgeheimnissen allgemein beantworten und kann zu einem besseren Verständnis beitragen. Ich kann mir vorstellen, dass es zweckmäßig wäre, Ansprechpersonen für solche Fragen von Seiten des BMJ auch klar zu benennen und diesen Personen auch die Sicherheit zu geben, dass sie solche  Informationen geben dürfen, ohne damit den Medienerlass oder sonstige interne Regularien zu verletzen. ABER: zwischen dem "abstrakten" Erklären und der Beantwortung konkret fallbezogener Fragen, etwa zum Stand des Ermittlungsverfahrens, ist ein wesentlicher Unterschied. 

3. Selektive Informationen, also das eigeninitiative "Verkaufen von G'schichten" an bestimmte Journalist*innen oder bestimmte Medien, halte ich jedenfalls für rechtswidrig (siehe dazu näher schon hier). Öffentliche Stellen, auch die Justiz, haben die Medien gleich zu behandeln und können auch in der Öffentlichkeitsarbeit nicht nach Belieben bestimmte Journalist*innen mit Informationen versorgen und andere nicht. Das schließt nicht aus, dass man Verteiler festlegt, in denen nach sachlichen Kriterien (etwa: Chronikreporter*innen, Innenpolitik-Ressorts, Inlands-/Auslandsmedien etc.) unterschieden wird, oder die jedenfalls allen Interessent*innen nach sachlichen Kriterien offen stehen. Aber aus eigenem (nur) bestimmte Journalist*innen zu kontaktieren, weil man mit ihnen vielleicht eine bessere Gesprächsbasis hat, weil man meint, gerade dieser eine Fall passe vielleicht zur Krone und jener zur Presse, oder gar weil man noch irgendwem "was schuldig" zu sein glaubt oder dafür eine bestimmte Art der Berichterstattung erwartet, hat tabu zu sein (davon zu unterscheiden ist die Beantwortung von Anfragen einzelner Journalist*innen, die natürlich im Rahmen des von der Amtsverschwiegenheit Erlaubten bzw. von der Auskunftspflicht Gebotenen zu erfolgen hat).

Auch hier zuletzt eine Zusammenfassung: ein eigeninitiativer "Leak" eines Amtsträgers über einen in amtlicher Funktion wahrgenommenen Umstand in der Justiz an eine Journalistin ist schon deshalb kein Fall zulässiger "Justizkommunikation", weil damit - ungeachtet des Inhalts der Mitteilung - selektiv eine bestimmte Journalistin ohne sachlichen Grund bevorzugt wird. 

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*) Das hat mehrere Gründe, vor allem aber kenne ich den Betroffenen aus verschiedenen fachlichen  Zusammenhängen und zudem weiß ich vom Verfahren nicht mehr, als darüber in den Medien zu lesen war.

Monday, October 11, 2021

"Ich hoffe sehr, dass es eine Gegenleistung gab: nämlich Berichterstattung und ein Inserat" - Anmerkungen zu gekaufter Berichterstattung

Die Durchsuchungs- und Sicherstellungsanordnung der Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft, in der u.a. der (mittlerweile Ex-)Bundeskanzler, sein Pressesprecher, sein "Kanzlerbeauftragter für Medien" sowie Helmuth und Wolfgang Fellner verschiedener strafbarer Handlungen verdächtigt werden (es gilt die Unschuldsvermutung), enthält auch Hinweise darauf, dass es zu den "Inserate- und Medienkooperationsvereinbarungen" des Finanzministeriums mit der Mediengruppe "Österreich"  GmbH eine Nebenabrede gegeben habe, wonach "aus sachfremden und nicht im Interesse des BMF gelegenen Gründen ... im Gegenzug für die aufgrund ... von Inseratenaufträgen durch das BMF geleisteten Zahlungen - zusätzlich zu den für die Verschleierung der Tathandlungen erforderlichen gekennzeichneten Schaltungen - ... vorgegebene redaktionelle Inhalte ... veröffentlicht werden".  
 
Mit anderen Worten: redaktionelle Berichterstattung nach Wunsch im Gegenzug gegen Werbebuchungen, oder "wer schaltet, schafft an." In diese Richtung konnte man ja schon eine frühere Äußerung des Nationalratspräsidenten verstehen, der in einem Interview zu Wolfgang Fellner sagte: "Sie kennen des G'schäft jo: für's Inserat gibt's a Gegeng'schäft, oder?" (Video). Und auch der (Ex-)Bundeskanzler sagte im ZIB2-Interview mit Martin Thür am 7.10.2021 auf die Frage, ob es eine Gegenleistung für die Schaltung von Inseraten durch das BMF gab: "ich hoffe sehr, dass es eine Gegenleistung gab, nämlich Berichterstattung und ein Inserat, das ist nämlich der Preis, den man bezahlt" (Video, bei ca. 14:10). Sollte das kein Versprecher gewesen sein, würde es auch ein Verständnis nahelegen, dass die gewünschte Berichterstattung Teil des "Deals" bei einer Inseratenschaltung ist. 

Auch abseits des Strafrechts (und - für die involvierten öffentlich Bediensteten - des Dienst- bzw. Disziplinarrechts), das mich hier nicht weiter interessiert, ist dieses Verständnis von "Medienkooperationen" rechtlich problematisch, um es vorsichtig auszudrücken. Dazu ein paar Anmerkungen.

1. Für "Regierungswerbung" gibt es gesetzliche Vorgaben. 

Entgeltliche Veröffentlichungen von Rechtsträgern, die der Rechnungshofkontrolle unterliegen, müssen den inhaltlichen Anforderungen des Medienkooperations- und -förderungs-Transparenzgesetzes (MedKF-TG) entsprechen. § 3a MedKF-TG verlangt unter anderem, dass solche entgeltlichen Veröffentlichungen "ausschließlich der Deckung eines konkreten Informationsbedürfnisses der Allgemeinheit zu dienen [haben], das in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Wirkungsbereich des jeweiligen Rechtsträgers steht. Darunter fallen insbesondere Informationen zur Rechtslage sowie Handlungs- oder Verhaltensempfehlungen und Sachinformationen. Audiovisuelle Kommunikation oder entgeltliche Veröffentlichungen, die keinen konkreten Bezug zur Deckung eines Informationsbedürfnisses aufweisen und ausschließlich oder teilweise lediglich der Vermarktung der Tätigkeit des Rechtsträgers dienen, sind unzulässig."

Für den Bund enthalten die "Richtlinien über Ausgestaltung und Inhalt entgeltlicher Veröffentlichungen von Rechtsträgern des Bundes" nähere Vorgaben, insbesondere muss der Auftragnehmer vertraglich zur eindeutigen Kennzeichnung als entgeltliche Einschaltung verpflichtet werden. Außerdem ist "die ausschließliche oder auch nur teilweise Vermarktung der Tätigkeit eines Rechtsträgers untersagt". Eine solche Vermarktung liegt nach den Richtlinien insbesondere dann vor, "wenn die Veröffentlichung überwiegend der Imagepflege des Rechtsträgers dient." 

Redaktionelle Berichterstattung, die als Gegenleistung für die Schaltung von Inseraten erfolgt, ist eine  entgeltliche Veröffentlichung; sie wäre daher (medienrechtlich nach § 26 Mediengesetz) zu kennzeichnen, und sie verstößt schon deshalb, weil eine Verpflichtung zur Kennzeichnung offensichtlich nicht Teil des Auftrags war, auch gegen das MedKF-TG. Im übrigen wird eine derartige gekaufte Berichterstattung in der Regel auch die inhaltlichen Kriterien nach dem MedKF-TG (Deckung eines konkreten Informationsbedürfnisses, Rechts- oder Sachinformation oder Handlungs- oder Verhaltensempfehlung) nicht erfüllen. 

Für den Fall der Verletzung der inhaltlichen Anforderungen des MedKF-TG sieht dieses Gesetz keine Sanktion vor, insbesondere auch keine Verwaltungsstrafe oder Geldbuße. Das ändert freilich nichts daran, dass eine "gekaufte Berichterstattung" eines öffentlichen Rechtsträgers, etwa des Bundes (zB vertreten durch das BMF), nach diesem Gesetz rechtswidrig ist. 

2. Die öffentliche Hand ist auch bei der Schaltung von Inseraten zur Gleichbehandlung verpflichtet. 

Die Frage, inwieweit der Bund und andere öffentliche Rechtsträger bei der Vergabe von Inseraten auch "im geschäftlichen Verkehr" im Sinne des Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) handeln und daher der lauterkeitsrechtlichen Kontrolle nach dem UWG unterliegen, war früher durchaus umstritten, die genauen Grenzen der lauterkeitsrechtlichen Kontrolle sind es immer noch. Ich spare mir hier die dogmatische Ableitung und Abgrenzung, denn für die hier interessierenden Fragen reicht ein Verweis auf die jüngere Rechtsprechung des OGH, die er insbesondere in seinem Beschluss vom 13.6.2019, 4 Ob 59/19h übersichtlich zusammenfasst. 

Demnach ist die öffentliche Hand aufgrund der Grundrechtebindung zur Gleichbehandlung von Wirtschaftsteilnehmern verpflichtet und darf diese nicht unsachlich bevorzugen oder benachteiligen.  
Eine privatwirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand unterliegt auch dann, wenn die öffentliche Hand damit überwiegende öffentliche Zielsetzungen verfolgt bzw. als reine Nachfragerin tätig ist, insoweit der lauterkeitsrechtlichen Kontrolle, als sie die Grenze des Gleichbehandlungsgebots überschreitet und einzelne Wirtschaftsteilnehmer unsachlich bevorzugt. 

Mit anderen Worten: die öffentliche Hand darf bei der Schaltung von Inseraten die Anbieter (Medien) nicht aus unsachlichen Gründen ungleich behandeln. Natürlich ist es schwierig abzugrenzen, wann eine unzulässige Ungleichbehandlung vorliegt und wann eine Differenzierung aus sachlichen Gründen. Wenn man Landwirt*innen mit Informationen zu Agrarförderungen erreichen will, wird man zulässigerweise eine Stadtzeitung anders behandeln können (und müssen) als eine Fachzeitschrift für die Landwirtschaft. Eine unzulässige Ungleichbehandlung liegt aber jedenfalls vor, wenn Anzahl oder Umfang der in einem bestimmten Medium geschalteten Werbung der öffentlichen Hand nicht von der gewünschten Reichweite oder Zielgruppe abhängig ist, sondern von Kriterien, die nichts mit dem nach § 3a Abs. 1 MedKF-TG gesetzlich einzig zulässigen Ziel - Deckung eines konkreten Informationsbedürfnisses der Allgemeinheit - zu tun haben. Das wäre zB dann der Fall, wenn Inseratenschaltungen in Abhängigkeit von (positiver oder negativer) Berichterstattung der Medien erfolgten, und natürlich insbesondere dann, wenn ein bestimmter Inhalt oder eine bestimmte Art der Berichterstattung sogar als Nebenabrede zum Vertrag über die Inseratenschaltung vereinbart würde.

Würde der Bund Inserate an eine bestimmte Berichterstattung binden, würde er nicht nur rechtswidrig handeln (einerseits nach dem MedKF-TG, andererseits wegen Verstoßes gegen die Verpflichtung zur Gleichbehandlung), sondern damit auch unlauter fremden Wettbewerb fördern. Er könnte daher gegebenenfalls von anderen Medien auf Unterlassung und - bei Verschulden - auf Schadenersatz in Anspruch genommen werden. 

3. (Exkurs) Inserate als Medienförderung wären rechtswidrig.

Andy Kaltenbrunner kommt in seiner Studie "Scheinbar transparent II", einer Analyse der Inserate der Bundesregierung in Österreichs Tageszeitungen und der Presse- und Rundfunkförderung im Pandemiejahr 2020, u.a. zu folgendem Befund: "Das im Corona-Jahr 2020 in historischer Rekordhöhe dotierte Werbebudget der Bundesregierung diente nicht nur der Information der BürgerInnen, sondern auch als indirekte Medienförderung." 

Wie schon erwähnt, müssen jedoch entgeltliche Veröffentlichungen von Rechtsträgern, die der Rechnungshofkontrolle unterliegen, ausschließlich der Deckung eines konkreten Informationsbedürfnisses der Allgemeinheit dienen, das in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Wirkungsbereich des jeweiligen Rechtsträgers steht (§ 3a Abs. 1 MedKF-TG). Würde man als Vertreter*in der öffentlichen Hand also tatsächlich Inserate aus anderen Erwägungen als zur Deckung eines konkreten Informationsbedürfnisses schalten, etwa auch zum Zweck der indirekten Medienförderung, wäre dies rechtswidrig. (Strafrechtliche Fragen klammere ich auch hier aus.)

4. Einflussnahme auf redaktionelle Inhalte widerspricht der Medienethik

Als Außenstehender "auf Inhalt oder Form eines redaktionellen Beitrags" Einfluss zu nehmen, ist unzulässig, sagt der Ehrenkodex für die österreichische Presse. Dieser Ehrenkodex ist freilich kein Gesetz, und schon gar nicht kann er die darin angesprochenen "Außenstehenden" binden. Aber er enthält jedenfalls eine klare Botschaft, deren Einhaltung man sich insbesondere auch von Vertreter*innen der öffentlichen Hand erwarten dürfte. 

5. Was tun?

Der Verdacht, dass jedenfalls in der Vergangenheit Inseratenschaltungen des Finanzministeriums nicht ausschließlich von sachlich nach dem MedKF-TG zulässigen Erwägungen geleitet gewesen sein könnten, liegt mit der inzwischen öffentlich bekannten Durchsuchungsanordnung auf dem Tisch. Der aktuelle Bundesminister für Finanzen hat immerhin schon angekündigt, dass die interne Revision des BMF, mit Unterstützung der Finanzprokuratur, die Sache prüfen wird. Außerdem wurde von Oppositionsparteien ein Untersuchungsausschuss angekündigt, mit noch unklarem Auftrag. 

Aus meiner Sicht wäre es - neben der straf- und dienstrechtlichen Aufarbeitung der konkreten Verdachtsfälle - geboten, die Frage der "Inseratenpolitik" im Verhältnis zur regulären Medienförderung grundsätzlich zu überdenken (siehe dazu zB auch den "Kommentar der anderen" von Sebastian Loudon auf derstandard.at). 

Aber daneben wäre es auch angebracht, sich der Frage nach möglichen "dunklen Flecken" in der "Inseratenpolitik" der Bundesministerien grundsätzlicher zu stellen. Wünschenswert wäre - wie auch bei der Aufarbeitung dunkler Flecken in anderem Zusammenhang - eine umfassende interdisziplinäre Aufarbeitung, bei der den Forschenden voller Zugang zu allen relevanten Akten/Informationen der Ministerien gewährt wird, und bei der quantitativ und qualitativ ein möglicher Zusammenhang zwischen Inseratenschaltung und Inhalten der Berichterstattung geprüft wird. Ich bin sicher, dass ein Team von Medienökonom*innen, Publizist*innen, Politikwissenschaftler*innen und Jurist*innen hier eine spannende Aufgabe von hohem öffentlichen Interesse finden würde. Eine solche Aufarbeitung wäre meines Erachtens auch eine mögliche fachliche Grundlage für eine allfällige politische Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss. Nur einen U-Ausschuss einzusetzen allein wird nämlich nicht reichen, um zu belastbaren, wissenschaftlich gesicherten Fakten über die Inseratenpolitik zu kommen. 

6. (Als PS) Auch sanktionslose Gesetze sollten eingehalten werden

Das MedKF-TG enthält für Verstöße gegen die inhaltlichen Anforderungen an "Regierungswerbung" keine Sanktionen. Wie meist bei Gesetzen, die sich an Vertreter*innen öffentlicher Rechtsträger richten, geht man davon aus, dass Gesetze schon deshalb eingehalten werden, weil es sie eben gibt. 

Das erinnert ein wenig an die Antwort von George Mallory auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle: "Because it's there". 

Nun ist die schlichte Einhaltung eines Gesetzes keine Aufgabe, die mit der Besteigung eines Achttausenders vergleichbar wäre, aber bei der Beobachtung jüngerer Entwicklungen würde ich mir gelegentlich mehr von diesem Spirit wünschen - ein Gesetz nicht erst einhalten, wenn man Sanktionen befürchten muss, sondern schlicht: "because it's there". 

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tl;dr: selektive Inseratenvergabe, gekoppelt an inhaltliche Berichterstattung, ist rechtswidrig und unlauter. Eine umfassende interdisziplinäre Aufarbeitung der Inseratenpolitik des Bundes (und wenn wir schon dabei sind: auch der Länder) wäre notwendig.

Monday, August 09, 2021

Eine Frage der Ehre: die Funktion als Mitglied des ORF-Stiftungsrats

Morgen entscheidet der ORF-Stiftungsrat über den nächsten ORF-Generaldirektor bzw. die nächste ORF-Generaldirektorin. Im Vorfeld gibt es die üblichen Diskussionen, auch unter Beteiligung diverser Verfassungsrecht- und Schadenersatz oder umgekehrt-Experten, und ich habe mich aus guten Gründen da eher zurückgehalten (abgesehen von einigen schlichten Hinweises auf Dinge, die ich in diesem Blog vor 15 oder 10 Jahren schon geschrieben habe - ich werde alt, und die meisten Debatten sind in der Sache nicht wirklich neu). 

Ich lasse die wichtigen Fragen hier aus und stürze mich auf eine Marginalie: § 19 Abs. 3 ORF-Gesetz. Diese Bestimmung lautet: 

"Die Funktion als Mitglied des Stiftungsrates und des Publikumsrates ist ein Ehrenamt. Die Mitglieder haben Anspruch auf angemessenen Ersatz der angefallenen Kosten."

Das heißt: anders als Aufsichtsratsmitglieder in vergleichbaren Unternehmen bekommen Mitglieder des Stiftungsrats für ihre Tätigkeit kein Entgelt. Für die - zuletzt etwa hier - kolportierten 50 € Pauschale pro Monat und 100 € Sitzungsgeld gibt es übrigens keine gesetzliche Grundlage, lediglich die "angefallenen Kosten" dürfen - und müssen - den Stiftungsratsmitgliedern ersetzt werden (im jüngsten Jahresabschluss weist der ORF "Bezüge" von insgesamt 55.300 € an die Mitglieder des Stiftungsrates aus; Peanuts, ich weiß, aber - soweit es sich nicht um den Ersatz tatsächlich angefallener Kosten handelt - ohne gesetzliche Grundlage). 

Ich halte die Ehrenamtlichkeit der Funktion eines Mitglieds des ORF-Stiftungsrates für ein strukturelles Problem. 

Nun bin ich zwar kein Anhänger des „if you pay peanuts, you get monkeys“, nicht nur weil es affenfeindlich ist, sondern weil es auch empirisch nicht stimmt: einerseits wird viel großartige Arbeit ehrenamtlich oder gering bezahlt geleistet, und andererseits kommt mir vor, dass manchmal Jobs, für die es wesentlich mehr als peanuts gibt, gerade von jenen erreicht werden, die man nach der erwähnten Redewendung eher dort vermuten würde, wo peanuts gezahlt werden (wobei es hilft, wenn man zB die Ausschreibung selbst formulieren und die Leute, die einen auswählen sollen, selbst auswählen kann).

Aber sind im ORF-Stiftungsrat (überwiegend) Personen, denen man abnimmt, diese Funktion aus reinem zivilgesellschaftlichem Engagement ehrenamtlich und - wie von der Verfassung gefordert - in voller Unabhängigkeit, damit auch frei von fremden Interessen, auszuüben? Das mag in einzelnen Fällen so sein, aber ich habe Zweifel, ob dies durchgängig der Fall ist.  

Füllt man die Funktion eines Stiftungsratsmitglieds nämlich angemessen aus (wovon man - auch entgegen manch empirischer Evidenz - ausgehen sollte), so erfordert sie – schon wegen des rechtlichen (wenngleich praktisch eher theoretischen) Haftungsrisikos und der Verantwortung – einiges an zeitlichem Aufwand. Der Stiftungsrat des ORF ist dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft nachgebildet, sowohl strukturell als auch von den Aufgaben her. Eine relativ aktuelle Erhebung hat für Aufsichtsratsmitglieder in Österreich einen Arbeitsaufwand von zwischen 12 bis 24 Arbeitstagen für ein normales Mitglied und von 36 bis 54 Tagen für den Vorsitzenden ergeben. Nun kann man einwenden, dass die ungewöhnlich große Anzahl von Stiftungsratsmitgliedern im Vergleich zu einem typischen Aufsichtsrat den Aufwand der einzelnen Mitglieder eher verringert, aber auch unter diesem Gesichtspunkt verbleibt noch eine recht beträchtliche zeitliche Belastung, die man sich erst einmal leisten können muss. 

Im Stiftungsrat des ORF sehen wir zB Unternehmens-, Politik-, Strategie- oder Kommunikationsberater, den Geschäftsführer einer Verwertungsgesellschaft, einen Musikmanager, die PR-Verantwortliche eines Museums, usw. (ich lasse im gesamten Blogpost übrigens die besondere - arbeitsverfassungsrechtlich geprägte - Rolle der vom Zentralbetriebsrat bestellten Mitglieder außer Betracht). Ich gehe davon aus, dass sie alle sich mindestens zwei Wochen unbezahlte Arbeit für den ORF schon leisten werden können, aber die Frage muss schon erlaubt sein: welche Interessen haben sie jeweils bewogen, diese Funktion zu übernehmen? Geld kann es ja - Strichwort: Ehrenamtlichkeit - nicht sein. 

Die Ehrenamtlichkeit lässt zumindest die Sorge zu, dass jemand eine Funktion als Mitglied des Stiftungsrates auch annimmt, weil er/sie 

  • damit für den Job, den er/sie eigentlich ausübt, etwas erreichen will und kann; das heißt aber, dass die Funktion als Mitglied des Stiftungsrates mehr im Interesse des eigenen Dienstgebers bzw. der eigentlichen Haupttätigkeit liegt, als im Interesse des ORF, oder 
  • darum gebeten wird, und weil er/sie vielleicht jemandem etwas schuldig ist, oder zumindest möchte, dass jemand ihm/ihr etwas schuldig ist. 

Dabei können die verfolgten Interessen legitim sein, etwa wenn sich der Geschäftsführer einer Verwertungsgesellschaft dafür einsetzt, dass die österreichische Musikwirtschaft im ORF gut bedient wird. Und das mit dem "jemandem etwas schuldig sein" muss man sich nicht als einfaches „do ut des“ vorstellen - aber es reicht die atmosphärische Verbindung, das Gefühl des potentiellen Stiftungsratsmitglieds: ich sollte das doch machen (zB für die Partei, für xy…) oder auf der anderen Seite: jetzt ist der/die für uns den in den Stiftungsrat gegangen, das rechnen wir ihm/ihr zumindest moralisch an – und vielleicht auch für den nächsten Auftrag, die nächste bezahlte Funktion, etc. 

Das alles ist natürlich schwer fassbar, und ich gehe davon aus, dass die Mitglieder des Stiftungsrates sich nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen, die Tätigkeit von ihren sonstigen (beruflichen) Interessen und wirtschaftlichen, politischen, freundschaftlichen Beziehungen zu trennen. Aber in der Praxis leistet die Konstruktion als Ehrenamt einem schlampigen Umgang mit Interessenkonflikten Vorschub: nehmen wir zB an, der ÖGB würde eine engagierte Betriebsrätin oder Funktionärin in den Publikumsrat schicken, die dann vom Publikumsrat in den Stiftungsrat entsandt würde: für die Tätigkeit im Publikums- und Stiftungsrat müsste sie sich jeweils Urlaub oder Zeitausgleich nehmen, was bei ihrem Arbeitgeber vielleicht nicht immer leicht durchsetzbar wäre, und sie würde dafür einen nicht unwesentlichen Teil ihres Jahresurlaubs verwenden. Läge es da nicht näher, vielleicht einen Berufsfunktionär zu entsenden, der die Tätigkeit mehr oder weniger in seine berufliche Tätigkeit "integrieren" kann? Bei dem der Dienstgeber vielleicht großzügiger mit Zeitausgleich oder Urlaub für diese Tätigkeit ist oder es gar hinnimmt, wenn diese Tätigkeit während der Arbeitszeit ausgeübt wird? Ähnliches gilt für die von Kammern nominierten Personen oder jene, die beruflich bei politischen Akademien tätig sind. 

Und damit bin ich an einem Punkt, an dem es rechtlich heikel wird. Wird die Tätigkeit eines Stiftungsratsmitglieds in der Arbeitszeit seines (fremden) Dienstgebers ausgeübt, so ist die verfassungsrechtlich geforderte Unabhängigkeit nicht mehr gegeben. Denn wenn der jeweilige Dienstgeber die Auffassung vertritt, die Tätigkeit als Publikums- oder Stiftungsratsmitglied sei (auch) in seinem Interesse gelegen und daher (von ihm) zu entlohnen, besteht keine völlige Ungebundenheit des Stiftungs- oder Publikumsratsmitglieds von Interessen Dritter. Dasselbe gilt natürlich, wenn im Rahmen einer selbständigen Tätigkeit Aufwendungen im Zusammenhang mit der Tätigkeit als Stiftungsratsmitglied steuerlich geltend gemacht werden, etwa indem Ressourcen des Unternehmens ohne "Herausrechnung" genutzt werden. 

Die Mitglieder des Stiftungsrates werden zu einem wesentlichen Teil von der Bundesregierung und den Ländern sowie auf Vorschlag der politischen Parteien bestellt; sie haben im Stiftungsrat aber nicht die Interessen jener zu vertreten, von denen sie ernannt oder vorgeschlagen wurden, sondern sie müssen die Funktion in völliger Unabhängigkeit ausüben. Damit ist unvereinbar, für die Tätigkeit als Stiftungsratsmitglied von dritter Seite entlohnt zu werden.

Was tun? Bloß die Ehrenamtlichkeit gesetzlich zu streichen und stattdessen eine angemessene Entlohnung für die Tätigkeit als Stiftungsratsmitglied vorzusehen, wird die faktischen (und teilweise, wie gerade erwähnt, auch rechtlichen) Probleme mangelnder Unabhängigkeit nicht lösen. Aber es wäre zumindest ein Schritt in Richtung mehr Ehrlichkeit.

[Disclosure: ich wurde in der Vergangenheit in zwei Fällen gefragt, ob ich eine Funktion als Stiftungsratsmitglied annehmen möchte; ich konnte jeweils schon deshalb ablehnen, weil dies mit meiner hauptberuflichen Tätigkeit unvereinbar ist - die Frage der Ehrenamtlichkeit war da also nicht entscheidend.]

PS (Ergänzung 9.8.2021, 20:30 Uhr): weil ich gerade darüber gestolpert bin, ein Auszug aus einem Artikel in der Presse aus 2011, von Anna-Maria Wallner, hier als Screenshot mit eigener Hervorhebung: Quod erat demonstrandum

Thursday, April 29, 2021

VfGH: wo sich die Justiz nicht einmal mehr auf der Ersatzbank findet

Wenn man Zeitungsberichten glauben darf  - und hier hätte ich jetzt keine besonderen Zweifel - dann war es zuletzt offenbar nur mehr die Frage, ob der von ÖVP-Seite favorisierte Prof. Michael Mayrhofer oder die von Grünen-Seite bevorzugte Prof.in Iris Eisenberger dem Herrn Bundespräsidenten zur Ernennung als Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofes vorgeschlagen wird. Ich kenne und schätze beide und hätte Iris Eisenberger ebenso für ausgezeichnet geeignet gehalten wie Michael Mayrhofer, der gestern von der Bundesregierung vorgeschlagen wurde

[Dass derartige Entscheidungen politisiert sind und den Bewerber*innen - ob berechtigt oder nicht - Parteinähe zugeschrieben wird, ist dem System der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit geschuldet; den Bewerber*innen sollte man das nicht vorwerfen, solange - was hier außer Zweifel steht - Personen ausgewählt werden, die fachlich qualifiziert und persönlich geeignet sind. Was nun, nach offenbar längerer Blockade in der Regierung, den Ausschlag für die Entscheidung gegeben hat, werden wir wohl nicht erfahren; auffällig ist, dass im gestrigen Ministerrat auch die Beschlussfassung über die Regulierungskommission und den Aufsichtsrat der E-Control erfolgte, wo man vielleicht eine etwas akzentuierte "grüne Handschrift" erkennen könnte.]

Gratulation also an Prof. Mayrhofer, aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf zwei Aspekte aufmerksam zu machen, die aus meiner Sicht perspektivisch Beachtung verdienen würden: die - vielleicht auch nur symbolische - personelle Verbindung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Justiz einerseits, und die Frage der fachlichen Diversität im VfGH andererseits. 

"Mir wern kan Richter brauchn"?

Nach Art. 147 Abs. 2 B-VG ernennt der Bundespräsident "den Präsidenten, den Vizepräsidenten, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder" auf Vorschlag der Bundesregierung; diese Mitglieder und Ersatzmitglieder sind "aus dem Kreis der Richter, Verwaltungsbeamten und Professoren eines rechtswissenschaftlichen Faches an einer Universität zu entnehmen" (für die weiteren Mitglieder ist kein bestimmter Herkunftsberuf erforderlich, diese müssen das Studium der Rechtswissenschaften oder die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien abgeschlossen haben und über eine zehnjährige juristische Berufserfahrung verfügen). 

Auch wenn die Aufzählung in Art. 147 Abs. 2 B-VG nicht als bewusste Reihung ("1. Richter, 2. Verwaltungsbeamte, 3. Professoren") anzusehen ist, so macht sie doch deutlich, dass der Verfassungsgesetzgeber von einem Leitbild ausgeht, nach dem Berufsrichter*innen aus dem Verfassungsgerichtshof nicht wegzudenken sind. Dennoch sind Justiz-Richter*innen seit langem nicht mehr als (Haupt)Mitglieder im Gremium des Verfassungsgerichtshofes vertreten (wenn ich jetzt nichts übersehen habe*) [Anm. 1.5.2021: natürlich habe ich etwas übersehen, siehe Fußnote unten], war Kurt Gottlich, der 2002 in Pension ging, der letzte Justizrichter im VfGH, wenngleich auch er eigentlich nur kurze Zeit judiziert hatte und vor seiner Tätigkeit am VfGH vor allem als Staatsanwalt tätig war; auch Peter Jann, der 1995 ausschied und zum Richter am EuGH ernannt wurde, war vor seiner Ernennung an den VfGH nicht mehr als Richter aktiv, sondern im ÖVP-Parlamentsklub tätig). Bis 2017 war noch Rudolf Müller Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, der bis 2012 zugleich Berufsrichter war (allerdings nicht in der ordentlichen Justiz, sondern am Verwaltungsgerichtshof).

Es ist verständlich, dass neben einer richterlichen Tätigkeit in der Justiz eine "Nebentätigkeit" als Verfassungsrichter*in schon aus Gründen der zeitlichen Belastung praktisch nicht in Betracht kommt - ganz abgesehen davon, ob und welche Richter*innen so sehr in die Nähe der Politik kommen, dass sie für eine Ernennung an den VfGH in Betracht gezogen würden. 

Allerdings gab es doch in der zweiten Republik eine gewisse Tradition, dass zumindest auf der symbolischen Ebene der Ersatzmitglieder eine "Verklammerung" mit der ordentlichen Justiz erfolgte: so war zB OGH-Präsidentin Irmgard Griss Ersatzmitglied des VfGH, ebenso vor ihr schon ihr Vorgänger als OGH-Präsident Erwin Felzmann. Zuletzt war noch Liliane Hofmeister, früher Richterin am Handelsgericht Wien, Ersatzmitglied des VfGH. Nach ihrem Ausscheiden mit Ende Dezember 2020 ist damit der letzte symbolische Zusammenhang zwischen ordentlicher Justiz und VfGH auf personeller Ebene aufgelöst (zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und VfGH besteht dieser Zusammenhang durch drei Ersatzmitglieder, die zugleich Richter*innen am VwGH sind, weiter). 

Klar: der VfGH ist, so wie er ist, korrekt zusammengesetzt, nirgendwo wird verlangt, dass zB jedenfalls mindestens ein*e Richter*in Mitglied oder Ersatzmitglied des VfGH sein müsste - aber wünschen wird man es sich wohl dürfen. Immerhin werden - nicht zuletzt durch den "Parteienantrag auf Normenkontrolle" (Ex-OGH-Präsident Ratz hatte zumindest in der Diskussion um die Gesetzwerdung noch von der "Querulantenbeschwerde" gesprochen) - vermehrt auch zivilrechtliche und auch zivilprozessuale Normen zur Prüfung an den VfGH herangetragen. Es wäre wohl der Fachdiskussion nicht abträglich, könnten auch erfahrene Richter*innen, die solche Materien jahrelang judiziert haben, ihre Expertise einbringen. 

Und auch wenn es - wie schon gesagt - bei der aktuellen, vom Konzept her nebenberuflich angelegten Verfassungsgerichtsbarkeit unrealistisch ist, dass im aktiven Berufsleben stehende Richter*innen zugleich (Haupt)Mitglied des Verfassungsgerichtshofes sein können, so wäre doch meines Erachtens die Ernennung eines Ersatzmitglieds aus dem Kreis der Justizrichter*innen eine wünschenswerte Geste, die auch die notwendige Verbindung und Zusammenarbeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Justiz deutlich machen könnte. Im Übrigen ist die ZPO die im Verfahren vor dem VfGH subsidiär anwendbare Verfahrensnorm - und gerade einmal die Anwält*innen haben, je nach Fachgebiet, mehr oder weniger Erfahrung damit. 

Bei der Besetzung gefordert ist freilich nicht der VfGH selbst (wenngleich man den Einfluss aus dem Gerichtshof heraus auf die Bewerbungen nicht unterschätzen sollte), sondern wer gerade mit der Nominierung an der Reihe wäre. In nächster Zeit ist das ohnehin nicht der Fall - wenn nicht ein Ersatzmitglied vorzeitig ausscheidet (vielleicht zum Mitglied ernannt wird), dann wird das nächste Ersatzmitglied erst wieder in rund acht Jahren zu bestellen sein (das nächste reguläre Mitglied übrigens erst in rund vier Jahren)

Ich schreibe das dennoch jetzt, nachdem die Auswahl für die mit Ende Dezember 2020 freigewordene Funktion eines Ersatzmitglieds getroffen wurde (ich weiß ja nicht einmal, ob sich geeignete Vertreter*innen aus der Justiz beworben haben), nur damit ich das auch mal nachweislich wo gesagt habe: Ich bin schon der Meinung, dass der VfGH "an Richter [a Richterin] brauchn" würde.

Der Verfassungsgerichtshof sollte nicht nur aus Verfassungsspezialist*innen bestehen

Auf den ersten Blick scheint es klar: ein Verfassungsgerichtshof braucht Spezialist*innen des Verfassungsrechts. Gut, die hat er, und zwar reichlich: im öffentlichen Recht habilitierte Professor*innen (Grabenwarter, Madner, Lienbacher, Holoubek, Hauer) und Verwaltungsbeamt*innen aus dem öffentlich-rechtlichen Bereich (Kahr, Schnizer, Hörtenhuber, Siess-Scherz) machen schon eine satte Mehrheit aus, dazu kommt ein im öffentlichen Recht spezialisierter Rechtsanwalt (Herbst), zwei ausgewiesene Strafrechtler (Brandstetter, Rami) und ein Steuerrechtler (Achatz), also ebenfalls im weiteren Sinne Öffentlich-Rechtler. Gerade einmal Sieglinde Gahleitner als Arbeitsrechtlerin ist nicht nur im öffentlichen Recht (einschließlich des Strafrechts und des Steuerrechts) zu Hause. Blickt man auf die Ersatzmitglieder, ist das Bild auch ziemlich eindeutig: drei Richter*innen des Verwaltungsgerichtshofs, nun zwei Professor*innen des öffentlichen Rechts und ein Rechtsanwalt, der laut seiner Website offenbar eher im Zivilrecht (Unternehmensrecht, Familienrecht, Erbrecht, IP- und Wettbewerbsrecht) tätig ist.

Natürlich sind die aktuellen Mitglieder des VfGH als ausgezeichnete Jurist*innen in der Lage, das gesamte sich ihnen bietende Feld zu beackern. Aber es gibt Gründe, warum zB nach dem Ausscheiden des Steuerfachmanns Prof. Ruppe umgehend mit Markus Achatz wieder ein Prof. für Steuerrecht zum Mitglied des VfGH ernannt wurde. Das klassische Zivilrecht hingegen ist im VfGH seit dem Ausscheiden von Prof. Spielbüchler Ende 2009 zumindest auf "Professor*innen-Ebene" nicht mehr vertreten. Ich sage es vorsichtig: schaden würde es dem VfGH wohl nicht, wenn das bei Gelegenheit wieder geändert würde. 

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PS, in Vorwegnahme der zu erwartenden Kritik: was geht's mich an? Eh nichts, aber ich schreib es halt auf, weil ich kann, grad Lust dazu hab und auch der Meinung bin, dass dieser Gesichtspunkt ein wenig mehr Beachtung verdient hätte. Ich bilde mir nicht ein, dass meine Meinung maßgeblich wäre, aber wer bis hierher gelesen hat, den/die hat es vielleicht interessiert. Ich kann darüber auch schreiben, weil ich da ganz frei von Eigeninteressen bin: ich habe mich nicht beworben und werde mich nicht bewerben, und ich bin auch weder Justizrichter, noch kann ich angesichts meines aktuellen Berufs als Hardcore-Zivilrechtler durchgehen (auch wenn das meine juristische Herkunft ist und ich in meinem Herzen "Zivilist" geblieben bin).

PPS: Die Funktion eines Ersatzmitglieds des Verfassungsgerichtshofes sollte man nicht überbewerten: Ersatzmitglieder kommen zum Zug, wenn andere ausfallen, das eine Ersatzmitglied mehr, das andere weniger, und sie schreiben auch nicht die großen Erkenntnisse, nehmen aber natürlich, wenn sie eintreten, mit vollem Stimmgewicht an der Beratung und Abstimmung teil. Die Funktion ist vor allem eine hohe Ehre, weniger ein Beruf zum Geldverdienen: Ersatzmitglieder erhalten keine fixe Vergütung, sondern nach § 4 Abs. 3 VfGG "für jede Sitzung, an der sie teilgenommen haben, eine Entschädigung" (derzeit pro Sitzungstag, wenn ich das jetzt richtig berechnet habe, 830,52 € - das ist nicht nichts, aber zB für einen sonst gut beschäftigten Anwalt nicht das, was er sonst an einem Tag verdienen könnte). 

*) Ergänzung/Korrektur (1.5.2021): leider habe ich wirklich etwas übersehen: Brigitte Bierlein, seit 1.1.2003 Vizepräsidentin, von Februar 2018 bis Juni 2019 Präsidentin des VfGH, hatte ich offenbar im Gedächtnis so sehr als Staatsanwältin abgespeichert, dass ich übersehen habe, dass sie natürlich auch zunächst - wenn auch nur für zwei Jahre - Richterin war. Danke an einen aufmerksamen Verfassungsrichter für den Hinweis!

Thursday, April 01, 2021

20 Jahre RTR (oder: als mich Wolfgang Schüssel kurzfristig und ohne Ausschreibung zum Geschäftsführer einer Bundesgesellschaft bestellte)

Heute vor zwanzig Jahren trat das "Bundesgesetz über die Einrichtung einer Kommunikationsbehörde Austria („KommAustria“) und eines Bundeskommunikationssenates (KommAustria-Gesetz – KOG)", BGBl I 2001/32, in Kraft. Damit wurden nicht nur die zwei im Titel des Gesetzes genannten Behörden eingerichtet, sondern auch eine neue, nicht gewinnorientierte Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet. Diese führt die Firma „Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH“ (RTR-GmbH); ihre Anteile sind zu hundert Prozent dem Bund vorbehalten. Die RTR-GmbH gibt es - in ihrer Struktur weitgehend unverändert, aber mit einigen Veränderungen im Aufgabenbereich - heute noch. Auch die KommAustria besteht nun schon 20 Jahre, wobei deren Struktur allerdings mit der Novelle BGBl I 2010/50 ab 1.10.2010 gründlich verändert wurde; insbesondere wurde sie von einer dem Bundeskanzler weisungsgebundenen monokratischen Behörde zu einer unabhängigen Kollegialbehörde umgestaltet. Der Bundeskommunikationssenat - eine "Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag" alter Schule - hatte ein kürzeres Leben: er wurde als eine von vielen derartigen Behörden mit Einführung der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit zum 1.1.2014 aufgelöst. 

Das KommAustria-Gesetz war - darüber wurde schon viel geschrieben - eher eine Verlegenheitslösung, weil der zunächst in Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP, dann auch von der Koalition aus ÖVP und FPÖ angepeilte große Wurf (siehe die Regierungsvorlage 400 BlgNR 21. GP) eine Verfassungsmehrheit gebraucht hätte, die schließlich nicht erzielt werden konnte (ich habe die in der Regierungsvorlage vorgesehene Konstruktion als "eher hypertroph" angesehen und diese Ansicht auch nie verheimlicht; in einem späteren Vortrag habe ich die dort geplante KommAustria als "pseudo-konvergente Behörde mit kompliziertem Zusammenspiel mehrerer Kommissionen plus einer Art Frühstücksdirektor" bezeichnet). 

Das Gesetz war aber auch dringlich: denn der VfGH hatte mit Erkenntnis vom 29.6.2000, G 175-266/99, § 13 des Regionalradiogesetzes aufgehoben und damit der bisherigen Behördenkonstruktion im Rundfunkbereich den Boden entzogen. In der Folge wurden zahlreiche Zulassungsbescheide von Privatradioveranstaltern aufgehoben. Weitersenden war nur aufgrund einer schnell geschaffenen Behelfskonstruktion bis Ende Juni 2001 möglich, und die nächste Aufhebung durch den VfGH stand auch schon bevor (erfolgte dann mit 21.6.2001, G 141/00 ua). 

Eile war also geboten, und so trat das KommAustria-Gesetz nur zwei Tage nach Kundmachung am 1. April 2001 in Kraft. Die damit geschaffenen Funktionen waren erst auszuschreiben, mussten aber umgehend provisorisch besetzt werden, denn so eine neue GmbH muss schließlich auch handlungsfähig sein. Zudem wurde die Gesellschaft zwar juristisch aus dem Nichts erschaffen, aber unmittelbar mit ihrer Einrichtung wurde die Telekom-Control GmbH kraft Gesetzes auf sie verschmolzen - die schon bestehende Telekom-Regulierungsbehörde musste ja weiter tätig sein können. Auch die Verschmelzung war natürlich beim Firmenbuch anzuzeigen, und auch dazu brauchte man Geschäftsführer für die neue GmbH (je einen für den Bereich Telekommunikation, zu bestellen von der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie, und für den Bereich Rundfunk, zu bestellen vom Bundeskanzler). 

Ich war damals Leiter der Rechtsabteilung der Telekom-Control GmbH (TKC) und als solcher im Vorfeld häufig mit den Legisten im BKA und BMVIT in Kontakt gestanden, weil es schließlich auch um die möglichst reibungsfreie Integration der TKC in die neue RTR und die dazu notwendigen Anpassungen im TKG (und im KommAustria-Gesetz) ging. Als sich dann die Frage stellte, wer die provisorische Geschäftsführung für die neue GmbH für den Rundfunkbereich übernehmen sollte (für den Bereich Telekommunikation war klar, dass der bisherige TKC-Geschäftsführer bleiben sollte), kam man im BKA auf mich. Ich konnte glaubhaft versichern, das wirklich nur übergangsweise machen zu wollen, und man traute mir offenbar auch zu, die neue GmbH halbwegs unfallfrei über die ersten paar Monate zu bringen, bis nach der Ausschreibung der definitive Geschäftsführer bestellt werden sollte. 

Und so kam es, dass ich vom damaligen Bundeskanzler kurzfristig zum Geschäftsführer einer neu geschaffenen Bundesgesellschaft bestellt wurde, an deren gesetzlicher Ausgestaltung ich zuvor (ein wenig) mitbeteiligt war. 

Im Unterschied zu anderen Organbestellungen in bundeseigenen Unternehmen, die derzeit diskutiert werden, gingen dieser Bestellung freilich keine Chats mit dem Bundeskanzler oder seinem Kabinett voraus (ganz abgesehen davon, dass das mit den Emojis damals noch nicht gebräuchlich war). Andererseits: bei der RTR ging es auch nicht um Milliarden.

Wednesday, March 17, 2021

Recht auf Zugang zu Informationen nach Art. 10 EMRK: nun auch vom VfGH anerkannt

Gibt es in Österreich ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Zugang zu Informationen? Noch nicht, könnte man glauben, wenn man die aktuelle Diskussion um den Ministerialentwurf für ein Informationsfreiheitsgesetz verfolgt - denn erst mit diesem Gesetzesvorhaben soll ein derartiges Recht erstmals im B-VG verankert werden. Mit seinem gestern veröffentlichten Erkenntnis vom 4. März 2021, E 4037/2020, hat der Verfassungsgerichtshof allerdings anerkannt, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch Art. 10 EMRK ("Freiheit der Meinungsäußerung") ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Zugang zu Informationen gewährt.

Der VfGH folgt damit dem EGMR, der in seiner Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK ein Recht auf Zugang zu Informationen unter bestimmten Voraussetzungen schon seit längerem anerkannt hat, etwa im Urteil Társaság a Szabadságjogokért (14.04.2009, siehe im Blog dazu hier), vor allem aber im Urteil der Großen Kammer im Fall Magyar Helsinki Bizottság (08.11.2016; siehe im Blog dazu hier).

In Österreich hatte sich VfGH in seiner Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK - der ja innerstaatlich im Verfassungsrang steht - allerdings auch nach dem EGMR-Urteil Társaság a Szabadságjogokért noch weiter an früherer Rechtsprechung des EGMR orientiert, in der dieser ein Recht auf Informationszugang noch abgelehnt hatte. So wies der VfGH in seinem Erkenntnis vom 02.12.2011, B 3519/05, die Beschwerde einer NGO gegen die Verweigerung des Zugangs zu Entscheidungen der Tiroler Landes-Grundverkehrskommission ab, weil keine Verpflichtung des Staates bestehe, den Zugang zu Informationen zu gewährleisten oder selbst Informationen bereitzustellen (siehe zu diesem Erkenntnis den zweiten Teil dieses Blogposts). Die betroffene NGO beschwerte sich danach beim EGMR, dieser gab ihr Recht und stellte mit Urteil vom 28.11.2013, Österreichische Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes, eine Verletzung des Art. 10 EMRK durch Österreich fest (siehe im Blog dazu hier).

Mit dem gestern veröffentlichten Erkenntnis hat der VfGH nun die Lehren aus dieser Rechtsprechungsdivergenz gezogen. Der VfGH ist von seiner alten Rechtsprechung ausdrücklich abgegangen und auf die Linie des EGMR eingeschwenkt. Er vollzieht damit auch nach, was in der Rechtsprechung des VwGH zum (einfachgesetzlichen) Recht auf Auskunft im Lichte der einschlägigen EGMR-Rechtsprechung judiziert wurde (siehe etwa VwGH 29.05.2018, Ra 2017/03/0083; siehe zur Rechtsprechungsentwicklung auch die Fachinfo auf der Website des Parlaments), sodass man nun in Österreich auf eine einigermaßen einheitliche - und mit dem EGMR im Einklang stehende - Rechtsprechung zum Recht auf Informationszugang setzen kann.

Der VfGH bezieht sich in seinem Erkenntnis natürlich vor allem auf das EGMR-Urteil Magyar Helsinki Bizottság, in dem der EGMR seine bisherige Rechtsprechung dahingehend zusammengefasst habe,

"dass Art. 10 Abs. 1 EMRK unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Recht auf Zugang zu Informationen gewährleistet (vgl. zuletzt auch EGMR 8.10.2019, Fall Szurovecz, Appl. 15.428/16, Newsletter Menschenrechte 2019, 423). Dies ist einerseits dann der Fall, wenn die Offenlegung der Informationen von einem Gericht rechtskräftig angeordnet wurde. Andererseits besteht ein solches Recht, wenn der Zugang zu Informationen für die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit, insbesondere der Freiheit des Erhalts und der Weitergabe von Informationen, maßgeblich ist. Für den Bestand und die Reichweite dieses Rechts ist insbesondere von Bedeutung, ob das Sammeln der Informationen ein relevanter Vorbereitungsschritt für journalistische oder andere Aktivitäten ist, ob die Offenlegung der begehrten Informationen im öffentlichen Interesse notwendig sein kann – insbesondere weil sie für Transparenz über die Art und Weise der Führung von Amtsgeschäften und über Angelegenheiten, die für die Gesellschaft als Ganzes interessant sind, sorgt –, ob der Grundrechtsträger als Journalist oder Nichtregierungsorganisation oder in einer anderen Funktion als "public watchdog" im öffentlichen Interesse tätig wird und schließlich ob die begehrte Information bereit und verfügbar ist und daher kein weiteres Sammeln von Daten notwendig ist (vgl. EGMR, Fall Magyar Helsinki Bizottság, Z 149 ff.).

Daraus ergibt sich, dass Art. 10 Abs. 1 EMRK zwar keine generelle Verpflichtung des Staates begründet, Informationen bereitzustellen oder Zugang zu Informationen zu gewähren. Ein Recht auf Zugang zu Informationen kann jedoch (insofern abweichend von VfSlg. 19.571/2011) nach Maßgabe der zuvor dargelegten Kriterien [...] im Einzelfall bestehen."

Abgesehen davon, dass meines Erachtens nicht das Urteil Szurovecz vom 08.10.2019 das "zuletzt" ergangene einschlägige Urteil des EGMR ist (sondern eher Leshchenko vom 21.01.2021), ist hervorzuheben, dass der VfGH klar und ohne Brüche oder Modifikationen die EGMR-Rechtsprechung für die innerstaatliche Verfassungsrechtslage übernimmt (ähnlich für die einfachgesetzliche Rechtslage nach dem Auskunftspflichtgesetz VwGH 29.05.2018, Ra 2017/03/0083, Rn. 22).

Damit zur Fallprüfung, wie sie der VfGH hier vorgenommen hat:

1. Liegt ein Eingriff in Art. 10 EMRK vor?

Im konkreten Fall - es ging um das Auskunftsbegehren eines Journalisten an den Präsidenten des Nationalrates, welche Abgeordneten in den Jahren 2017, 2018 und 2019 die Gehaltsfortzahlung nach Erledigung ihres Mandates in Anspruch genommen haben - waren die Kriterien erfüllt:

  • "Der Beschwerdeführer stellte sein Auskunftsbegehren erkennbar im Rahmen journalistischer Recherchen und wurde dabei in seiner Funktion als "public watchdog" tätig."
  • "Die begehrte Auskunft zielt auf den Bestand und die Dauer von Fortzahlungsansprüchen von ehemaligen Nationalratsabgeordneten nach dem Bundesbezügegesetz ab. Sie dient dem vom Beschwerdeführer nachvollziehbar dargelegten Interesse an Transparenz politischer Akteure und einer Debatte um die Bezüge von Nationalratsabgeordneten. Sie ist damit jedenfalls geeignet, zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse beizutragen."
  • "Mangels gegenteiliger Hinweise im Verfahren ist auch nicht ersichtlich, dass die begehrten Informationen nicht bereit und verfügbar wären."
Das Auskunftsbegehren war daher vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 EMRK erfasst, und durch die Abweisung des Auskunftsbegehrens war ein Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 EMRK erfolgt.

2. Gibt es für den Eingriff eine ausreichende gesetzliche Grundlage?

Der VfGH hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 1 Abs. 1 Auskunftspflichtgesetz; diese Bestimmung stellt einen Eingriff in das Recht auf Datenschutz nach § 1 Abs. 1 DSG und "gleichzeitig auch einen Eingriff in Art. 10 Abs. 1 EMRK dar, weil die Anordnung, dass eine Auskunft im Fall einer entgegenstehenden Verschwiegenheitspflicht nicht zu erteilen ist, auch auf Fälle wie den vorliegenden zur Anwendung kommt, in denen nach Art. 10 Abs. 1 EMRK ein Recht auf Zugang zu Informationen besteht".

3. Verfolgt die gesetzliche Bestimmung ein legitimes Ziel?

Eine gesetzlich vorgesehene Beschränkung der betroffenen Grundrechte (Meinungsäußerungsfreiheit und Datenschutz) ist nach dem jeweiligen Gesetzesvorbehalt nur zulässig, sofern sie aus einem der in Art. 10 Abs. 2 EMRK bzw. § 1 Abs. 2 DSG iVm Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Gründe notwendig ist. Der VfGH hält dazu fest, dass der Eingriff in das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit und in jenes auf Datenschutz durch § 1 Abs. 1 Auskunftspflichtgesetz jeweils dem "Schutz der Rechte anderer" iSd Art. 10 Abs. 2 EMRK bzw. § 1 Abs. 2 DSG iVm Art. 8 Abs. 2 EMRK dient, "nämlich dem jeweils entgegengesetzten Grundrecht." Der Eingriff verfolgt somit, so der VfGH, "jedenfalls ein legitimes Ziel."

4. Ausreichend präzise gesetzliche Grundlage?

Interessant sind die Ausführungen des VfGH zur ausreichenden Präzision der gesetzlichen Grundlage, die er nur im Hinblick auf § 1 Abs. 2 DSG (nicht aber im Hinblick auf Art. 10 Abs. 2 EMRK) ausdrücklich als gefordert ansieht. Hier war der Präsident des Nationalrats in seiner Äußerung im Verfahren vor dem VfGH der Auffassung, dass § 1 Abs. 1 Auskunftspflichtgesetz nicht als hinreichend bestimmte Eingriffsermächtigung in das Recht auf Datenschutz anzusehen wäre. Der VfGH schließt sich dieser Auffassung nicht an: Die Anforderung, wonach die Eingriffsnorm ausreichend präzise sein muss, ist demnach "im vorliegenden Fall schon deshalb erfüllt, weil diese Bestimmung die gebotene Interessenabwägung zwischen dem Grundrecht auf Information iSd Art. 10 Abs. 1 EMRK und jenem auf Datenschutz und damit einen angemessenen Ausgleich [...] zwischen diesen beiden Grundrechtspositionen ermöglicht." Mit anderen Worten: schon dass die Norm eine Abwägung der betroffenen Grundrechtspositionen ermöglicht (Normtext: "...Auskünfte zu erteilen, soweit eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht dem nicht entgegensteht.") reicht aus, um sie als hinreichend bestimmt anzusehen. Das klingt mutig - aber ohne diese Prämisse wäre weder das Auskunftspflichtgesetz noch ein allenfalls kommendes Informationsfreiheitsgesetz sinnvoll zu vollziehen.

5. Interessenabwägung: angemessener Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen?

Als letzter Prüfschritt bleibt die zentrale Frage, ob die Interessenabwägung gesetzmäßig vorgenommen wurde und ob dabei die kollidierenden Grundrechtspositionen in einen angemessenen Ausgleich gebracht wurden. Der VfGH begründet hier sehr knapp, aber deutlich: er hat keinen Zweifel daran, "dass an der Tätigkeit von Nationalratsabgeordneten und damit auch an der Kenntnis ihrer Bezüge ein gewichtiges Interesse der Öffentlichkeit besteht." Die Bezugsfortzahlungen können nicht getrennt vom (ehemaligen) Nationalratsmandat betrachtet werden; an der Kenntnis von solchen Fortzahlungen "besteht daher in gleicher Weise wie bei Bezügen amtierender Nationalratsabgeordneter ein gewichtiges Interesse der Öffentlichkeit. Das entgegengesetzte Interesse der ehemaligen Nationalratsabgeordneten an der Geheimhaltung der Information, ob (und für wie lange) sie eine solche Bezugsfortzahlung erhalten haben, tritt demgegenüber in den Hintergrund."

Ergebnis: das Auskunftsinteresse des Journalisten nach Art. 10 Abs. 1 EMRK überwiegt das Geheimhaltungsinteresse der von der begehrten Auskunft betroffenen ehemaligen Nationalratsabgeordneten. "Die Verweigerung der Auskunft stellt somit einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 EMRK gewährleistete Auskunftsrecht des Beschwerdeführers dar."

Zusammenfassung

Der VfGH ist mit dem gestern veröffentlichten Erkenntnis von seiner früheren Rechtsprechung abgegangen und hat erstmals in der Verweigerung des Zugangs zu Informationen eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit erkannt.

Er hat damit allerdings kein allgemeines (verfassungsgesetzlich gewährleistetes) Recht auf Zugang zu Informationen anerkannt, sondern stellt - dem EGMR folgend - auf eine Reihe von Kriterien ab, die (kumulativ) gegeben sein müssen, damit ein Zugangsrecht besteht.

Wesentlich ist dabei vor allem
  • der Zweck des Informationsansuchens (geht es um Vorbereitungen für journalistische Aktivitäten oder zumindest für das Schaffen einer öffentlichen Debatte?),
  • ob der Zugang tatsächlich notwendig ist, um das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit (hier relevant die "Freiheit zur Mitteilung von Nachrichten") auszuüben, und
  • ob die Informationen, Daten oder Dokumente, hinsichtlich derer Zugang begehrt wird, einen "public interest"-Test bestehen (zB für Transparenz über die Art und Weise der Führung von Amtsgeschäften sorgen oder für die Gesellschaft als Ganzes interessant sind), weiters
  • welche Rolle der Person zukommt, die Zugang begehrt (insbesondere eine "watchdog"-Rolle wie sie Medien oder NGOs zukommt), und schließlich
  • ob die Informationen bereit und verfügbar sind.

Überblick zur EGMR-Rechtsprechung zum Zugang auf Information seit dem Urteil Magyar Helsinki Bizottság

Der VfGH hat sich in seinem Erkenntnis im Wesentlichen auf das grundlegende Urteil der Großen Kammer des EGMR im Fall Magyar Helsinki Bizottság gestützt, und er hat daneben aus der jüngeren EGMR-Rechtsprechung nur noch das Urteil Szurovecz zitiert. Der EGMR hat allerdings seit dem Urteil Magyar Helsinki Bizottság - und aufbauend auf diesem - eine Reihe weiterer Urteile und Entscheidungen zu Fragen des Zugangs zu Informationen im Lichte des Art. 10 EMRK getroffen. Dabei zeigt sich auch, dass die Kriterien des Magyar Helsinki Bizottság-Urteils nicht immer leicht zu erfüllen sind.

Eine Verletzung des Art. 10 EMRK wegen der Verweigerung des Zugangs zu Informationen wurde in folgenden Fällen anerkannt:
  • Das Urteil vom 29.01.2019, Cangı gegen Türkei (Appl. no. 24973/15), betraf den Zugang zu einem Protokoll einer Sitzung des türkischen Rates für die Bewahrung des Kultur- und Naturerbes, in dem es über Maßnahmen zum Schutz der antiken Stätten von Allianoi ging, die durch einen Dammbau gefährdet waren; der Beschwerdeführer war Anwalt und Mitglied einer Initiative, die gegen den Dammbau kämpfte, und er konnte sich auf ein türkisches Gesetz stützen, das grundsätzlich Zugang zu Informationen vorsah; der EGMR kam in diesem Fall (einstimmig) zum Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Zugang zu Informationen keine ausreichende gesetzliche Grundlage hatte, da die Auslegung der Ausnahmebestimmung im Gesetz über den Zugang zu Informationen durch die nationalen Behörden und Gerichte den Grundsatz des Gesetzes (Zugang ist zu gewähren, wenn keine Ausnahme vorliegt) in sein Gegenteil verkehrt hatte.
  • In dem vom VfGH zitierten Urteil vom 8.10.2019, Szurovecz gegen Ungarn (Appl. no. 15428/16; siehe dazu auch die Pressemitteilung), ging es um den Zugang eines Journalisten zu einem Aufnahmezentrum für Asylwerber. Hier stellte der EGMR (ebenfalls einstimmig) eine Verletzung des Art. 10 EMRK fest, weil mit der Verweigerung des Zugangs die journalistische Recherche gehindert wurde. Zwar diente die bestehende gesetzliche Regelung legitimen Zielen (dem Schutz des Privatlebens der Flüchtlinge), die Maßnahme war aber nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil es sich bei der Frage nach der menschenwürdigen Unterbringung im Aufnahmezentrum um eine Angelegenheit von erheblichem öffentlichen Interesse handelte, keine erkennbare Abwägung zwischen den betroffenen grundrechtlich geschützten Interessen erfolgt war, und der Journalist zudem zugesichert hatte, keine Fotos ohne Zustimmung zu machen und auch keine Sensationsberichterstattung geplant war. Außerdem prüfte der EGMR, ob es für den Journalisten andere Möglichkeiten gegeben hätte, um zu den Informationen zu kommen, was hier zu verneinen war: die Möglichkeit, mit Asylwerbern außerhalb des Lagers zu sprechen oder auf Informationen zB von NGOs zurückzugreifen, die im Aufnahmezentrum waren, hätte die persönliche Vor-Ort-Recherche im Aufnahmezentrum nicht ersetzen können (mehr zu diesem Fall auch in einem Blogpost von Dirk Voorhoof und Ronan Ó Fathaigh auf Strasbourg Observers).
  • Das Urteil vom 26.3.2020, Centre for democracy and the rule of Law gegen Ukraine (Appl. no. 10090/16), betraf den Zugang zu den Lebensläufen von Parteivorsitzenden, die im Zusammenhang mit einer Wahl bei der Wahlkommission eingereicht worden waren. Der EGMR hielt fest, dass die begehrten Informationen - Ausbildungsgang und beruflicher Werdegang - den public-interest Test bestanden (auch wenn Vieles davon schon in der Öffentlichkeit bekannt war, ging es hier vor allem auch darum, die von den Betroffenen selbst dargelegten Lebensläufe prüfen zu können); die beschwerdeführende Organisation war ein "watchdog" und die Information war leicht verfügbar; der EGMR akzeptierte, dass die Nichtherausgabe der Informationen einem legitimen Ziel - dem Schutz des Privatlebens - diente, betonte aber, dass die Veröffentlichung dieser Informationen nicht zu einer größeren "public exposure" der Kandidaten geführt hätte, als diese bei ihrer Kandidatur hätten vorhersehen müssen; die Ablehnung der Herausgabe der Informationen war daher nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Auch hier stellte der EGMR einstimmig eine Verletzung des Art. 10 EMRK fest (siehe auch zu diesem Urteil einen Blogpost von Ronan Ó Fathaig und Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers).
  • Das zuletzt ergangene Urteil vom 21.01.2021, Leshchenko gegen Ukraine (Appl. nos. 14220/13 und 72601/13), betraf einen Journalisten, der vergebens Zugang zu Informationen über den Verkauf einer "Staatsresidenz" sowie zu einer von Abgeordneten eingereichten Verfassungsbeschwerde gefordert hatte. In beiden Fällen stellte der EGMR unter Anwendung der Magyar Helsinki Bizottság-Kriterien (einstimmig) eine Verletzung des Art. 10 EMRK fest.
  • [Update 18.03.2021] Kurz nach der Veröffentlichung des VfGH-Erkenntnisses erging das Urteil vom 18.03.2021, Yuriy Chumak gegen Ukraine (Appl. no. 23897/10); dieser Fall betraf einen Journalisten und Mitglied einer Menschenrechtsorganisation, der 2005 ein Auskunftsersuchen an den Präsidenten der Ukraine gestellt hatte, mit dem er die Bezeichnungen, Nummern und Daten der Rechtsakte des Präsidenten (und seines Vorgängers) erfahren wollte, zu denen der Zugang (durch Vermerke "Nicht zur Veröffentlichung" / "Nicht zum Druck") seines Erachtens rechtswidrig eingeschränkt worden war; er erhielt darauf keine Antwort und blieb vor den nationalen Gerichten erfolglos. In seinem Urteil prüfte der EGMR zunächst die Zulässigkeit anhand der Magyar Helsinki Bizottság-Kriterien (obwohl die Ukraine keinen Einwand gegen die Zulässigkeit erhoben hatte); der Zweck des Informationsbegehrens (Ausübung des Berufs als Journalist), die Art der Information (Bezeichnungen von Rechtsvorschriften, also offenkundig von allgemeiner Bedeutung), die Rolle des Beschwerdeführers (Journalist und Menschenrechtsaktivist) und die Verfügbarkeit der Information (es gab keinen Hinweis auf Schwierigkeiten, die Information herauszugeben); in der Sache selbst hatte die ukrainische Regierung einräumt, dass es für die vorgenommenen Klassifizierungen keine gesetzliche Grundlage gab, außerdem war keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen worden, sodass der EGMR nicht beurteilen konnte, ob die Nichtherausgabe der Information letztlich rechtmäßig war und einem legitimen Ziel gedient hatte; mit 5:2 Stimmen stellte der EGMR daher eine Verletzung des Art. 10 EMRK fest. In einem abweichenden Sondervotum kritisieren die Richterin O'Leary und der Richter Arnfinn Bårdsen vor allem, dass die Maßstäbe des Magyar Helsinki Bizottság-Urteils herangezogen wurden, obwohl der Ausgangsfall sich deutlich vor diesem Urteil abgespielt hat und zu diesem Zeitpunkt die Rechtsprechung des EGMR ein Recht auf Informationszugang in dieser Art noch nicht anerkannt hatte.
Hingegen wurde in zwei seit dem Urteil Magyar Helsinki Bizottság ergangenen Urteilen die Verweigerung des Informationszugangs nicht als Verletzung des Art. 10 EMRK beurteilt:
  • Das Urteil vom 07.02.2017, Bubon gegen Russland (Appl. no. 63898/09), betraf einen Rechtsanwalt, der auch in juristischen Zeitschriften publizierte; dieser hatte den Polizeipräsidenten einer Region erfolglos um Daten zu Verurteilungen wegen diverser prostitutionsbezogener Delikte in dieser Region ersucht, aufgeschlüsselt u.a. nach Geschlecht, Wohnort und Staatsangehörigkeit der Verurteilten. Der EGMR kam in diesem Fall (einstimmig) zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Art. 10 EMRK vorlag, da die Daten in dieser Form der Behörde nicht vorlagen ("The information he was seeking was therefore not only not 'ready and available', but did not exist in the form the applicant was looking for.").
  • Im Urteil vom 30.01.2020, Studio Monitori u.a. gegen Georgien (Appl. nos. 44920/09 und 8942/10; siehe dazu auch die Pressemitteilung), wurden zwei unterschiedliche Beschwerdesachverhalte zusammengefasst. Der erste Fall betraf die Beschwerde einer NGO und einer für sie arbeitenden Journalistin, die ohne weitere Begründung Zugang zu einem Strafakt begehrt hatten; auch auf Aufforderung des Gerichts hatte die Journalistin nur - ohne weitere Details - bekannt gegeben, dass sie den Zugang für ein Investigativprojekt benötige; im Berufungsverfahren hatte sie dann zu Protokoll gegeben, dass sie den Zugang nicht mehr benötige, weil das Projekt inzwischen bereits abgeschlossen war und die Ergebnisse schon veröffentlicht worden waren. Der EGMR befand, dass aufgrund der besonderen Umständen des Falls (das Projekt, für das der Zugang nachgefragt worden war, war bereits veröffentlicht worden) der Zugang zur Information nicht notwendig war, um das Recht auf freie Meinungsäußerung effektiv auszuüben.
    Die zweite Beschwerde, über die mit diesem Urteil entschieden wurde, war von einem inhaftierten Anwalt erhoben worden, der ebenfalls ohne Begründung Zugang zu den Gerichtsakten in sechs Verfahren (die mit ihm nichts zu tun hatten) begehrte. Der EGMR hielt fest, dass der Informationssuchende weder angegeben hatte, wofür er die Information benötigte, noch habe die nachgefragte Information den "public-interest test" bestanden. In beiden Fällen wurde daher (einstimmig) festgestellt, dass keine Verletzung des Art. 10 EMRK vorlag (siehe dazu auch die Beiträge von Holger Hembach auf Telemedicus.info und von Dirk Voorhoof und Ronan Ó Fathaigh auf Strasbourg Observers).
In mehreren Fällen wurden auf Art. 10 EMRK gestützte Beschwerden wegen der Verweigerung des Zugangs zu Informationen zurückgewiesen:
  • Die Entscheidung vom 13.11.2018, Times Newspapers Ltd und Dominic Kennedy gegen Vereinigtes Königreich (Appl. no. 64367/14), betraf den Zugang zu Informationen betreffend eine Untersuchung des "Mariam Appeal"; hier erfolgte die Zurückweisung allerdings deshalb, weil es innerstaatlich ein "alternatives Rechtsmittel" gegeben hätte, das nicht ausgeschöpft worden war.
  • Die Entscheidung vom 21.01.2020, Tokarev gegen Ukraine (Appl. no. 44252/13), betraf ein Zugangsbegehren eines Rechtsanwalts, der im Zusammenhang mit der Verteidigung eines strafrechtlich Beschuldigten Zugang zum Posteingangsregister einer forensischen Untersuchungsstelle des Innenministeriums beantragt hatte, was wegen gesetzlich vorgesehener Vertraulichkeit verweigert worden war. Der EGMR hielt hier fest, dass der Zugang nicht begehrt wurde, um anderen Informationen zu vermitteln und daher nicht dem Zweck diente, die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen auszuüben, auch das 2. und 3. Kriterium des Urteils Magyar Helsinki Bizottság (public interest-Test betreffend die Art der nachgefragten Information bzw. public watchdog-Rolle) wurden nicht erfüllt; die Beschwerde wurde daher ratione materiae (d.h. weil der Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK nicht berührt war) als unzulässig zurückgewiesen.
  • Die Entscheidung vom 03.03.2020, Centre for democracy and the rule of Law gegen Ukraine (Appl. no. 75865/11; legal summary), betraf das Zugangsbegehren einer NGO zu Stellungnahmen von Bildungseinrichtungen in einem Verfahren vor dem Verfassungsgericht. Der EGMR hielt fest, dass die begehrten Informationen zwar leicht verfügbar gewesen seien, die beschwerdeführende Organisation auch als "watchdog" anzusehen sei und die Art der nachgefragten Informationen den "public-interest test" bestanden hätten; allerdings hätte die beschwerdeführende Organisation nicht aufgezeigt, dass der Zweck des Informationsbegehrens gewesen wäre, effektiv das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung auszuüben und dass der Zugang zu den begehrten Informationen dafür instrumentell gewesen wäre; die Beschwerde wurde daher, weil der Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK nicht eröffnet war, als ratione materiae unzulässig zurückgewiesen.
  • In der Entscheidung vom 15.09.2020, Oleksandr Yevgenovych Severyn gegen Ukraine (Appl. no. 50256/08), ging es um den Antrag eines Menschenrechtsaktivisten an das ukrainische Verfassungsgericht, Informationen über die Anzahl von Individualbeschwerden sowie über die Anzahl der erfolgreichen Beschwerden herauszugeben. Der EGMR wies die Beschwerde ratione materiae als unzulässig zurück, weil der Beschwerdeführer nicht dargelegt habe, dass die nationalen Behörden und Gerichte ausreichend über das Ziel seines Antrags auf Informationen in Kenntnis gewesen wären.
  • Die Entscheidung vom 19.01.2021, Mikiashvili gegen Georgien (Appl. no. 18865/11) und Studio Reportiori und Vakhtang Komakhidze gegen Georgien (Appl. no. 51865/11), betraf einerseits das Zugangsbegehren einer Journalistin, die Auskunft über den Ort des Strafvollzugs zweier verurteilter Mörder wollte, und andererseits das Informationsansuchen einer NGO und eines Journalisten, die Auskunft über Bonuszahlungen und nicht monetäre Benefits für Angehörige des Justizministeriums erhalten wollten. Beide Beschwerden wurden als ratione materiae unzulässig zurückgewiesen: "the applicants have failed to show that the denial of their requests to access the relevant information impaired the exercise of their freedom to receive and impart information in a manner which undermined the very essence of their Article 10 rights (...). It follows that Article 10 does not apply."
  • Auch in der Entscheidung vom 19.01.2021, Georgian Young Lawyers’ Association (GYLA) gegen Georgien (Appl. no. 2703/12), wurde die Beschwerde als ratione materiae unzulässig zurückgewiesen. Hier hatte eine Menschenrechtsorganisation Auskunft über die Namen von Polizisten begehrt, gegen die nach einer gewaltsamen Auflösung einer Versammlung disziplinär vorgegangen wurde. Der EGMR meinte, dass über die Vorgangsweise der Polizei auch ohne Kenntnis der Namen der Polizisten hätte berichtet werden können, Art. 10 EMRK sei damit nicht betroffen.
Zusammenfassend kann man zu dieser Rechtsprechung festhalten, dass der EGMR das kumulative Vorliegen der Magyar Helsinki Bizottság-Kriterien verlangt, und dass es jedenfalls notwendig ist, in den Anträgen auf Zugang zu Informationen darzulegen, in welcher Rolle man die Informationen nachfragt und warum die begehrten Informationen für die Ausübung der Freiheit zur Mitteilung von Nachrichten - also etwa für die journalistische Tätigkeit - wesentlich sind.

Diese Voraussetzungen unterscheiden das aus Art. 10 EMRK abgeleitete Recht auf Informationszugang, wie es nunmehr auch vom VfGH anerkannt ist, von dem im aktuellen Ministerialentwurf für ein Informationsfreiheitsgesetz vorgesehenen "Jedermannsrecht" auf Zugang zu Informationen nach dem (geplanten) Art. 22a B-VG. Bei diesem Recht soll es - wie bereits jetzt beim nur einfachgesetzlich eingeräumten Recht auf Auskunft - grundsätzlich nicht darauf ankommen, dass ein besonderes Interesse an der Information oder eine "watchdog"-Funktion nachgewiesen werden. Dennoch kann es - wie auch die Erläuterungen zum Ministerialentwurf (zu § 6 IFG) darlegen - für die im Einzelfall zu treffende Abwägungsentscheidung natürlich weiterhin relevant sein, zu welchem Zweck die Information begehrt wird, um welche Information es geht, und ob die Person den Zugangsantrag in einer "watchdog"-Funktion, insbesondere also als Journalist*in oder als "social watchdog"-NGO, stellt.