In seinem heutigen Urteil im Fall
Altuğ Taner Akçam gegen Türkei (Appl. no. 27520/07) hat der EGMR - soweit ich das überblicke erstmals - in einem Verfahren zu Art 10 EMRK jemandem den Opferstatus zuerkannt, der nicht konkret behördlich oder gerichtlich verfolgt wurde, sondern dessen Opferstatus sich allein auf das Bestehen einer Strafnorm, die ihn potentiell der Verfolgung wegen Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung aussetzen könnte, stützt. Zudem hat der EGMR auch ausgesprochen, dass
Art 301 des türkischen Strafgesetzbuchs, auch in der 2008 geänderten Fassung, nicht ausreichend klar ist, um als gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit zu dienen.
Der Beschwerdeführer vor dem EGMR,
Altuğ Taner Akçam (Achtung: Link führt zur Wikipedia, der Taner Akçam gerade bei Informationen über ihn selbst
aus guten Gründen nicht traut), ist ein Historiker, der ausführlich
"über die historischen Ereignisse von 1915 betreffend die Armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich" forscht und publiziert (so der EGMR, Taner Akçam selbst bezeichnet diese "Ereignisse" klar als Genozid, zB
in diesem Buch). Seine Veröffentlichungen und Vorträge haben ihn immer wieder Anfeindungen ausgesetzt; insbesondere ein Kommentar in der damals von
Hrant Dink (siehe dazu auch das Urteil
Dink gegen Türkei) herausgegebenen armenisch/türkisch-zweisprachigen Zeitung
AGOS, in dem er die Verfolgung des Herausgebers kritisierte, wurde Anlass mehrerer Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft. Vorgeworfen wurde ihm die Herabsetzung des Türkentums nach
Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs (in der Fassung vor der Novelle 2008). Keine dieser Anzeigen führte zu einer strafrechtlichen Verfolgung, vielmehr traf die Staatsanwaltschaft ausdrückliche Entscheidungen, von der Verfolgung abzusehen, begründet im wesentlichen damit, dass die Äußerungen in den Schutzbereich der Freiheit der Meinungsäußerug nach Art 20 EMRK fielen. Dabei blieb es auch nach Rechtsmitteln, die von den Anzeigern ergriffen wurden.
Andere (türkische) Zeitungen berichteten sehr kritisch über den Beschwerdeführer und deuteten zB an, dass der deutsche Geheimdienst hinter seinen Veröffentlichungen stehe; ein dagegen angestrengtes medienrechtliches Verfahren verlor der Beschwerdeführer.
In der Beschwerde an den EGMR wandte sich Taner Akçam nicht gegen eine einzelne gerichtliche oder behördliche Entscheidung (alle Verfahren gegen ihn waren ja eingestellt worden, die Staatsanwaltschaft hatte keinen Grund zur Verfolgung gefunden), sondern machte geltend, dass ihn schon die Existenz des Artikels 301 des türkischen Strafgesetzbuchs in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletze. Allein der Umstand, dass es möglich sei, dass wegen seiner wissenschaftlichen Arbeit über die armenische Frage eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet werde, würde bei ihm große Belastung, Sorge und Angst vor Verfolgung auslösen und daher eine anhaltende und unmittelbare Verletzung seiner Rechte unter Art 10 EMRK (
"the mere fact that an investigation could potentially be brought against him under this provision for his scholarly work on the Armenian issue caused him great stress, apprehension and fear of prosecution and thus constituted a continuous and direct violation of his rights under Article 10 of the Convention").
Die erste vom EGMR zu beantwortende Frage war damit natürlich der Opferstatus, denn die EMRK sieht ja keine actio popularis gegen ein möglicherweise konventionswidriges nationales Gesetz vor. Dazu der EGMR:
"67. However, the Court has concluded that an applicant is entitled to '(claim) to be the victim of a violation' of the Convention, even if he is not able to allege in support of his application that he has been subject to a concrete interference (see, mutatis mutandis, Klass and Others, cited above, § 38). In such instances the question whether the applicants were actually the victims of any violation of the Convention involves determining whether the contested legislation is in itself compatible with the Convention’s provisions [...]. While the present case refers to freedom of expression and not to surveillance as in the Klass and Others case, where the difficulties of knowing that one is under surveillance are a factor to be considered in the determination of victim status, the applicant has shown that he is subject to a level of interference with his Article 10 rights [...] The applicant has shown that he is actually concerned with a public issue (the question whether the events of 1915 qualify as genocide), and that he was involved in the generation of the specific content targeted by Article 301, and therefore he is directly affected."
68. Furthermore, it is also open to a person to contend that a law violates his rights, in the absence of an individual measure of implementation, if he is required either to modify his conduct because of it or risk being prosecuted [...] or if he is a member of a class of people who risk being directly affected by the legislation [...]. The Court further notes the chilling effect that the fear of sanction has on the exercise of freedom of expression, even in the event of an eventual acquittal, considering the likelihood of such fear discouraging one from making similar statements in the future [...].
In der Folge legt der EGMR dar, dass der Beschwerdeführer - als Professor, der zu einem in der Türkei als heikel angesehenen Thema forscht - zu einer Gruppe von Personen gehört, die wegen ihrer Anschauungen zu diesem Thema leicht stigmatisiert werden können und aufgrund von Anzeigen ultrantionalistischer Personen Untersuchungen oder Verfolgungen nach Art 301 türkisches StGB ausgesetzt werden kann. Der Gerichtshof verweist ausdrücklich auch auf den Fall Dink:
"In the eyes of the public, particularly ultranationalist groups, Mr Dink’s prosecution and conviction was evidence that he was an individual who insulted all persons of Turkish origin. As a result of this perception or stigma attached to him Mr Dink was later murdered by an extreme nationalist". Wie Dink war auch der Beschwerdeführer Ziel einer Einschüchterungskampagne, die ihn als Verräter und Spion darstellten.
Vor diesem Hintergrund sah der EGMR den Beschwerdeführer, obwohl er nicht nach Art. 301 verfolgt worden war, als direkt betroffen an:
"It can therefore be accepted that, even though the impugned provision has not yet been applied to the applicant’s detriment, the mere fact that in the future an investigation could potentially be brought against him has caused him stress, apprehension and fear of prosecution. This situation has also forced the applicant to modify his conduct by displaying self-restraint in his academic work in order not to risk prosecution under Article 301 [...]."
Auch das Risiko zukünftiger Verfolgung sei nicht ausgeschlossen. Zwar müssen Verfolgungshandlungen der Staatsanwaltschaft wegen Verletzungen des Art 301 vom Justizministerium genehmigt werden (die Genehmigung werde nur in 8% der Fälle erteilt) und in vergleichbaren Fällen sei seit einiger Zeit keine Verfolgung mehr erfolgt; es sei aber nicht ausgeschlossen, dass - etwa wenn sich der politische Wille der Regierung ändere - Art 301 auch auf solche Fälle wieder angewandt werde.
"81. The Court further observes that thought and opinions on public matters are of a vulnerable nature. Therefore the very possibility of interference by the authorities or by private parties acting without proper control or even with the support of the authorities may impose a serious burden on the free formation of ideas and democratic debate and have a chilling effect.
82. In view of the foregoing, the Court concludes that the criminal investigation commenced against the applicant and the standpoint of the Turkish criminal courts on the Armenian issue in their application of Article 301 of the Criminal Code, as well as the public campaign against the applicant in respect of the investigation, confirm that there exists a considerable risk of prosecution faced by persons who express 'unfavourable' opinions on this matter and indicates that the threat hanging over the applicant is real [...]. In these circumstances, the Court considers that there has been an interference with the exercise of the applicant’s right to freedom of expression under Article 10 of the Convention."
Da somit der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung feststeht, hatte der EGMR im nächsten Schritt zu prüfen, ob dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen war. Die türkische Regierung verwies dazu auf die inzwischen erfolgte Novellierung, durch die der Verweis auf das "Türkentum" ersetzt wurde durch die - nicht ethnisch gemeinte - türkische Nation, die Verringerung der Strafdrohung und die Verpflichtung zur Genehmigung einer Verfolgung nach dieser Bestimmung druch das Jusitzministerium. Der EGMR anerkennt zwar, dass dies Änderungen darauf abzielten, willkürliche Verfolgungen unter dieser Bestimmung zu verhindern. Aber:
"91. Be that as it may, the Court must ascertain whether the revised version is sufficiently clear to enable a person to regulate his/her conduct and to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail [...].
92. In this connection, the Court notes that despite the replacement of the term 'Turkishness' by 'the Turkish Nation', there seems to be no change or major difference in the interpretation of these concepts because they have been understood in the same manner by the Court of Cassation [...]. Accordingly, the legislator’s amendment of the wording in the provision in order to clarify the meaning of the term 'Turkishness' does not introduce a substantial change or contribute to the widening of the protection of the right to freedom of expression.
93. In the Court’s opinion, while the legislator’s aim of protecting and preserving values and State institutions from public denigration can be accepted to a certain extent, the scope of the terms under Article 301 of the Criminal Code, as interpreted by the judiciary, is too wide and vague and thus the provision constitutes a continuing threat to the exercise of the right to freedom of expression. In other words, the wording of the provision does not enable individuals to regulate their conduct or to foresee the consequences of their acts. As is clear from the number of investigations and prosecutions brought under this provision [...], any opinion or idea that is regarded as offensive, shocking or disturbing can easily be the subject of a criminal investigation by public prosecutors.
94. As noted above, the safeguards put in place by the legislator to prevent the abusive application of Article 301 by the judiciary do not provide a reliable and continuous guarantee or remove the risk of being directly affected by the provision because any political change in time might affect the interpretative attitudes of the Ministry of Justice and open the way for arbitrary prosecutions [...].
95. It follows therefore that Article 301 of the Criminal Code does not meet the “quality of law” required by the Court’s settled case-law, since its unacceptably broad terms result in a lack of foreseeability as to its effects [...]."
Das Urteil (siehe dazu auch die
Pressemitteilung des EGMR) erging einstimmig, ist aber nach den Regeln des EGMR nicht endgültig; es ist wohl davon auszugehen, dass die Türkei versuchen wird, die Große Kammer zu befassen.
PS: ein interessanter Fall in Sachen "historische Ereignisse von 1915" ist noch vor dem EGMR anhängig; in diesem Fall - Perinçek gegen Schweiz, siehe
exposé des faits - behauptet der dortige Beschwerdeführer, in seinen Rechten nach Art 10 EMRK verletzt worden zu sein, weil er wegen Leugnung des Völkermords an Armeniern bestraft wurde.