Den Medien kommt in einer demokratischen Gesellschaft die wichtige Aufgabe zu, die Allgemeinheit in allen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu informieren (zB
EGMR Bladet Tromsø und Stensaas, Rn 59). Um diese Aufgabe als "public watchdog" (zuletzt etwa EGMR
Stankiewicz ua, Rn 64) nicht übermäßig zu beeinträchtigen, sind Journalisten auch vor Sanktionen geschützt, wenn sich ihre Berichterstattung nachträglich als unwahr oder zumindest nicht beweisbar herausstellt, vorausgesetzt, sie haben in gutem Glauben über eine Angelegenheit von echtem öffentlichem Interesse ("genuine public interest") berichtet und dabei die professionelle journalistische Sorgfalt eingehalten (zB
EGMR Kasabova, Rn 63).
Schützt journalistische Sorgfalt auch Nichtjournalisten?
Kann sich aber auch jemand auf die Wahrnehmung der journalistischen Sorgfalt berufen, der nicht als Journalist, sondern als "Privater" bzw als Experte an einer Radiodiskussion teilnimmt? Der EGMR hat das heute in seinem Urteil im Fall
Braun gegen Polen (Appl. nr. 30162/10) bejaht (siehe auch die
Pressemitteilung des EGMR).
Zum Ausgangsfall
Grzegorz Michal Braun ist Filmregisseur, Historiker und publiziert zum aktuellen Zeitgeschehen. In einer Diskussion am 27.04.2007 in einem regionalen Hörfunkprogramm sagte er, dass
Professor J.M. unter den Informanten der geheimen politischen Polizei gewesen sei; das bestätige, dass jene, die sich am lautesten gegen die
Lustration ["Säuberung" des öffentlichen Dienstes von politisch belasteten Personen nach dem Fall des kommunistischen Regimes] aussprächen, gute Gründe dafür hätten. Auch in einer Fernsehsendung am selben Tag bezeichnete Braun J.M. als Informanten.
J.M. klagte wegen übler Nachrede. Das Gericht stellte fest, dass J.M. ein anerkannter Sprachwissenschaftler und eine bekannte Persönlichkeit in Polen sei, der auch lange Jahre hindurch ein TV-Programm präsentiert habe. Zwischen 1975 und 1984 sei er fünfmal im Zusammenhang mit Passansuchen und bei Rückkehr von Auslandsreisen von Agenten des Geheimdienstes vorgeladen worden. 1978 sei er förmlich als geheimer Kollaborateur registriert worden; Archivunterlagen zeigten, dass zwei Aktenbände über J.M. existiert hätten, diese konnten aber nicht mehr aufgefunden werden. Eine eigens eingesetzte universitäre Kommission habe den Fall untersucht, sei aber nicht zueinheitlichen Schlussfolgerungen gekommen. Eine tatsächliche aktive Kollaboration mit dem Geheimdienst sei nicht erwiesen worden.
Braun wurde zu einer Entschädigung und zu einer öffentlichen Enschuldigung verurteilt. Das Urteil wurde auch vom Berufungsgericht und vom Obesten Gerichtshof (im Wesentlichen) bestätigt. Der Oberste Gerichtshof hielt fest, dass die Handlungen eines Journalisten nicht illegal wären, wenn sie im öffentlichen Interesse lägen und die notwendige Sorgfalt eingehalten worden wäre. Dieser Zugang könne aber nicht für Braun gelten, da sein Statement von privater Natur gewesen sei und er dabei nicht als Journalist anzusehen sei, der einer Pflicht zur Information der Öffentlichkeit nachgekommen wäre.
Das Urteil des EGMR
Es steht außer Zweifel, dass das Gerichtsverfahren einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art 10 EMRK darstellte, der auf Gesetz beruhte und einem legitimen Ziel, dem Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, diente. Zu beurteilen war daher nur mehr, ob der Eingriff auch in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war.
Der vom Beschwerdeführer (Braun) erhobene Vorwurf, J.M. sei ein geheimer Kollaborateur des Geheimdienstes in der kommunistischen Ära gewesen, wiegt schwer und ist jedenfalls ein Angriff auf dessen guten Ruf. Die nationalen Gerichte mussten daher eine Abwägung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung auf der einen und dem Schutz des guten Rufes auf der anderen Seite vornehmen (Rn 44).
Der Oberste Gerichtshof habe unterschieden zwischen dem an Journalisten anzulegenden Maßstab und jenem, der der an andere Teilnehmer einer öffentlichen Debatte anzulegen sei - ohne zu prüfen, ob eine derartige Unterscheidung mit Art 10 EMRK vereinbar sei (Rn 46). Während die polnische Regierung und die nationalen Gerichte fanden, dass Braun kein Journalist sei, brachte Braun selbst vor, jahrelang als Journalist gearbeitet zu haben. Der EGMR hält diese Unterscheidung hier für nicht relevant, denn die EMRK schützt alle Teilnehmer an einer Debatte über Angelegenheiten von legitimem öffentlichem Interesse (Rn 47):
However, in any case the question of whether the applicant was a journalist within the meaning of the domestic law, is not of particular relevance in the circumstances of the instant case. The Court reiterates that the Convention offers a protection to all participants in debates on matters of legitimate public concern.
Was sind nun die konkreten Umstände des Falles? Der Beschwerdeführer war Historiker und Autor von Presseberichten und TV-Sendungen; er nahm auch aktiv und öffentlich zum Zeitgeschehen Stellung. Zur Radiodiskussion war er als Experte zum diskutierten Thema eingeladen worden:
48. The Court notes that the applicant was a historian, the author of press articles and television programmes, and someone who actively and publicly commented on current affairs. The domestic courts acknowledged that the applicant was a publicist and that given his professional experience, and the fact that he was a “specialist” on the subject, he had been invited to participate in the radio programme on lustration. Nevertheless they found the applicant’s intervention to be of a private nature. The Court also notes that when assessing the legality of his actions the Supreme Court failed to address the question of whether the applicant had been engaged in public debate.
Der EGMR betont dann, dass er nicht zu beurteilen hat, ob der Beschwerdeführer sich auf ausreichend genaue und verlässliche Quellen stützen konnte; ebensowenig hat er zu entscheiden, ob die Tatsachengrundlage Art und Ausmaß der Vorwürfe gerechtfertigt hat - dies ist Aufgabe der nationalen Gerichte, die dabei die Maßstäbe der EMRK zu beachten haben (Rn 49). Nur der Umstand allein, dass der Bechwerdeführer nicht als Journalist beurteilt wurde, durfte daher nicht zur Folge haben, dass von ihm ein höheres Maß an (journalistischer) Sorgfalt verlangt wird als von Journalisten:
50. The Court considers that the applicant in the case under consideration had clearly been involved in a public debate on an important issue (see Vides Aizsardzības Klubs v. Latvia, no. 57829/00, § 42, 27 May 2004). Therefore the Court is unable to accept the domestic courts’ approach that required the applicant to prove the veracity of his allegations. It was not justified, in the light of the Court’s case-law and in the circumstances of the case, to require the applicant to fulfil a standard more demanding than that of due diligence only on the ground that the domestic law had not considered him a journalist.
Damit hatten die nationalen Gerichte den Beschwerdeführer im Ergebnis des Schutzes nach Art 10 EMRK beraubt. Auch dass die Sanktion vergleichsweise milde war, ändert nichts daran, dass die Gründe, auf die die nationalen Gerichte die Zulässigkeit des Eingriffs gestützt hatten, nicht relevant und ausreichend waren (Rn 51).
Schlussfolgerung
Der EGMR bestätigt mit diesem Urteil wieder einmal, dass eine starre Dichotomie - auf der einen Seite Journalisten, für die bestimmte Berufsprivilegien gelten, auf der anderen Seite alle anderen ("Nichtjournalisten"), für die das nicht der Fall ist - in Fragen der Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK nicht zielführend ist (siehe etwa für den Zugang zu öffentlichen Informationen schon das EGMR-Urteil
Társaság a Szabadságjogokért [im Blog dazu
hier] und daran anknüpfend meine Überlegungen zu einer weiteren Sicht hinsichtlich des Redaktionsgeheimnisses
im Blog hier).
Nach österreichischem Medienrecht ist gemäß
§ 29 Mediengesetz (nur)
"der Medieninhaber oder ein Medienmitarbeiter" wegen des Medieninhaltsdelikts der üblen Nachrede nach
§ 111 StGB "nicht
nur bei erbrachtem Wahrheitsbeweis, sondern auch dann nicht zu
bestrafen, wenn ein überwiegendes Interesse der öffentlichkeit an der
Veröffentlichung bestanden hat und auch bei Aufwendung der gebotenen
journalistischen Sorgfalt für ihn hinreichende Gründe vorgelegen sind,
die Behauptung für wahr zu halten."
Diese gesetzliche Differenzierung zwischen Medieninhabern / Medienmitarbeitern einerseits und allen anderen - darunter zB bloß nebenberuflich Publizierende - andererseits (die sich nicht mit dem Verweis auf die Wahrnehmung der journalistischen Sorgfalt exkulpieren können) wurde in der juristischen Literatur schon öfters kritisiert; das heutige Urteil des EGMR bestätigt diese Kritik.
Bemerkenswerterweise kennt
§ 6 Abs 2 Z 2 lit b Mediengesetz für den medienrechtlichen Entschädigungsanspruch bei übler Nachrede keine Unterscheidung zwischen Journalisten und Nichtjournalisten; der Anspruch besteht generell nicht, wenn
"ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Veröffentlichung bestanden hat und auch bei Aufwendung der gebotenen journalistischen Sorgfalt hinreichende Gründe vorgelegen sind, die Behauptung für wahr zu halten".
Für Personen, die als Expertinnen oder Experten an diversen TV- und Hörfunkdiskussionen teilnehmen, könnte das Urteil eine gewisse Entspannung bringen: Ansprüchen aus übler Nachrede könnten sie auch entgegensetzen, dass sie zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen und in gutem Glauben und in Übereinstimmung mit einer journalistischen Berufsethik ("journalist ethics") gehandelt haben. Zur Beurteilung, ob diese "journalistischen Ethik" oder die gebotene journalistische Sorgfalt ("due diligence") eingehalten wurde, zieht der EGMR typischerweise verschiedene Faktoren heran (vor kurzem etwa im Urteil
Stankiewicz ua): zum einen Art und Ausmaß der Vorwürfe, zum anderen die Bemühungen, die Vorwürfe entsprechend zu verifzieren; dabei kommt es auf die Verlässlichkleit der Quelle(n) an, auf die Intensität der Recherche und auf die Art der Präsentation im Medium (ob reißerisch einseitig oder ausgewogen); ähnliche Überlegungen werden auch bei einer Diskussionsteilnahme heranzuziehen sein.
Der Beschwerdeführer brachte übrigens auch vor (siehe Rn 33 des
Urteils), dass er sich bei seinen Vorwürfen gegenüber J.M. auf Quellen gestützt habe, die er schützen müsse. Die interessante Frage, wie weit er sich - als "bloßer" Diskussionsteilnehmer - auch auf ein Recht auf Quellenschutz ("Redaktionsgeheimnis") stützen könnte, war aber nicht weiter Thema im Verfahren.
Update: siehe zu diesem Urteil auch
einen Beitrag von Maximilian Steinbeis auf dem Verfassungsblog.
Update (04.12.2014): siehe nun auch den
Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.
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PS: ich bin jetzt einige Zeit lang nicht dazu gekommen, über andere aktuelle Artikel 10 EMRK-Fälle mehr zu schreiben;
meine einschlägige Liste habe ich aber weitergeführt. Ich weiß nicht, ob ich zu einzelnen Fällen noch später mehr schreiben werde, hier nur ein knapper Verweis auf ausgewählte Urteile (und eine Entscheidung) der letzten zwei Monate, die ich für interessant halte:
- 28.10.2014, Gough (Pressemitteilung des EGMR): der Fall des nackten Wanderers, in dem der EGMR die öffentliche Nacktheit zwar als Form der Meinnugsäußerung beurteilt, aber die Haft wegen der wiederholten Missachtung von Anordnungen, nicht nackt zu wandern, doch als zulässigen Eingriff beurteilt
- 21.10.2014, Matúz;
Entlassung eines Journalisten des ungarischen öffentlich-rechtlichen
Fernsehens wegen eines Buchs über die von ihm erlebte Zensur in diesem
Sender; wurde vom EGMR als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt.
- 14.10.2014, Stankiewicz ua;
zur beruflichen Sorgfalt von Journalisten, die in einem Artikel angedeutet hatten,
dass ein hoher Beamter des Gesundheitsministeriums in korrupte Praktiken
verwickelt sei.
- 30.09.2014, Keena und Kennedy; mit dieser Entscheidung wies der EGMR die Beschwerde zweier Journalisten mehrheitlich als offensichtlich unbegründet zurück; es ging dabei um die Verfahrenskosten in einem Verfahren, in dem sie sich vor den nationalen Gerichten gegen eine Verletzung des Redaktionsgeheimnisses gewehrt hatten; dabei waren sie letztlich - bis auf die Kosten - erfolgreich gewesen, weil sie die angeforderten Unterlagen zerstört hatten und daher nicht mehr zur Herausgabe gezwungen werden konnten.
- 16.09.2014, Karácsony ua und Szél ua (Pressemitteilung des EGMR) zu parlamentarischem Aktivismus: die Beschwerdeführer waren Abgeordnete des ungarischen Parlaments, die
wegen Störung der parlamentarischen Verhandlungen durch das Hochhalten
von Plakaten bzw Transparenten bestraft worden waren; der EGMR stellte
jeweils einstimmig eine Verletzung von Art 10 und Art 13 EMRK fest (Update: diese beiden Fälle wurde mit Entscheidung vom 16.02.2015 an die Große Kammer verwiesen!).