Tuesday, June 25, 2013

EGMR: Nichtbefolgung einer Entscheidung des Informationsfreiheits-Beauftragten durch den Geheimdienst - Verletzung des Art 10 EMRK

Dass Mitteilungen des Geheimdienstes nicht immer glaubwürdig sind, hat heute auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil Youth Initiative for Human Rights gegen Serbien (Appl. no, 48135/06; Pressemitteilung des EGMR) festgestellt: Auf Anfrage der Youth Initiative for Human Rights, einer NGO, hatte sich der serbische Geheimdienst zunächst unter Hinweis auf Geheimhaltungspflichten geweigert, die Anzahl der im Jahr 2005 elektronisch von ihm überwachten Personen mitzuteilen. Nachdem der Informationsfreiheits-Beauftragte ("Kommissar" für Informationszugang und Datenschutz - Poverenik za informacije od javnog značaja i zaštitu podataka о ličnosti) einer Beschwerde der NGO stattgab und dem Geheimdienst die Herausgabe dieser Information binnen drei Tagen auftrug (der Oberste Gerichtshof wies ein Rechtsmittel des Geheimdienstes als unzulässig zurück), teilte der Geheimdienst mit, dass er über die gewünschte Information gar nicht verfüge - der EGMR hat das rundweg als unglaubwürdig angesehen ("unpersuasive in view of the nature of that information [...] and the agency’s initial response."). Die Weigerung, diese Informationen trotz bindenden behördlichen Auftrags herauszugeben, habe daher - so der EGMR - das nationale Recht verletzt, war willkürlich und stellte eine Verletzung des Art 10 EMRK dar.

Recht auf Informationszugang nach Art 10 EMRK
Der Fall gab dem EGMR wieder einmal Gelegenheit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit Art 10 EMRK auch ein Recht auf Informationszugang umfasst. Allerdings war die Konstellation des Falls doch recht ungewöhnlich, da das Recht auf Informationszugang - auf der Grundlage des nationalen Rechts - hier schon bindend von einer nationalen Behörde festgestellt worden war und die Verletzung des Art 10 EMRK letztlich "nur" in der Nichtbefolgung dieser innerstaatlichen behördlichen Anordnung lag. Eine klare Aussage, wie weit das aus Art 10 EMRK abzuleitende Recht auf Informationszugang reicht, ist dem Urteil daher nicht zu entnehmen. 

Dennoch ist das Urteil nicht uninteressant, weil es die doch noch etwas karge Rechtsprechung zum Recht auf Informationszugang bestärkt und weiterführt und weil das zustimmende Sondervotum der Richter Sajó (Ungarn) und Vučinić (Montenegro) noch besonders auf die internationale Entwicklung zu mehr Transparenz hinweist und den EGMR geradezu auffordert, sich "in due course" (also: bei etwas besser dafür geeigneten Fällen) mit einigen von ihnen angesprochenen Implikationen des Urteils näher zu befassen. 

Das Urteil erwähnt zunächst ausdrücklich folgende relevante internationale Dokumente:
Zulässigkeit 
Zur Zulässigkeit hält der EGMR unter anderem fest, dass die Freiheit, Nachrichten zu empfangen, ein Recht auf Zugang zu Informationen umfasst (Urteil Társaság a Szabadságjogokért; im Blog dazu hier) und dass eine NGO, die sich um Angelegenheiten von öffentlichem Interesse kümmert, ähnlich wie die Presse eine Rolle als "public watchdog" ausübt (Urteil Animal Defenders International, im Blog dazu hier) und daher einen ähnlichen Schutz verdient, wie er der Presse zukommt (wiederum unter Hinweis auf das Urteil Társaság a Szabadságjogokért). 

Merits
In der Sache selbst stellt der EGMR fest, dass die NGO offensichtlich legitimerweise im öffentlichen Interesse gelegene Informationen gesammelt habe, um diese der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und damit zur öffentlichen Debatte beizutragen. Die Verweigerung der Herausgabe der Informationen stellt einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dar, der - da eine bindende Entscheidung des Informationsfreiheits-Beauftragten vorlag - keine gesetzliche Grundlage hatte, sodass der EGMR einstimmig eine Verletzung des Art 10 EMRK feststellte. Zur Umsetzung des Urteils wird Serbien aufgetragen, sicherzustellen, dass die beschwerdeführende NGO die gewünschten Informationen binnen drei Monaten vom Geheimdienst erhält. 

Sondervotum
Die Richter Sajó und Vučinić betonen in ihrem zustimmenden Sondervotum das Erfordernis, Art 10 EMRK im Einklang mit völkerrechtlichen Entwicklungen betreffend Informationsfreiheit - die den Zugang zu Daten umfasst, welche von öffentlichen Einrichtungen gehalten werden - auszulegen. Insbesondere verweisen sie dazu auf den schon erwähnten General Comment No. 34 des UN Menschenrechtskomitees. Die Richter beziehen sich dann auf das Urteil der Großen Kammer des EGMR im Fall Gillberg (im Blog dazu hier), in dem festgehalten wurde, dass das Recht, Nachrichten zu empfangen, ausdrücklich Teil des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK ist. Daran anschließend legen sie aus ihrer Sicht wesentliche Implikationen des Urteils dar, mit denen sich der EGMR noch beschäftigen sollte (Hervorhebung hinzugefügt):
In view of the legal developments summarized in the judgment, and the Council of Europe Convention on Access to Official Documents (2009, not yet in force), and in particular, in view of the demands of democracy in the information society, we find it appropriate to highlight certain implications of the present judgment in light of Gillberg that the Court should address in due course:
1. In the world of the Internet the difference between journalists and other members of the public is rapidly disappearing. There can be no robust democracy without transparency, which should be served and used by all citizens.
2. The case raises the issue of the positive obligations of the State, which arise in respect of the accessibility of data controlled by Government. The authorities are responsible for storing such information and loss of data cannot be an excuse, as the domestic authorities erroneously claimed in the present case. The difference between the State’s negative and positive obligations is difficult to determine in the context of access to information. Given the complexity of modern data management the simple lack of a prohibition of access may not suffice for the effective enjoyment of the right to information.
3. Without prejudice to the specific circumstances of the Leander case, to grant the citizen more restricted access to important information that concerns him or her and is generated or is used by the authorities than to the general public on public information may seem illogical, at least in certain circumstances. An artificial distinction between public data and data of personal interest may even hamper access to public information. Of course, access to information under Article 10 must respect, in particular, informational self-determination and the considerations referred to in Klass and Others v. Germany (6 September 1978, § 81, Series A no. 28).
PS: spannende Entwicklungen zum Thema Informationsfreiheit gab es heute auch beim EuGH: Generalanwalt Jääskinen hat in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache C-131/12 Google Spain und Google ausführlich die Bedeutung der Informationsfreiheit gewürdigt und sich gegen ein "Recht auf Vergessenwerden" ausgesprochen. Dazu wäre weitaus mehr zu schreiben, aber ich werde in den nächsten Tagen wohl nicht dazu kommen; einstweilen verweise ich auf die Pressemitteilung des EuGH und den Blogbeitrag von Thomas Stadler.

Update 08.07.2013: siehe nun auch den Beitrag von Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers.
Update 25.07.2013: siehe nun endlich meinen Beitrag in diesem Blog.

Friday, June 14, 2013

Vorratsdaten: EuGH verhandelt am 9. Juli in der Großen Kammer - Vereinbarkeit mit GRC im Mittelpunkt

Der EuGH hat die Vorabentscheidungsersuchen des irischen High Court und des österreichischen Verfassungsgerichtshofes zur Richtlinie 2006/24 über die Vorratsspeicherung von Daten (C-293/12 Digital Rights Ireland und C-594/12 Seitlinger ua) an die Große Kammer verwiesen und zur gemeinsamen mündlichen Verhandlung und zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Die mündliche Verhandlung wird am 09.07.2013 stattfinden.

Die Verfahrensbeteiligten wurden vom EuGH gebeten, ihr Vorbringen auf die Vereinbarkeit der RL 2006/24 mit den Art 7 und 8 der Grundrechtecharta sowie auf folgende vom Gerichtshof vorgelegte Fragen -  die mir vom Rechtsvertreter des österreichischen Ausgangsverfahrens, RA Dr. Gerald Otto, zur Verfügung gestellt wurden - zu konzentrieren:
1. Die Verfahrensbeteiligten werden gebeten, sich in der mündlichen Verhandlung dazu zu äußern, ob die nach der Richtlinie 2006/24 vorgesehene Vorratsspeicherung von Daten dem Ziel der Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten dienen kann. Sie werden in diesem Zusammenhang um eine Erläuterung gebeten, welche Auswirkungen es hat, dass zahlreiche Möglichkeiten zur anonymen Nutzung der elektronischen Kommunikationsdienste bestehen.
2. Die Verfahrensbeteiligten werden gebeten, in der mündlichen Verhandlung zu erläutern, ob und inwieweit es möglich ist, anhand der gespeicherten Daten Persönlichkeitsprofile zu erstellen und zu benutzen, aus denen sich - unabhängig von der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines derartigen Vorgehens - das soziale und berufliche Umfeld einer Person, ihre Gewohnheiten und Tätigkeiten ergeben.
3. Wie ist - insbesondere unter Berücksichtigung der Antwort auf die Frage zu 2 - der Eingriff in die nach den Art. 7 und 8 der Charta gewahrleisteten Grundrechte von Personen zu beurteilen, deren Daten gespeichert wurden?
4. Die Verfahrensbeteiligten werden gebeten, in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Unionsgesetzgeber verpflichtet ist, seine Entscheidung auf objektive Kriterien zu stützen (Urteil vom 8. Juni 2010, Vodafone u. a., C 58/08, Slg. 2010, I 4999, Randnr. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung), in der mündlichen Verhandlung folgende Fragen zu beantworten:
   a. Auf welche objektiven Kriterien hat der Unionsgesetzgeber seine Entscheidung beim Erlass der Richtlinie 2006/24 gestützt?
   b. Aufgrund welcher Daten konnte der Gesetzgeber den Nutzen der Vorratsspeicherung von Daten fur die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten einschätzen?
   c. Aufgrund welcher Daten konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass eine Speicherung der Daten über einen Zeitraum von rnindestens sechs Monaten erforderlich ist?
   d. Gibt es Statistiken, die darauf schließen lassen, dass sich die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten seit dem Erlass der Richtlinie 2006/24 verbessert hat?
5. Wenn ein von der Rechtsordnung der Union geschütztes Grundrecht und ein von dieser Rechtsordnung geschütztes, im allgemeinen Interesse liegendes Ziel einander gegenüberstehen, setzt die Verhaltnismäßigkeit einer Beschrankung des Grundrechts gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass die Anforderungen an den Schutz des Rechts mit dem fraglichen Ziel in Einklang gebracht werden. Die hierfür notwendige ausgewogene Gewichtung muss vor Erlass der fraglichen Maßnahme erfolgen. Außerdem müssen sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken (vgl. Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C 92/09 und C 93/09, Slg. 2010, I 11063, Randnrn. 76, 77 und 79).
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung werden die Verfahrensbeteiligten gebeten, in der mündlichen Verhandlung folgende Fragen zu beantworten:
   a. Hat der Unionsgesetzgeber vor Erlass der Richtlinie 2006/24 eine ausgewogene Gewichtung zwischen den Anforderungen an den Schutz der Grundrechte und dem im vorliegenden Fall in Rede stehenden, im allgemeinen Interesse liegenden Interesse vorgenommen? Hat er in diesem Zusammenhang die Bedeutung der nach den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte gewahrleisteten Grundrechte und die Tatsache, dass zahlreiche Möglichkeiten der anonymen Nutzung elektronischer Kommunikationsdienste bestehen, berücksichtigt?
   b. Kann angesichts der Bedeutung der betroffenen Grundrechte davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitsvorkehrungen, die der Gesetzgeber für die auf Vorrat gespeicherten Daten erlassen hat, erforderlich und hinreichend präzise sind, um einen etwaigen Missbrauch zu verhindern? Ist es angesichts dieser Vorkehrungen möglich, dass der Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste im Sinne der Richtlinie 2006/24 die erforderliche Datenspeicherung an andere Dienstleister in anderen Mitgliedstaaten oder in Drittstaaten auslagert, insbesondere wegen der Kosten dieser Speicherung? Welche Auswirkungen hat eine solche Auslagerung der Datenspeicherung auf die Sicherheit der Daten?
   c. Kann - insbesondere unter Berücksichtigung der Antwort auf die Frage zu 5.a - davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber den Eingriff in die betroffenen Grundrechte auf das absolut Notwendige beschränkt hat?
Der EuGH hat auch den Europäischen Datenschutzbeauftragten gebeten, in der mündlichen Verhandlung zu den Fragen 1, 2, 3 und 5b Stellung zu nehmen.

Zum Inhalt der Vorlagefragen verweise ich auf meine bisherigen Beiträge im Blog: zum Vorabentscheidungsersuchen des irischen High Court siehe hier und hier, zu jenem des VfGH hier.

PS: In der aktuellen Diskussion rund um die Enthüllungen vor allem des Guardian zur Überwachungssituation in den USA wurde oft darauf verwiesen, dass der NSA-Zugriff auf Telefondaten mit der Vorratsdatenspeicherung in der EU zu vergleichen sei. Dazu ist allerdings anzumerken, dass nach der vom Guardian veröffentlichten Anordnung des FISA (Foreign Intelligence Surveillance Court) der betroffene Netzbetreiber verpflichtet war, täglich die vollständigen CDRs (call detail records) an die NSA zu übermitteln. Damit unterscheidet sich diese Situation doch deutlich vom Konzept, das der Vorratsdatenspeicherung aufgrund der RL 2006/24 zugrundeliegt: demnach sollen die Daten nämlich von den Netzbetreibern gespeichert werden und "nur in bestimmten Fällen und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden" (Art 4 der RL). Jeder Mitgliedstaat muss dazu - so Art 4 der RL weiter - unter Berücksichtigung insbesondere der EMRK das Verfahren und die Bedingungen festlegen, die für den Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten gemäß den Anforderungen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind. Eine flächendeckende Weitergabe der von den Betreibern erfassten Vorratsdaten an Sicherheitsbehörden fände in der RL zur Vorratsspeicherung von Daten daher gerade keine Deckung.