Tuesday, November 30, 2010

Der neue Trend: Selbstregulierung ohne Selbst (am Beispiel PR-Ethik-Rat)

"Selbstregulierung" ist kein klar definierter Begriff, und so kann man wunderbare Studien darüber verfassen  (zB diese). Ein Aspekt aber schien mir bisher stets unstrittig: Selbstregulierung setzt ein "Selbst" voraus, das sich regulieren möchte, zum Beispiel einen Berufsverband, der für die ihm angehörenden Unternehmen Regeln aufstellt, deren Einhaltung kontrolliert und erforderlichenfalls sanktionierend eingreift. Diese Besorgung der eigenen Aufgaben einer Branche durch die Branche selbst ("das eigene Haus in Ordnung bringen", damit staatliche Regulierung vermieden werden kann) ist ja gerade eines der Hauptargumente, das für Selbstregulierung vorgebracht wird.

In der österreichischen Medien-, Presse- und PR-Ethik-Räterepublik ist nun aber ein neuer Trend zu beobachten: "Verurteilungen", Beschwerden oder Rügen betreffen zunehmend (oder gar ausschließlich) nicht etwa die Mitglieder der Trägervereine, sondern richten sich gegen Außenstehende. Drei Beispiele:
  1. Der sogenannte "Medienrat" verurteilte vor kurzem (in seiner bislang einzigen Entscheidung) die Berichterstattung von "Österreich", ohne dass erkennbar geworden wäre, dass diese Zeitung sich am Verfahren beteiligt oder sonst irgendwie die Autorität oder Legitimität des "Medienrats" anerkannt hätte.
  2. Zumindest eine der immer noch bloß drei Beschwerden an den Presserat richtet sich gegen "Österreich", obgleich dessen Medieninhaberin weder Mitglied eines Trägerverbandes ist noch (jedenfalls nicht bis vor ca. zwei Wochen) einer Schiedsvereinbarung zugestimmt hat (mehr zum Presserat hier).
    Besonders bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang, dass noch nicht einmal alle Medienunternehmen, die Mitglied eines Trägerverbands sind, den Presserat anerkennen ("Auch wenn viele Medienunternehmen im Vorfeld ihren Willen bekundet haben, sich dem Presserat zu unterwerfen, ist Warzilek [Geschäftsführer des Presserats] derzeit noch dabei, die Unterschriften bei den Medienunternehmen einzuholen", heißt es in einem Artikel in der Presse).
  3. Und am vergangenen Freitag hat nun der PR-Ethik-Rat - zweieinhalb Jahre und sechs Presseaussendungen nach seiner Gründung (mehr dazu hier) - seine allererste konkrete Rüge veröffentlicht; gerügt wurde kein PR-Unternehmen, sondern eine Zeitung und deren Chefredakteur, die sich dieser "Selbst"-Regulierung jedenfalls nicht unterworfen haben. 
Der PR-Ethik-Rat bietet dabei ein besonderes Schauspiel: dieses "Organ der freiwilligen Selbstkontrolle der in Österreich tätigen PR-Fachleute" (Eigendefinition!) war noch vor etwa eineinhalb Jahren der Auffassung, bei der mangelnden Kennzeichnung entgeltlicher Veröffentlichungen nach § 26 Mediengesetz handle es sich um ein branchenweites Problem, sodass es "nicht sinnvoll wäre, Einzelfälle herauszugreifen" (mehr dazu hier). Nunmehr hat dieser Rat - aus eigener Initiative! - gerade einen solchen Einzelfall herausgegriffen, und zwar eine "ungekennzeichnete 32-Seiten-Beilage vor der Wien-Wahl" in der "Krone bunt". Dabei handelte es sich nach der Beurteilung dieses Rats um eine bezahlte Kooperation; beteiligt waren - so die Pressemitteilung - "Erste Bank Group, Austrian Airlines, A1 Telekom, Siemens,Vienna Insurance Group, PORR, Flughafen Wien, Signa Holding, REWE Österreich, Austria Trend Hotels (Ruefa, Verkehrsbüro), Wiener Städtische und Donau Versicherung. Für die Umsetzung/Koordination des Projekts zeichnet Chefredakteur Dr. Christoph Dichand, unterstützt von Wolfgang Rosam Change Communications, verantwortlich."

Nun könnte man meinen, dass sich eine Selbstkontrolleinrichtung wie der PR-Ethik-Rat auf das einzige PR-Unternehmen in dieser Aufzählung stürzen würde; immerhin ist Wolfgang Rosam von der Wolfgang Rosam Change Communications prominentes Mitglied des PRVA, eines Gründerverbands des PR-Ethik-Rats.

Was aber macht der PR-Ethik-Rat? Er erklärt zunächst einmal, dass sich "seine Ratssprüche nicht nur auf Mitglieder der drei Berufsverbände der PR-Branche beschränken, sondern das gesamte Feld der Kommunikation von Unternehmen, Institutionen oder anderen Organisationen wie z. B. Medien einbeziehen", und kommt dann zu folgendem Ergebnis:
"Der Österreichische Ethik-Rat für Public Relations stellt fest, dass die Medieninhaberin der 'Krone bunt' und Dr. Christoph Dichand als für die Umsetzung Verantwortlicher die Bestimmungen des Mediengesetzes über die Kennzeichnungspflicht entgeltlicher Veröffentlichungen missachtet haben. Der Österreichische Ethik-Rat für Public Relations spricht deshalb gegen die Medieninhaberin der 'Krone bunt' und Dr. Christoph Dichand eine öffentliche Rüge aus."
Festgestellt wird also keine Verletzung von irgendwelchen Berufsstandards ("Ethikkodizes") der PR-Branche durch "PR-Fachleute", sondern die Verletzung des Mediengesetzes durch eine Zeitung.

Das PR-Unternehmen wird in der Rüge kein weiteres Mal genannt und es gibt auch keine näheren Feststellungen zu seiner konkreten Rolle; insbesondere erfährt man weder, ob es von der mangelnden Kennzeichnung im Vorhinein gewusst hat (immerhin geht der PR-Ethik-Rat davon aus, "dass bezahlte Produkte wie die gegenständliche Beilage allen Beteiligten vor Drucklegung zur Freigabe vorgelegt werden"), oder ob es gegenüber dem PR-Ethik-Rat Stellung genommen hat. Allzu ehrfürchtig gegenüber diesem Rat dürften die betroffenen Unternehmen jedenfalls nicht gewesen sein: von den zwölf genannten weiteren Unternehmen haben sich gleich acht nicht einmal geäußert, auch Dr. Christof Dichand hat - "trotz wiederholten Ersuchens" - keine Stellungnahme abgegeben (ob die Medieninhaberin von "Krone bunt" sich geäußert hat, wird nicht erwähnt).

Den "beteiligten Unternehmen und PR-Verantwortlichen" gegenüber erfolgte keine Rüge (auch wenn  manche von ihnen Mitglieder eines weiteren Gründungsverbands des PR-Ethik-Rats sind; zumindest scheinen Erste Bank, "Telekom Austria AG", Wiener Städtische Allgemeine Versicherung AG und Österreichische Verkehrsbüro AG als Mitglieder auf der Website des VIKOM auf). Stattdessen werden diese Unternehmen allgemein ermahnt, "ihre Verantwortung wahrzunehmen", was auch immer damit gemeint sein soll (für die Kennzeichnung entgeltlicher Kooperationen zu sorgen? Aber wenn das eine Berufspflicht sein sollte, warum gab es dann keine Rüge, wo doch das Druckwerk laut PR-Ethik-Rat zur Freigabe vorgelegt worden war?).

Was ergibt sich nun aus der "Rüge" des PR-Ethik-Rats? Erstens keine Information darüber, ob das einzig beteiligte PR-Unternehmen nach Auffassung des PR-Ethik-Rats gegen seine Berufspflichten verstoßen hat oder nicht. Zweitens, dass der PR-Ethik-Rat nicht einmal so viel Respekt gebieten kann, dass ihm von einer Mehrheit der beteiligten Unternehmen geantwortet würde. Und drittens schließlich, dass es allemal leichter ist, außenstehende Dritte zu rügen als wesentliche Mitglieder eines Trägerverbands.

Mit funktionierender Selbstregulierung oder Selbstkontrolle hat das allerdings nichts mehr zu tun.

Friday, November 26, 2010

Vermischte Lesehinweise (21) - u.a. EP-Entschließung zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Wednesday, November 24, 2010

Presserat neu: Selbstregulierung, falls sich die Gegenseite unterwirft

Es gibt viele gute Argumente für Medienselbstregulierung, im Speziellen auch für die (Wieder-)Errichtung eines österreichischen Presserats. Daher kann man dem neuen Presserat, der nun - nach vielen folgenlos gebliebenen Ankündigungen - vielleicht tatsächlich tätig wird, nur viel Erfolg wünschen (heute ist endlich auch die Website, die seit etwa zwei bis drei Monaten "demnächst online" war, wirklich online gegangen). Am Engagement und an der Fachkunde der handelnden Personen, vom Geschäftsführer bis zu den Senatsmitgliedern, ist nicht zu zweifeln, und es wird wohl auch nicht schaden, dass der Altersschnitt der Senatsmitglieder nicht an die 75-Jahre-Grenze wie bei den drei Ombudsleuten herankommt. Dennoch gibt es ein grundlegendes Strukturproblem, das ich mit einem Vergleich illustrieren möchte:
Nehmen wir an, Sie seien als Fußgänger von einem LKW angefahren und verletzt worden.
Wie attraktiv wäre es, sich unter Verzicht auf die gerichtliche Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen einem Schiedsgericht zu unterwerfen, das gemeinsam von den Interessenvertretungen der Frächter und der LKW-Fahrer eingerichtet wurde, kein Schmerzengeld zusprechen kann und in dem 6 der 7 Mitglieder hauptberufliche LKW-Fahrer sein müssen?
Ungefähr so attraktiv ist - für Geschädigte - der neue österreichische Presserat.
Dessen Trägerverein ("Verein zur Selbstkontrolle der österreichischen Presse - Österreichischer Presserat") wird im Wesentlichen von Verlegern und Journalistengewerkschaft getragen (genauer hier); die zwei Senate bestehen aus jeweils sieben Mitgliedern, von denen sechs Journalisten im Sinne des Journalistengesetzes (siehe § 1 und § 16 JournalistenG) sein müssen (meines Erachtens bedeutet dies übrigens auch, dass hauptberuflich im PR-Bereich oder einer Pressestelle Tätige nicht Mitglied eines Senats sein können). Die Durchführung des ordentlichen Beschwerdeverfahrens ist nach § 11 Abs 1 der Verfahrensordnung nur zulässig, "wenn Beschwerdeführer und Beschwerdegegner sich durch Abschluss einer Vereinbarung hinsichtlich der beschwerdegegenständlichen Veröffentlichung oder des beschwerdegegenständlichen Verhaltens unter Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges ausschließlich der Entscheidung des Österreichischen Presserates unterwerfen und der Beschwerdeführer auf die Anrufung der Gerichte/Behörden verzichtet."

Entscheidungsgrundlage des Presserats ist nach der von den Beschwerdeführern zu unterzeichnenden Schiedsvereinbarung ausschließlich der "Ehrenkodex für die Österreichische Presse", der laut Website des Presserats vom "Österreichischen Presserat" aufgestellt wurde. Unklar ist, ob damit tatsächlich der nunmehrige "Verein zur Selbstkontrolle der österreichischen Presse - Österreichischer Presserat" gemeint sein soll, oder nicht doch dessen Vorgängereinrichtung, zumal sich der nun publizierte Ehrenkodex nur in der aktualisierten Rechtschreibung vom alten "Ehrenkodex" (Stand 21.1.1999) unterscheidet. Dieser Kodex wurde von Walter Berka vor rund einem Jahr übrigens sehr zutreffend als "Ansammlung von mehr oder weniger pathetisch formulierten Gemeinplätzen ohne regulierende Kraft" bezeichnet (siehe dazu hier).

Und wie kann das so eingerichtete Schiedsgericht entscheiden? Wenn die Beschwerde nicht zurück- oder abgewiesen wird (näher dazu § 14 der Verfahrensordnung), kann der Presserat in freier Würdigung des Sachverhalts feststellen, dass "durch die inkriminierte Veröffentlichung oder das inkriminierte Verhalten Berufspflichten der Presse und/oder die Grundsätze für die publizistische Arbeit verletzt und dadurch der Beschwerdeführer in schutzwürdigen Rechten verletzt worden ist" und in diesem Fall auch - auf Antrag des Beschwerdeführers - auf Veröffentlichung der Entscheidung im Medium des Beschwerdegegners erkennen; dabei kann er einen Veröffentlichungstext vorgeben, der auch zusammengefasst den Sachverhalt und die wesentliche Begründung enthalten kann. In der Schiedsvereinbarung wird das dankenswerter Weise verdeutlicht, dort heißt es "Bei einer erfolgreichen Beschwerde vor dem Österreichischen Presserat ist als Sanktion für den Beschwerdegegner ausschließlich die Veröffentlichung der Entscheidung vorgesehen".

Das heißt: wer den Presserat anruft, verzichtet nicht nur auf den ordentlichen Rechtsweg und unterwirft sich einem Schiedsgericht, in dem sechs von sieben Mitgliedern Journalisten sind, er verzichtet damit auch auf etwaige Entschädigungsansprüche (zB nach den §§ 6, 7, 7a, 7b oder 7c MedienG). Ob das durch die mögliche Veröffentlichung aufgewogen wird? Zudem muss man berücksichtigen, dass - wie in Schiedsverfahren üblich - auch eine Kostenentscheidung zu treffen ist, der Beschwerdeführer also nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere im Fall des Unterliegens, zum Kostenersatz verpflichtet werden kann (die Verfahrensordnung sieht eine "analoge Anwendung" des § 609 ZPO vor, der freilich kraft Schiedsvereinbarung und mangels abweichender Vereinbarung nicht bloß analog, sondern direkt anzuwenden ist).
 
Was sind also die Vorteile einer Anrufung des Presserats?
In einem Gespräch am Rande der Fachtagung vor zwei Wochen - in der übrigens von mehreren Teilnehmern massive und grundsätzliche Kritik an dem verlangten Rechtsverzicht der Beschwerdeführer geübt wurde - haben der Obmann des Trägervereins und der Geschäftsführer des Presserats im Wesentlichen auf drei Umstände hingewiesen:
  • die adäquate "Wiedergutmachung" (im Sinne einer restitutio in integrum), mit anderen Worten: was durch eine Veröffentlichung angerichtet wurde, soll durch eine gegenteilige Veröffentlichung wieder gut gemacht werden (dazu gäbe es natürlich auch das Gegendarstellungsrecht, aber das ist wohl tatsächlich deutlich weniger flexibel und deckt nicht alle denkbaren Fälle ab)
  • die Verbindlichkeit: Beschwerdeführer haben einen Rechtsanspruch auf Veröffentlichung (das heißt: wenn der Presserat darauf erkennt) - das könnte man auch einfacher haben: nämlich durch eine einseitige Selbstverpflichtungserklärung, wie sie an sich dem typischen Modell einer Selbstregulierung entpricht
  • die höhere Anerkennung in der Branche, oder: Journalisten lassen sich nur von anderen Journalisten etwas sagen - da kann schon etwas dran sein, aber ob sich alle von einer Entscheidung des Presserates möglicherweise betroffenen Journalisten von den auserwählten Senatsmitgliedern des Presserates wirklich beeindrucken lassen?
Ergänzend muss man vielleicht noch darauf hinweisen, dass in der Regel vor dem ordentlichen Verfahren ein Vermittlungsversuch durch die "Ombudsleute" des Presserats erfolgt; dazu muss noch keine Schiedsvereinbarung unterzeichnet sein, weder durch den Beschwerdeführer noch den Medieninhaber - auch die Beschwerde des Rechnungshofpräsidenten gegen die Zeitung "Österreich" kann daher in diesem unverbindlichen Stadium einmal behandelt werden - ob die beiden Kontrahenten die Schiedsvereinbarung unterzeichnen, bleibt abzuwarten.

Überhaupt fällt auf der Website des Presserats auf, dass es keine Liste jener Medien gibt, die eine schriftliche Erklärung im Sinne des § 11 Abs 4 der Verfahrensordnung abgegeben haben, nach der sie generell und im Vorhinein den Abschluss von Schiedsvereinbarungen anbieten.

Wenn sich ein Medium nicht unterwerfen mag, kann der Presserat auch ein amtswegiges Verfahren durchführen, das allerdings ebenfalls einen gravierenden Mangel hat: der Presserat kann das Medium nicht zur Veröffentlichung verpflichten und darf außer dem betroffenen Medium auch niemanden sonst (auch nicht einen allfälligen "Anreger") vom Ergebnis informieren (§ 20 der Verfahrensordnung); auch die Senatsmitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 8 Abs 2 der Verfahrensordnung). 

Noch eine kleine Anmerkung zur Schiedsvereinbarung:
Ob - für Verfahren zwischen Unternehmern und Verbrauchern (Geschädigte werden häufig Verbraucher im Sinne des KSchG sein) - die Schiedsvereinbarung den Anforderungen des § 617 ZPO genügt, scheint meines Erachtens schon deshalb fraglich, weil der Sitz des Schiedsgerichts nicht festgelegt ist (übrigens auch nicht in der Verfahrensordnung!); zudem enthält die Vereinbarung zwar eine Belehrung darüber, was "Verzicht auf eine Anrufung der staatlichen Gerichte/Behörden" bedeutet, aber § 617 Abs 3 ZPO verlangt "eine schriftliche Rechtsbelehrung über die wesentlichen Unterschiede zwischen einem Schiedsverfahren und einem Gerichtsverfahren". Das sind Kleinigkeiten, die rasch behoben werden können - das grundsätzliche Problem kann aber auch mit einem neuen Formular nicht gelöst werden. 

PS - zum "Medienrat":
Selbstregulierung bedarf selbstverständlich eines Mindestmaßes an Ernsthaftigkeit und vor allem an Legitimierung und Anerkennung in der "sich selbst regulierenden" Branche, damit sie auch nur ansatzweise wirksam werden kann. Abseits dessen bleibt freilich auch Platz genug für ein wenig irrlichternd wirkende Einrichtungen wie den sogenannten "österreichischen Medienrat", der nach eineinhalb Jahren großartig eine erste Entscheidung verkündet hat (die Auslöser dieser Entscheidung schreiben darüber hier und hier).

Monday, November 22, 2010

"Neuwahlen" und andere Marginalien (in Sachen ORF)

Nein:  zu den aktuellen ORF-(Personal-)Debatten werde ich mich in diesem Blog aus guten Gründen auch weiterhin nicht näher äußern. Hier nur ein paar Anmerkungen auf eher abstrakter Ebene zu Nebenaspekten:

1. Wer die Wahl hat ...
Mich irritieren die Begriffe "Wahl" bzw. "Neuwahl" oder "Abwahl", die derzeit praktisch durchgängig von allen verwendet werden, die sich zur Bestellung und/oder Abberufung des Generaldirektors und der Direktoren des ORF äußern, und zwar vor allem von den involvierten Organen/Organmitgliedern selbst (Wrabetz, Oberhauser, Lorenz, Grasl, Kulovits-Rupp, Medwenitsch, Moser, etc.), aber auch von Politikern (zB Kopf, Cap) und - folgerichtig - natürlich auch von den Journalisten, die über diese Debatte berichten.

"Wahl" ist aber ein vor allem politisch besetzter Begriff, er impliziert eine Auswahl, bei der von den Wählern Repräsentanten bestellt werden, die ihre jeweiligen Interessen vertreten sollen; Wahlen finden zum Nationalrat, zum Landtag, zum Gemeinderat statt, in Interessenvertretungen, zum Betriebsrat, zur Schülervertretung, oder - im ORF - auch zur Vertretung der journalistischen Mitarbeiter (§ 33 Abs 1 ORF-G). Bei den Organen des ORF (Stiftungsrat, Generaldirektor, Publikumsrat) gibt es in diesem Sinne aber nur eine Wahl, nämlich jene, in der von den Rundfunkteilnehmern sechs Publikumsratsmitglieder gewählt werden (§ 28 Abs 6 bis 10 ORF-G).

Der Generaldirektor, die Direktoren und die Landesdirektoren werden hingegen nicht "gewählt", sondern bestellt, und sie werden gegebenenfalls nicht "abgewählt", sondern abberufen (siehe § 21 Abs 1 Z 2 und 4 ORF-G, § 22 ORF-G, § 24 ORF-G).

Natürlich kann man die Unterscheidung zwischen Wahl und Bestellung als juristisch/semantische Spitzfindigkeit abtun (die zudem vom Gesetzgeber auch nicht durchgehalten wird: bezeichnenderweise bei den Übergangsbestimmungen aus dem Jahr 2001 - § 45 ORF-G - heißt es, dass der Stiftungsrat "unverzüglich einen Generaldirektor zu wählen" und der "neu gewählte Generaldirektor" bestimmte Maßnahmen zu veranlassen hat). Dennoch: wer ständig von "Wahl/Abwahl/Neuwahl" spricht, denkt vielleicht eher an Mehrheiten und Minderheiten, Wahlgewinner und Wahlverlierer, an Wahlkampf, Wahlwerbung und Wahlversprechen (manchmal wohl auch an Wahlgeschenke). Bei der Betrauung mit einer Leitungsfunktion geht es aber nicht um eine interessengeleitete Auswahl unter mehreren grundsätzlich gleichrangigen Bewerbern, sondern um die Bestellung der für die Exekutivfunktion am besten geeigneten Person (das Kriterium der fachlichen Eignung betont übrigens auch § 27 Abs 2 ORF-G). Bei einer Aktiengesellschaft - und vieles im ORF-G wurde dem Aktienrecht nachgebildet - käme wohl kaum jemand auf die Idee, die Bestellung des Vorstands als "Wahl" zu bezeichnen.

2. Weisungsfreie Stiftungsräte - aber wer spricht mit wem?
Die Mitglieder des Stiftungsrates sind bekanntlich gemäß § 19 Abs 2 ORF-G "bei der Ausübung ihrer Funktion im Österreichischen Rundfunk an keine Weisungen und Aufträge gebunden". Zur Unabhängigkeit und Verschwiegenheitspflicht der Stiftungsratsmitglieder habe ich vergangenen April etwas angemerkt, was ich in der aktuellen Situation durchaus wiederholen könnte.

Zusammenfassend: natürlich dürfen Stiftungsratsmitglieder nicht nur keine Weisungen annehmen (ich kann mir - anders offenbar als ORF-Journalisten in einem offenen Brief - auch nicht vorstellen, dass jemand so naiv wäre, Weisungen erteilen zu wollen), sie dürfen vor allem aber ORF-Interna nicht mit Außenstehenden - und dazu zählen auch Politiker und deren Berater/Mitarbeiter, egal in welcher Funktion oder Partei - besprechen. Wenn Stiftungsräte am Rande von Stiftungsratssitzungen telefonieren, geht es daher sicher nie und nimmer um ORF-Interna - aber ist es nicht doch bemerkenswert, wie gut manchmal Menschen "in der Politik" über die Debatten im Stiftungsrat informiert sind?

Nur am Rande: medien- bzw. rechtspolitisch gäbe es gute Gründe für mehr Transparenz der Beratungen im Stiftungsrat, denn der "Öffentlichkeit", die ja Begünstigte der Stiftung ORF sein soll, könnte durchaus ein Interesse an genaueren Informationen über die Entscheidungen und die Entscheidungsfindung im Stiftungsrat zugebilligt werden (mir gefällt zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen der Bevölkerung und dem ORF bzw den Organen des ORF das Bild einer Art Treuhandschaft besser: der Treugeber hat ein berechtigtes Interesse, über das Verhalten des Treuhänders informiert zu werden). Aber nach der geltenden Rechtslage besteht eben eine Verschwiegenheitspflicht, an die alle Stiftungsratsmitglieder gebunden sind.

3. Aufgaben des Stiftungsrats - und der Ruf nach der "Politik"
Zur Qualifikation der Stiftungsratsmitglieder habe ich auch schon einmal etwas geschrieben, worauf ich aus gegebenem Anlass wieder hinweisen möchte (hier, im zweiten Teil des Posts). Gemäß § 20 Abs 2 ORF-Gesetz haben die Mitglieder des Stiftungsrats dieselbe Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit wie Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft (nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs muss bei jedem Aufsichtsratsmitglied unter anderem "eine das Durchschnittsniveau übersteigende, besondere 'intelligenzmäßige Kapazität' vorausgesetzt werden").

Aufgabe des Stiftungsrates ist unter anderem "die Bestellung und Abberufung des Generaldirektors" (§ 21 Abs 1 Z 2 ORF-G). Nun liest man, dass im Stiftungsrat "derzeit ein Brief an die Klubobleute der Parlamentsparteien in Arbeit" sei, in dem diese "um die notwendigen gesetzlichen Schritte" für eine "Neuwahl" der ORF-Geschäftsführung ersucht würden. Einig ist man sich offenbar darüber, dass eine "Neuwahl" so rasch als möglich stattfinden solle, aber abweichende Auffassungen bestehen über den Zeitpunkt, zu dem die Funktionsperiode der neu bestellten Geschäftsführung beginnen solle.

Ein derartiger Brief des Stiftungsrats wäre ein bemerkenswertes Eingeständnis: denn es ist Aufgabe des Stiftungsrats, die Geschäftsführung des ORF zu überwachen (§ 21 Abs 1 Z 1 ORF-G) - und wenn der Stiftungsrat zur Auffassung käme, dass trotz bester Überwachung die Geschäftsführung nicht funktioniert, so könnte er den Generaldirektor (mit 2/3-Mehrheit) abberufen. Wollte der Stiftungsrat also eine "Verkürzung der Funktionsperiode" - er könnte sie herbeiführen. Wollte aber der Stiftungsrat eine vorgezogene "Neuwahl", damit man, wie Generaldirektor Wrabetz meint, "bis zum Amtsantritt der neuen Geschäftsführung per 1. Jänner 2012 bereits die Strukturmaßnahmen auf Schiene bringen kann", dann stellt sich die Frage, weshalb es dafür eine "Neuwahl" braucht: denn die notwendigen Strukturmaßnahmen müsste wohl auch die gegenwärtige Geschäftsführung des ORF, sofern sie das Vertrauen des Stiftungsrats hat, auf Schiene bringen können (und wenn nicht, würde sie wohl das Vertrauen des Stiftungsrats verlieren). Ein "Zuruf" des Stiftungsrats an die Politik, wie er derzeit offenbar im Raum steht, würde die Grenzen der Problemlösungskapazität des Stiftungsrats deutlich aufzeigen.

Wie das mit  Zurufen an die "Politik" so sein kann, zeigt ein kleiner Exkurs: Ex-Informationsdirektor Oberhauser hat, einige Zeit vor seiner Abberufung, dafür plädiert, "auch einmal die Politik daran [zu] erinnern, dass sie eine Eigentümerfunktion hat." [Oberhauser hat freilich später, diesmal zutreffend, auch das Gegenteil gesagt]. An seine eigene Abberufung dürfte er beim Wunsch, die Politik an ihre angebliche Eigentümerfunktion zu erinnern, eher nicht gedacht haben.

4. Stiftungsrat: ein Ehrenamt - unter Freunden
Wie schon gesagt, ich glaube nicht, dass das Abstimmungsverhalten einzelner (oder gar aller) Stiftungsratsmitglieder auf Weisungen oder Aufträge zurückgeht. Blockbildungen bei Abstimmungen im Stiftungsrat können schlicht das Ergebnis von - nicht unzulässigen - Beratungen unter befreundeten Stiftungsratsmitgliedern sein, die eben zu einer gemeinsamen Problemsicht kommen (aber nochmals: werden dabei Interna besprochen, haben Außenstehende im Freundeskreis nichts verloren). Was es im ORF-Gesetz allerdings nicht gibt - im Unterschied etwa zu parlamentarischen Regeln - sind offizielle Fraktionsbildungen oder gar Funktionen als "Fraktionsführer" oder Ähnliches. Auch die "Funktion des Sprechers eines Freundeskreises", die etwa Nikolaus Pelinka nach eigenem Bekunden übernommen hat, ist im ORF-G nicht vorgesehen.

Nun ist es selbstverständlich zulässig, dass sich Menschen in ähnlicher Situation, wie es eben Stiftungsratsmitglieder sind, lose zu Freundeskreisen zusammenfinden und sogar einen "Sprecher" bestimmen. Rechtlich interessant wird es, wenn Folgen daran geknüpft werden: so bekommen laut einem Beitrag in der Zeitschrift Datum die Leiter eines Freundeskreises "sogar ein erhöhtes Sitzungsgeld ... Selbst wenn das nur rund 200 Euro pro Sitzung ausmacht." Dazu nur soviel: Nach § 19 Abs 3 ORF-G ist die Funktion als Mitglied des Stiftungsrates ein Ehrenamt, die Mitglieder "haben Anspruch auf angemessenen Ersatz der angefallenen Kosten." Eine Bestimmung über Sitzungsgelder oder gar erhöhte Sitzungsgelder für Freundeskreisleiter habe ich noch nicht entdeckt. (Dass Stiftungsratsmitglieder nicht angemessen honoriert werden, halte ich übrigens für eine medienpolitisch nicht glückliche Entscheidung, ohne das in diesem ohnehin schon überlangen Post näher ausführen zu wollen.)

5. Veröffentlichungen nach dem novellierten ORF-Gesetz: 
Nach der überwiegend am 1.10.2010 in Kraft getretenen Novelle zum ORF-G ist der ORF nun zu etwas mehr Transparenz verpflichtet - die auf der Website vorzunehmenden Pflichtveröffentlichungen sind hier aufzufinden. So ist insbesondere erstmals auch der Jahresbericht gemäß § 8 ORF-G elektronisch verfügbar (siehe zur bisherigen Situation hier), auch der Jahresabschluss (ohne Lagebericht) ist direkt abrufbar.

Derzeit aktuell nachzulesen ist auch der "Vorschlag für ein Informations- und Kulturspartenprogramm sowie ein Online-Angebot (Arbeitstitel: ORF Info Plus)", zu dem Stellungnahmen bis zum 21.12.2010 möglich sind. In diesem Vorschlag wird übrigens der derzeitige Marktanteil von TW1 auf Seite 7 der Beilage D ("Gutachten zum Angebotskonzept ORF Info Plus (AT)" von Prof. Bretschneider) mit 0,2% angegeben - bemerkenswert nach einer Reihe außergewöhnlich erfolgreicher Jahre mit "Rekordzahlen" (siehe dazu näher hier).

6. Internetfreie Minuten
Erwähnenswert ist, dass der ORF (noch) einen Programmdirektor hat - und dieser hat es geschafft, zum Namensgeber eines Gedenkpreises zu avancieren. Der "Wolfgang Lorenz Gedenkpreis für internetfreie Minuten" wird auch dieses Jahr wieder vergeben - die Eventankündigung für den 26.11.2010 ist hier zu lesen.

Wednesday, November 17, 2010

Präventives Misstrauen: "letzte Aufforderung" der Kommission für 116000-Rufnummer

Die Einführung der 116er Nummern, die von der Kommission auf (damals) recht zweifelhafter rechtlicher Grundlage* im Jahr 2007 beschlossen wurde (Entscheidung vom 15.2.2007), war vor allem eine Publicity-Maßnahme der damals zuständigen Kommissarin (siehe dazu näher schon hier). Im Verkaufen dieser großartigen Errungenschaft, insbesondere der "Hotline für vermisste Kinder", ging freilich ein wenig unter, dass die Mitgliedstaaten in der Entscheidung bloß verpflichtet wurden, die Nummer zu reservieren, nicht aber auch, den Betrieb einer entsprechenden Hotline tatsächlich zu gewährleisten. Da kam es zB auch vor, dass die Kommission dazu aufforderte, eine 116er Nummer zu wählen, wenn man Hilfe brauche, obwohl zum Zeitpunkt dieser Aufforderung in keinem einzigen Mitgliedstaat eine solche Nummer operativ war (dazu hier, am Ende).

Heute hat die Kommission - zusammen mit einer Mitteilung vom 17.11.2010, KOM(2010) 674 endgültig, Europäische Hotline für vermisste Kinder – 116 000 - eine "letzte Aufforderung" an 14 Mitgliedstaaten veröffentlicht, "die EU-Hotline für vermisste Kinder freizuschalten". Das ist schon insofern verwunderlich, als eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Nummer freizuschalten, derzeit gar nicht besteht. Art 27a der UniversaldienstRL in der Fassung der RL 2009/136 sieht zwar vor, dass die Mitgliedstaaten alle Anstrengung unternehmen, um den Bürgern den Zugang zu einer unter der Rufnummer 116000 erreichbaren Hotline für vermisste Kinder zu gewährleisten, aber die Umsetzungsfrist für die RL endet erst mit 25. Mai 2011 (was die Kommission in ihrer "letzten Aufforderung" gegen Ende zu auch einräumt). Etwas merkwürdig klingt vor diesem Hintergrund auch die Aufforderung der Kommission an die Mitgliedstaaten, "die letzte Gelegenheit zur Inbetriebnahme der Hotline zu nutzen, bevor sie auf gesetzgeberische Maßnahmen zurückgreift." Heißt dass, die Kommission meint jetzt schon, dass die Mitgliedstaaten bis kommenden Mai nicht die erforderlichen Anstrengungen unternehmen würden, oder soll damit angedeutet werden, dass von den Mitgliedstaaten überhaupt mehr erwartet wird, als Richtlinie und Entscheidung der Kommission verlangen?

In Österreich und Deutschland wurde die Nummer 116000 zwar pflichtgemäß reserviert, aber bislang noch niemandem zugeteilt und ist dementsprechend auch noch nicht in Betrieb. Korrektur 17.11.2010: Danke an Daniel AJ Sokolov, der mich in seinem Kommentar darauf aufmerksam machte, dass die Rufnummer in Österreich doch schon vergeben ist - man soll sich halt nicht auf die Kommissionsmitteilung verlassen. Die Rufnummer wurde an "ÖVVP - Österreichischer Verband zur Suche nach vermissten Personen" zugeteilt (ZVR-Zahl 145394446, Sitz in St. Michael in Burgenland, Obfrau Anette Engelbrecht; die Offenlegung auf der Website ist unvollständig, außerdem wird ein falscher Vereinsname genannt. Der Verein dürfte eine enge Beziehung zum "Suchpool DDR-Bürger" haben; eine Eintragung auf der ÖVVP-Website vom 24.10.2010 gibt an, dass die Nummer 116000 in Kürze verfügbar sein werde).

Update 30.07.2011: durch einen Beitrag im Blog von Markus Kastelitz wurde ich darauf aufmerksam, dass die Rufnummer 116000 wieder vom "ÖVVP" wieder zurückgelegt wurde, wie aus dieser parlamentarischen Anfragebeantwortung hervorgeht. Der "ÖVVP" hat sich mittlerweile in "Internationaler Personensuchpool" umbenannt (Website), die oben noch verlinkte ÖVVP-Website ist mittlerweile nicht mehr erreichbar.

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*) die Kommission stützte sich auf Art. 10 Abs. 4 der RahmenRL; dieser lautet: "Die Mitgliedstaaten unterstützen die Vereinheitlichung der Zuweisung von Nummerierungsressourcen in der Gemeinschaft, wenn dies notwendig ist, um die Entwicklung europaweiter Dienste zu fördern. Die Kommission kann gemäß dem in Artikel 22 Absatz 3 genannten Verfahren in dieser Frage geeignete technische Umsetzungsmaßnahmen beschließen." Ob die Verpflichtung, bestimmte Rufnummernbereiche für bestimmte Dienste zu reservieren, aber wirklich bloß eine "technische Umsetzungsmaßnahme" ist?

Thursday, November 11, 2010

Soziale Wachhunde: Redaktionsgeheimnis für NGOs (und Blogger)?

[aus gegebenem Anlass - der einschlägigen Fachtagung im Justizministerium - ein etwas längerer Beitrag in Sachen Redaktionsgeheimnis] 

Das Redaktionsgeheimnis ist, so werden Journalisten nicht müde zu betonen, "keineswegs, wie vielfach vermutet, ein Privileg für Journalisten [...], sondern ein Privileg für die Demokratie" (so zB kürzlich Andreas Koller, stv. Chefredaktuer der Salzburger Nachrichten).

Das ist freilich eine etwas verkürzte Darstellung: denn natürlich ist das Redaktionsgeheimnis ein Privileg für Journalisten (worauf nicht nur der englische Begriff "journalist's privilege" hinweist), aber dieses Privileg wird eingeräumt, um die für die demokratische Meinungsbildung essentielle Funktion der Medien als "public watchdog" zu schützen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fasst das zB im Urteil Financial Times (in Absatz 59) so zusammen:
"The Court reiterates that freedom of expression constitutes one of the essential foundations of a democratic society and that, in that context, the safeguards guaranteed to the press are particularly important. Furthermore, protection of journalistic sources is one of the basic conditions for press freedom. Without such protection, sources may be deterred from assisting the press in informing the public on matters of public interest. As a result, the vital 'public watchdog' role of the press may be undermined and the ability of the press to provide accurate and reliable reporting may be adversely affected. Having regard to the importance of the protection of journalistic sources for press freedom in a democratic society and the potentially chilling effect that an order for disclosure of a source has on the exercise of that freedom, such a measure cannot be compatible with Article 10 unless it is justified by an overriding requirement in the public interest [...]"
Es trifft im Übrigen auch nicht uneingeschränkt zu, dass das Redaktionsgeheimnis - ich zitiere dazu wieder Andreas Koller - "die Identität von Menschen schützen [soll], die sich zwecks Aufklärung von Missständen an die Medien wenden. Menschen also, die mit ihren Informationen der Gesellschaft einen Dienst erweisen, aber Repressalien zu fürchten haben." (Ähnlich heißt es auch im Einladungsschreiben zur morgigen Fachtagung im Bundesministerium für Justiz: "Das Redaktionsgeheimnis dient dem Schutz von Personen, die Medien unter Zusicherung der Vertraulichkeit Informationen weitergeben.")

Informantenschutz wird durch das Redaktionsgeheimnis nämlich nur indirekt gewährleistet: wenn sich Journalisten entsprechend ihrem Berufsethos gegenüber den Behörden auf das Redaktionsgeheimnis berufen, schützen sie damit auch ihre Informanten. Will sich ein Journalist - aus welchen Gründen auch immer - nicht auf das Redaktionsgeheimnis berufen, oder gibt er seine Quelle absichtlich oder unabsichtlich selbst preis, so ist der Informant - Redaktionsgeheimnis hin oder her - chancenlos. Das Redaktionsgeheimnis sichert keinen Informantenschutz; dazu wären eigene Rechtsvorschriften nötig (siehe etwa für Australien den Whistleblowers Protection Act 1994, dessen Ziel so definiert wird: "to promote the public interest by protecting persons who disclose unlawful, negligent or improper conduct affecting the public sector, danger to public health or safety, danger to the environment"; wie bei den meisten solchen Modellen besteht hier der Schutz nur, wenn sich der whistleblower an eine geeignete öffentliche Einrichtung wendet).

Das Redaktionsgeheimnis ist also tatsächlich ein Privileg für Journalisten, und es schützt deren Informanten nur indirekt und unvollkommen. Dennoch ist es von wesentlicher Bedeutung für die Demokratie, nämlich entsprechend der oben zitierten Rechtsprechung des EGMR zum Schutz der Medien in deren wesentlicher Funktion als "public watchdog".

Redaktionsgeheimnis nur für Profis?
Damit stellt sich aber auch die Frage, wem das Privileg des Redaktionsgeheimnisses einzuräumen ist. In Österreich sind dies nach der einfachgesetzlichen Rechtslage (§ 31 MedienG) "Medieninhaber, Herausgeber, Medienmitarbeiter und Arbeitnehmer eines Medienunternehmens oder Mediendienstes". Aus den Definitionen in § 1 MedienG ergibt sich wiederum, dass Medienmitarbeiter ausschließlich "professionelle Medienmenschen" sind, weil sie die journalistische Tätigkeit "ständig und nicht bloß als wirtschaftlich unbedeutende Nebenbeschäftigung" ausüben müssen.

Medieninhaber ist aber - neben dem klassischen "Medienunternehmer" - seit der MedienG-Novelle 2005 u.a. auch, wer "sonst im Fall eines elektronischen Mediums dessen inhaltliche Gestaltung besorgt und dessen Ausstrahlung, Abrufbarkeit oder Verbreitung entweder besorgt oder veranlasst". Da eine Website nach § 1 Abs 1 Z 5a lit b MedienG ein "periodisches elektronisches Medium" ist, kann sich also auch der Website-Betreiber/Blogger, der die inhaltliche Gestaltung der Website besorgt oder "die grundlegende Richtung" der Website bestimmt (und damit Herausgeber iSd § 1 Abs 1 Z 9 MedienG ist), auf das Redaktionsgeheimnis berufen. Auf eine (haupt)berufliche Tätigkeit kommt es dabei nicht an.

Gastautoren - aber auch bei Gruppenblogs alle weiteren Blogger, die nicht Medieninhaber oder Herausgeber sind - wären damit nicht geschützt. Ähnliches gilt etwa bei den "freien Medien": die unbezahlt oder bloß nebenbei tätigen Mitarbeiter können sich nicht auf das Redaktionsgeheimnis berufen. In der Schweiz - womit ich an meinen Beitrag zur "Alpenfestung"-Causa anschließe - sind übrigens explizit nur "Personen, die sich beruflich mit der Veröffentlichung von Informationen im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums befassen, oder ihre Hilfspersonen" durch das Redaktionsgeheimnis privilegiert.

Der EGMR bezieht sich in seiner einschlägigen Rechtsprechung regelmäßig (etwa im Fall Voskuil) auf die Empfehlung des Ministerkomitees vom 8.3.2000, R(2000) 7, "on the right of journalists not to disclose their sources of information". Nach dieser Empfehlung bedeutet der Begriff "Journalist" - für den die dort angesprochenen Rechte gelten sollen - "any natural or legal person who is regularly or professionally engaged in the collection and dissemination of information to the public via any means of mass communication" (Hervorhebung hinzugefügt). Auch eine regelmäßige publizistische Tätigkeit, mag sie auch nicht berufsmäßig ausgeübt werden, müsste demnach zum Recht auf Quellenschutz führen.

Sofern ein Medium eine gewisse Mindestöffentlichkeit erreicht und darin über wichtige Angelegenheiten von öffentlichem Interesse berichtet wird, habe ich keinen Zweifel daran, dass der EGMR den Schutz des Redaktionsgeheimnisses auch für regelmäßige, aber nicht erwerbsmäßig tätige Mitarbeiter anerkennen würde.

Schutz auch für NGOs als soziale Wachhunde?
Tatsächlich hat der EGMR in seinem Urteil vom 14.4.2009 (Társaság a Szabadságjogokért, siehe dazu hier) auch schon darauf hingewiesen, dass die Funktion der Presse, ein Forum für die öffentliche Debatte zu schaffen, nicht auf Medien oder professionelle Journalisten beschränkt ist: 
"The function of the press includes the creation of forums for public debate. However, the realisation of this function is not limited to the media or professional journalists. In the present case, the preparation of the forum of public debate was conducted by a non-governmental organisation. The purpose of the applicant's activities can therefore be said to have been an essential element of informed public debate. [...] The applicant is an association involved in human rights litigation with various objectives, including the protection of freedom of information. It may therefore be characterised, like the press, as a social 'watchdog' [...]. In these circumstances, the Court is satisfied that its activities warrant similar Convention protection to that afforded to the press." (Hervorhebung hinzugefügt)
In diesem Fall ging es um den Zugang zu öffentlichen Informationen, wobei der EGMR das Sammeln von Informationen nicht nur als wesentlichen vorbereitenden Schritt im Journalismus, sondern auch für die Tätigkeit der klagenden zivilgesellschaftlichen Organisation beurteilt; die verfahrensgegenständliche Weigerung des ungarischen Verfassungsgerichtshofs, ein Dokument herauszugeben, stellte damit einen Eingriff in die Informationsfreiheit - ausdrücklich: "a form of censorship"  - dar. In diesem Fall vergleicht der EGMR die Funktion der NGO mit der Presse und legt für Eingriffe in das Recht auf Informationszugang denselben strengen Maßstab an; abschließend heißt es in Absatz 38:
"The Court considers that obstacles created in order to hinder access to information of public interest may discourage those working in the media or related fields from pursuing such matters. As a result, they may no longer be able to play their vital role as 'public watchdogs' and their ability to provide accurate and reliable information may be adversely affected (see, mutatis mutandis, Goodwin v. the United Kingdom, judgment of 27 March 1996, Reports 1996-II, p. 500, § 39)." (Hervorhebung hinzugefügt)
Es spricht daher vieles dafür, das "Journalistenprivileg" Redaktionsgeheimnis im Licht der Rechtsprechung des EGMR nicht auf professionelle Journalisten beschränkt zu verstehen, sondern den Quellenschutz - wenn es um Angelegenheiten von öffentlichem Interesse geht - auch zivilgesellschaftlichen Organisationen (man denke etwa an Umwelt- oder Menschenrechtsorganisationen) einzuräumen.

Vermischte Lesehinweise (20), u.a. zur Netzneutralität

Wednesday, November 10, 2010

Update zur Alpenfestung: Schweizer Bundesgericht bejaht Quellenschutz für Blog-Kommentar auf Medien-Website

Letzte Woche habe ich hier auf die heutige öffentliche Urteilsberatung des Schweizer Bundesgerichts in Sachen anonyme Kommentare auf Medienwebsites hingewiesen; und da das auf überraschend großes Echo gestoßen ist, muss ich nun auch auf das Ergebnis aufmerksam machen. Zwar liegt das Urteil noch nicht vor (bis es auf der Website des Bundesgerichts verfügbar ist, dauert das in der Regel doch ein paar Wochen), doch gibt es eine Agenturmeldung, die ua auf den Onlineportalen von NZZ und Tagesanzeiger zu finden ist. Dazu - mit aller gebotenen Vorsicht - nur zwei kurze Anmerkungen:

1. Die Entscheidung stützt sich auf eine Bestimmung des Schweizer Strafgesetzbuchs, nach der "Personen, die sich beruflich mit der Veröffentlichung von Informationen im redaktionellen Teil eines periodisch erscheinenden Mediums befassen", die Auskunft über die Identität des Autors oder über Inhalt und Quellen ihrer Informationen verweigern dürfen. Geschützt sind also professionelle Medien - auf nicht professionelle Blogger oder Website-Betreiber lässt sich das nicht übertragen (auch § 31 des österreichischen MedienG gilt nicht für "Amateure", sondern schützt "Medieninhaber, Herausgeber, Medienmitarbeiter und Arbeitnehmer eines Medienunternehmens", wobei "Medienmitarbeiter" nur ist, wer die journalistische Tätigkeit "ständig und nicht bloß als wirtschaftlich unbedeutende Nebenbeschäftigung ausübt.").
Ob eine Beschränkung des Quellenschutzes auf professionell und hauptberuflich journalistisch Tätige in jedem Fall ausreichend wäre, um den Anforderungen des Art 10 EMRK zu entsprechen, könnte man durchaus diskutieren (ich werde dazu bei Gelegenheit noch eine Anmerkung machen; update 11.11.2010: siehe nun hier); Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesgericht war aber die Website des Schweizer Fernsehens, sodass sich diese Frage nicht stellte.

2. Das Bundesgericht hat - so der Agenturbericht - als Voraussetzung für den Quellenschutz auch verlangt, "dass der Kommentar ein Minimum an Information enthält. Dabei seien allerdings keine hohen Anforderungen zu stellen, zumal heutzutage bei gewissen journalistischen Formen die Abgrenzung zwischen Information und Unterhaltung nicht immer leicht sei."

Update zum Update (10.11., 18 Uhr): eine "Kurzfassung der Urteilsberatung" ist auf der Website des Schweizer Fernsehens zugänglich: demnach ist die Entscheidung (Referent war Bundesrichter Aemisegger) knapp, mit 3:2 Stimmen ergangen. Einig seien sich alle Richter drin gewesen, dass "vom Quellenschutz alle publizistischen Leistungen vorbehältlich der Werbung erfasst werden". Die in der Minderheit gebliebenen Bundesrichter Raselli und Eusebio hätten darauf hingewiesen, "dass im vorliegenden, etwas seltsamen Sachverhalt eine relativ banale Kritik am Kommentar eines anderen als ehrverletzend empfunden wurde. Insgesamt genüge die abstrakte Beurteilung der Grundsatzkonstellation nicht, um die Beschwerde gutzuheissen, weil der vorliegende Fall konkret eine Anwendung des Redaktionsgeheimnisses mangels Informationscharakters nicht rechtfertige." Der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung betonte auch, dass der Quellenschutz "selbstverständlich" nicht bei den im Gesetz angeführten Ausnahmen schwerer Delikte und Verbrechen - der hier aber nicht voegelegen sei - gelte.
Und noch ein Update (11.11.2010): Der Bundesgerichtskorrespondent der NZZ Markus Felber (@felnzz, Blog) hat seinen Beitrag in der NZZ hier zum Download verfügbar gemacht.
Update 17.01.2011: der Volltext des Urteils ist nun verfügbar; siehe dazu auch hier.

Update 13.03.2014: Der OGH hat in seinem Urteil vom 23.01.2014, 6 Ob 133/13x, die im oben dargestellten Urteil des Schweizer Bundesgerichts dargelegte Auffassung für Österreich ausdrücklich abgelehnt.

Tuesday, November 09, 2010

EuGH: "Medienvielfalt" rechtfertigt kein allgemeines Zugabenverbot

Manche Medienerzeugnisse verkaufen sich offenbar weniger aufgrund ihres Inhalts als wegen verschiedener Zugaben - ob Vignette, CD oder manchmal auch bloße Gewinnchance. Horst Pirker, früherer Vorstand der Styria Media Group, hat - wie man bei Harald Fidler nachlesen kann - dieses in Österreich von den Fellner-Brüdern vor allem bei News und später bei "Österreich" etablierte Geschäftsmodell einmal so beschrieben: "Wenn ich dem Trottel Leser eine goldene Uhr schenke, wird er mein Scheißblatt schon kaufen."

Ein Problem dabei war allerdings, dass nach § 9a UWG Zugaben nur eingeschränkt möglich waren, etwa in Form "geringerwertiger Kleinigkeiten". Zudem war bei periodischen Druckwerken auch die  "Einräumung einer Teilnahmemöglichkeit an einem Preisausschreiben (Gewinnspiel)" schlechthin unzulässig. Diese Beschränkungen boten Anlass für zahlreiche UWG-Klagen unter Konkurrenten, unter anderem für eine Klage der Mediaprint wegen eines Gewinnspiels der Zeitung "Österreich" im Zusammenhang mit einer von ihr veranstalteten Wahl zum "Fußballer des Jahres". In diesem Verfahren legte der Oberste Gerichtshof dem EuGH eine Frage der Auslegung der RL über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-RL, 2005/29/EG) vor; in dieser Rechtssache (C‑540/08 Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag GmbH & Co. KG gegen "Österreich"-Zeitungsverlag GmbH) ist heute das Urteil ergangen.

Für den Themenbereich dieses Blogs ist nur von Interesse, dass die österreichische Regierung im Verfahren vor dem EuGH das spezielle Zugabenverbot für periodische Druckwerke damit verteidigte, dass damit "im Wesentlichen das Ziel der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt in Österreich verfolgt werde". Der OGH hatte das zwar anders gesehen, sodass der EuGH dazu gar nichts hätte sagen müssen - hypothetisch beurteilte er die Frage aber doch:
"Selbst wenn man davon ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung im Wesentlichen das Ziel der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt in Österreich verfolgt, ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, in ihrem Gebiet Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, die bezwecken oder bewirken, dass Geschäftspraktiken aus Gründen der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt als unlauter eingestuft werden, nicht zu den in den Erwägungsgründen 6 und 9 sowie in Art. 3 der Richtlinie genannten Ausnahmen von ihrem Anwendungsbereich gehört."
Die logische Konsequenz: die UGP-RL steht einem generellen Zugabenverbot entgegen (selbst wenn es der Medienvielfalt dienen sollte). Das bedeutet zwar noch nicht, dass solche Zugaben in jedem Fall zulässig wären, aber allein der Umstand, dass die mit dem Kauf der Zeitung verbundene Möglichkeit einer Gewinnspielteilnahme "zumindest für einen Teil der angesprochenen Verbraucher das ausschlaggebende Motiv für den Kauf dieser Zeitung bildet", macht diese Geschäftspraktik noch nicht unlauter. Eine Einzelfallprüfung müsste auch die "Erfordernisse der beruflichen Sorgfaltspflicht" im Sinne von Art 5 Abs 2 lit a der UGP-RL erfassen.

PS: ist es nicht irgendwie ironisch, wenn auf Seiten der Mediaprint die "Aufrechterhaltung der Medienvielfalt" ins Spiel gebracht wird, und wenn zur Debatte steht, wodurch Verbraucher zum Kauf(!) einer Zeitung angelockt werden, die in der Österreichischen Auflagenkontrolle mittlerweile als "Gratiszeitung" ausgewiesen ist (dazu hier)?

EuGH und Vorratsdaten: ein Fall raus, ein neuer rein (und noch immer keine Antwort)

Der EuGH hat heute in der Rechtssache C-92/09 Volker und Markus Schecke GbR / Land Hessen (verbunden mit C-93/09 Hartmut Eifert / Land Hessen) erwartungsgemäß einzelne Rechtsgrundlagen für die Veröffentlichung der Empfänger von Agrarsubventionen als ungültig beurteilt, wobei er sich wesentlich auf Art 7 und 8 der Grundrechtecharta - und vermittelt darüber indirekt auf Art 8 EMRK - gestützt hat. Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist das ein durchaus interessantes Urteil (wenngleich vieles davon auch schon im Urteil C-465/00 Österreichischer Rundfunk zum Ausdruck gebracht wurde; damals ging es um die heute aus anderen Gründen wieder aktuelle Frage der Veröffentlichung der Bezüge von ORF-Führungskräften); für Österreich kommt noch der interessante Nebenaspekt hinzu, dass sich das Urteil - entsprechend der Grundrechtecharta - nur auf natürliche Personen bezieht, während das österreichische Grundrecht auf Datenschutz nach § 1 DSG auch juristische Personen schützt. Man wird sich daher wohl anschauen müssen, ob die vom zuständigen Landwirtschaftsminister schon veranlasste völlige Abschaltung der Transparenzdatenbank im Hinblick auf juristische Personen im Lichte des Unionsrecht nicht vielleicht doch zu weit geht - aber datenschutzrechtliche Fragestellungen sind eigentlich nicht Thema dieses Blogs.

Das konkrete Verfahren vor dem EuGH war hier nur deshalb auf dem Radar, weil eine der Vorlagefragen auch ausdrücklich die Gültigkeit der RL 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten angesprochen hat. Eine Antwort darauf war - auch nach den Schlussanträgen (siehe dazu hier) - nicht wirklich zu erwarten; der EuGH ist diesbezüglich knapp und klar:
"Der zweite Teil der zweiten Frage und die sechste Frage stehen in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten. Sie gelten nämlich nicht der Veröffentlichung von Daten, die Empfänger von Beihilfen aus diesen Fonds wie die Kläger der Ausgangsverfahren betreffen, sondern der Vorratsspeicherung der Daten von Personen, die Internetseiten aufrufen. Da die Prüfung des zweiten Teils der zweiten Frage und die der sechsten Frage für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten in keiner Weise sachdienlich ist, brauchen diese nicht beantwortet zu werden."
Das heißt aber nicht, dass die Vorratsspeicherung von Daten nicht wieder Thema beim EuGH würde:  IT Law in Ireland berichtet über ein neues Vorabentscheidungsersuchen des schwedischen Obersten Gerichtshofs, datierend vom 25.08.2010 (auf der EuGH-Website ist das noch nicht zu finden; Update 23.11.2010: nunmehr verfügbar: C-461/10 Bonnier Audio AB ua); die Fragen werden (entsprechend diesem Bericht) so wiedergegeben:
  • Whether the Data Retention Directive prevents the application of a national rule based on the EU IP Rights Enforcement Directive (2004/48/EC), which provides that an ISP in a civil case can be ordered to provide a copyright owner or a rights holder with information on which subscriber holds a specific IP address assigned by the ISP, from which address the infringement is alleged to have taken place.
  • Whether the answer to the first question is affected by the fact that the state has not yet implemented the Data Retention Directive, although the deadline for implementation has passed.

Sunday, November 07, 2010

Nachrichten sind eine besondere Ware: EGMR zur Zurückziehung einer städtischen Zeitung durch den Chefredakteur

Wie "unspezifische Angst" des Chefredakteurs zu einer Verletzung des Art 10 EMRK führen kann, zeigt das aktuelle Urteil des EGMR in der Sache Saliyev gegen Russland:

Herr Saliyev war Vorsitzender einer NGO von Investoren aus Kolyma. Für die im Besitz der Stadt Magadan stehende Zeitung Vecherniy Magadan schrieb er einen Artikel unter der Überschrift "Aktien für den Mohren von Moskau", in dem er sich kritisch mit seiner Ansicht nach krummen Geschäften beim Erwerb von Aktien eines lokalen Energieunternehmens durch Moskauer Firmen auseinandersetzte. Die Zeitung wurde an die Abonennten versandt und ging auch über ein Vertriebsunternehmen in den Einzelverkauf, aber dann überkam den Chefredakteur, der den Artikel zunächst angenommen hatte, eine "unspezifische Angst" vor möglichen negativen Konsequenzen dieses Artikels. Daher veranlasste er die Zurückziehung der noch unverkauften Restauflage aus dem Einzelverkauf; gemeinsam mit der Vertriebsfirma konnte er noch zwischen 100 und 200 Stück zurückholen.

Der Autor des Artikels wehrte sich und erstattete Strafanzeige wegen Eingriffs in die Pressefreiheit und wollte zudem mit einer Klage vor dem Zivilgericht erzwingen, dass 2000 Stück der Zeitungsausgabe mit seinem Artikel nachgedruckt und verkauft werden. Weder straf- noch zivilrechtlich hatte er Erfolg; das Zivilgericht kam zum Ergebnis, dass der Zeitungsverlag als Eigentümer der Zeitungsexemplare diese nach Belieben zurückholen und vernichten könne. Also wandte sich der Autor an den EGMR, der tatsächlich (einstimmig) eine Verletzung des Art 10 EMRK feststellte.

Das mag auf den ersten Blick überraschend wirken, erklärt sich aber im Wesentlichen aus der besonderen Art der Zeitung: diese stand im Besitz der Stadtgemeinde, also einer "state authority", und sollte ein "public service" erbringen, nämlich die Bewohner der Stadt über offizielle und andere Ereignisse in der Stadt informieren. Einnahmen aus Werbung waren nur von geringer Bedeutung und die Zeitung existierte vor allem aufgrund öffentlicher Finanzierung. Dem Chefredakteur kam eine doppelte Rolle zu, einerseits war er professioneller Journalist, andererseits musste er die Loyalität der Zeitung zur Stadt und deren politischer Linie sicherstellen. Und obwohl sich kein Vertreter der Stadt oder einer anderen staatlichen Autorität über den Artikel beschwert oder die Zurückziehung verlangt hatte, hatte der Chefredakteur aufgrund seiner eigenen Einschätzung möglicher negativer Konsequenzen die Zurückziehung veranlasst:
"Given the overall context of the case, and the dual role played by the editor-in-chief, his decision to withdraw the newspapers can be characterised as an act of policy-driven censorship. The Court concludes that in the circumstances the editor-in-chief implemented the general policy line of the municipality and acted as its agent." 
Damit lag also eine dem Staat zuzurechnende Handlung vor, die vom EGMR auch als Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung beurteilt wurde: der Artikel war durch die Versendung an Abonennten und Bibliotheken schon in der public domain (es geht also nicht um den nur in Ausnahmefällen geschützten Zugang eines Autors zur Presse) und die Zurückziehung erfolgte aufgrund des Inhalts dieses Artikels, nicht etwa weil die Zeitung nicht verkauft worden wäre (immerhin das ließe der EGMR zu: "If a part of the print run remained unsold after a while, the information in the newspaper would become outdated and, for that reason, the editor-in-chef would have every reason to withdraw the newspaper from sale. In such case there would be no interference with the applicant’s freedom of speech."). Kritisch beurteilte der EGMR allerdings das Handling des Falles durch die Zivilgerichte:
"The courts which examined the applicant’s civil claims ... simply treated the public information business like any other form of business, and the copies of the newspaper like any other product for sale. For them, the newspaper had an unqualified right to dispose of its property (the print run); therefore, the reasons for the withdrawal were irrelevant. However, those reasons are relevant for the Court’s analysis under Article 10 of the Convention."
Der EGMR hält fest, dass sich der Artikel mit einer wichtigen Angelegenheit des öffentlichen Interesses (Verwaltung öffentlicher Ressourcen) befasste, die höchsten Schutz unter Art 10 EMRK genießt; dass der Artikel unwahr gewesen wäre, war nie behauptet worden. Nochmals kommt der EGMR dann auf die Zivilgerichte zurück, die die Besonderheit des Informationsgeschäfts nicht beachtet haben:
"75 [...] in the specific case at hand the domestic courts did not analyse the content or the form of the article at all. In the eyes of the domestic courts the withdrawal had been ordered by the owner of the product (the newspaper) who had no contractual obligation vis-à-vis its producer (the author, that is, the applicant) to continue the sale. In other words, they treated the situation as just another purely business case, possibly coming within the ambit of Article 1 of Protocol no. 1 to the Convention, but not of Article 10 thereof.
76.  The Court points out that the relationship between a journalist and an editor-in-chief (or publisher, producer, director of programmes, and so on) is not only or always a business relationship. In the present case at least it was not so, since Vecherniy Magadan was publicly owned and was created not as a profit-making business but as a public utility institution used as a forum for informing the population about the 'social, political and cultural life' of the town [...]. [T]he domestic courts did not consider that the rights of the author of the article required any special protection under Article 10 of the Convention. Basing their findings on the mistaken assumption that the case was basically about the right of the owner to freely dispose of his property, they failed to examine the reasons for the withdrawal of the copies and to balance the applicant’s freedom of expression under Article 10 of the Convention against any other interests that may have been at stake (for instance, the reputation of the person targeted by the article). Accordingly, the decision-making process in this case was deficient from the standpoint of Article 10 of the Convention." (Hervorhebung hinzugefügt)
Wären vergleichbare Fälle in Österreich denkbar? Der ORF wurde vom EGMR im Fall Österreichischer Rundfunk gegen Österreich (Appl. no. 35841/02) - entgegen dem österreichischen Vorbringen - nicht als "state authority" beurteilt. Anders wäre die Situation wohl bei der im Eigentum der Republik stehenden Wiener Zeitung zu beurteilen: zwar ist Medieninhaber nicht die Republik selbst, sondern eine in ihrem Eigentum stehende GmbH, aber das war auch bei Vecherniy Magadan der Fall. Herausgeber - und damit für die grundlegende Richtung bestimmend (§ 1 Abs 1 Z 9 MedienG) - ist aber die Republik Österreich. Und die Einnahmen kommen zwar nicht direkt von der Republik, aber doch überwiegend aus Pflichteinschaltungen. Würde also der Chefredakteur nach Veröffentlichung eines Artikels unspezifische Angst vor negativen Konsequenzen bekommen und die schon an den Grossisten ausgelieferte Druckauflage zurückrufen wollen, dann könnte man Parallelen zum Fall Saliyev ziehen. Ähnliches gälte natürlich für die diversen Gemeindezeitungen und Amtsblätter.

Thursday, November 04, 2010

Eine Alpenfestung für anonyme Poster? SRG vor dem Schweizer Bundesgericht

Fällt die IP-Adresse, unter der ein anonymer Poster auf einem Blog eines Medienunternehmens einen ehrverletzenden Kommentar über einen Dritten abgegeben hat, unter das Redaktionsgeheimnis?

Über diese Frage - nach Schweizer Recht - wird das Schweizer Bundesgericht am 10. November 2010 öffentlich beraten und entscheiden (mehr dazu in einem Bericht des Tagesanzeigers). [Update 10.11.2010: laut Tweet des NZZ-Bundesgerichts-Korrespondenten hat das Bundesgericht den Quellenschutz für Kommentare auf Webseiten von Medien bejaht; siehe zur Entscheidung nun hier]

Das Schweizer Fernsehen (ein Unternehmen der SRG, des öffentlich-rechtlichen Rundfunkunternehmens), ist bislang hart geblieben und verweigert die Bekanntgabe der IP-Adresse, unter der der Kommentar auf auf einem programmbegleitenden Blog zur Sendung "Alpenfestung  - Leben im Réduit" im August 2009 abgegeben wurde (ich hab mir den Blog kurz angeschaut - die Anzahl der Kommentare ist sehr überschaubar, kein Vergleich zB mit den Foren auf derStandard.at oder auch bis zum 01.10.2010 auf vielen ORF-Seiten).

Nach § 31 des österreichischen Mediengesetzes erstreckt sich das Redaktionsgeheimnis auch auf "die Person des Verfassers" oder Einsenders von Beiträgen; auch die auf den Websites der Medien erscheinenden Postings sind wohl als "Beiträge" im Sinne dieser Bestimmung anzusehen. Franz Schmidbauer dokumentiert auf seiner Website einen Beschluss des LG Salzburg, wonach das Redaktionsgeheimnis einer Erzwingung der Herausgabe der IP-Adresse eines anonymen Online-Leserbriefschreibers entgegensteht.

Ob sich ein Medieninhaber aber zB gegenüber Strafverfolgungsbehörden auf das Redaktionsgeheimnis berufen will oder nicht, liegt ganz bei ihm, der anonyme Poster hat darauf ebensowenig Anspruch wie der Whistleblower, der sich etwa mit vertraulichen Akten direkt an einen Journalisten wendet. Und während die Medien bei "klassischen Informanten" hohes Interesse an der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses haben, dürfte ihre Bereitschaft, sich auch für rabiate Poster auf die Schienen zu legen, deutlich geringer sein (siehe zu einem Fall, in dem es wegen rassistischer Postings auf einer Medienwebsite zur Anklage wegen Verhetzung gekomemn ist, hier).

Da es offene Fragen zum Redaktionsgeheimnis nicht nur in der Schweiz gibt, wird übrigens im österreichischen Justizministerium aus gegebenem Anlass (siehe dazu in diesem Blog zB hier, hier und hier) am 12.11.2010 - zwei Tage nach dem Schweizer Urteil - eine Fachtagung "Medienrecht, Pressefreiheit und Amtsgeheimnis" stattfinden (Themen und Teilnehmer nennt der Standard hier; zur Offenlegung: ich bin auch dabei).

Tuesday, November 02, 2010

EuGH: Geldstrafe über Minderheitsaktionäre für Verstöße eines Rundfunkunternehmens verletzt Kapitalverkehrsfreiheit

Dass "golden shares" - Aktien, mit denen Sonderrechte verbunden sind, die über den Kapitalanteil des Aktionärs hinausgehen - gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen, hat der EuGH schon öfter, zuletzt auch einmal zu einem Telekomunternehmen (C-171/08 Kommission/Portugal, siehe dazu hier), ausgesprochen. In der Rechtssache C-81/09 Idryma Typou AE hatte es der EuGH nun gewissermaßen mit einer umgekehrten Situation zu tun: hier ging es nämlich nicht um Sonderrechte von Minderheitsaktionären, sondern um Sonderlasten.

Die griechische Rechtsordnung sieht vor, dass Geldbußen wegen Verstößen privater Fernsehveranstalter gegen nationales oder europäisches Recht oder gegen (journalistische) Standesregeln "gemeinschaftlich und gesamtschuldnerisch gegen die Gesellschaft und persönlich gegen ihren gesetzlichen Vertreter (oder ihre gesetzlichen Vertreter), gegen alle Mitglieder ihres Verwaltungsrats und gegen alle Aktionäre verhängt [werden], die einen Anteil an Aktien halten, der 2,5 % übersteigt."

Die vom griechischen Staatsrat (Συμβούλιο της Επικρατείας) dem EuGH vorgelegte Frage stellte sich in einem Verfahren betreffend eine Geldbuße, die wegen einer Ehrverletzung in einer Nachrichtensendung des Star Channel unter anderem auch einer (Minderheits-)Aktionärin auferlegt wurde. Der EuGH beurteilte diese Solidarbestrafung in seinem Urteil vom 21.10.2010 zwar nicht als Verstoß gegen die gesellschaftsrechtlichen Regeln der "Ersten Richtlinie" (68/151/EWG), wohl aber als Beschränkung der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit:
"57      Die nationale Maßnahme ermöglicht es nämlich, die Aktionäre einer Fernsehaktiengesellschaft für Geldbußen haftbar zu machen, die gegen diese Gesellschaft verhängt wurden, damit diese Aktionäre dafür Sorge tragen, dass diese Gesellschaft die griechischen Gesetze und Standesregeln beachtet, obwohl die Befugnisse, die diesen Aktionären nach den Regeln, die für das Funktionieren der Organe von Aktiengesellschaften gelten, eingeräumt sind, ihnen keine praktische Möglichkeit dazu geben.
58      Obwohl die Maßnahme unterschiedslos auf griechische Investoren und Investoren anderer Mitgliedstaaten anwendbar ist, ist die abschreckende Wirkung dieser Maßnahme für Investoren anderer Mitgliedstaaten größer als für griechische Investoren.
59      Soweit nämlich das Ziel des Gesetzes darin besteht, die Aktionäre dazu zu veranlassen, mit anderen Aktionären Allianzen zu schließen, um die Entscheidungen über die Führung der Geschäfte der Gesellschaft beeinflussen zu können, ist die Beachtung dieser Option, obgleich deren Wahrnehmung allen Aktionären aufgegeben ist, zweifellos schwieriger für Investoren anderer Mitgliedstaaten, die über die Verhältnisse der Medienlandschaft in Griechenland schlechter im Bilde sind und nicht notwendigerweise die verschiedenen Gruppen oder Allianzen kennen, die im Kapital einer Gesellschaft, die Inhaberin einer Erlaubnis für die Errichtung und den Betrieb eines Fernsehsenders ist, vertreten sind.
60      Folglich beschränkt eine nationale Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren streitige sowohl die Niederlassungsfreiheit als auch den freien Kapitalverkehr."
Interessant sind auch die Ausführungen zur - vom EuGH verneinten - Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs. Die Regelung sollte angeblich die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und der Standesregeln für Journalisten durch die Fernsehgesellschaften bewirken, und sie wurde von der griechischen Regierung auch damit gerechtfertigt, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes zahlreiche Journalisten Aktionäre mit zwischen 2,5 % und 25% des Gesellschaftskapitals gewesen seien. Das reichte dem EuGH natürlich nicht:
"65      Selbst wenn zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes Nr. 2328/1995 ein statistischer Zusammenhang zwischen Aktionären, die 2,5 % der Anteile einer Fernsehgesellschaft besaßen, und dem Journalistenberuf bestanden haben sollte, erscheint eine solche Verbindung nicht hinreichend, um anzunehmen, dass die fragliche Maßnahme geeignet wäre, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und insbesondere nicht über das hinausginge, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. [...]
67      Ist es das Ziel der Maßnahme, dass Journalisten die Gesetze und Standesregeln ihres Berufs befolgen, könnte es angemessen sein, ihnen persönlich für von ihnen begangene Verstöße Sanktionen aufzuerlegen, nicht aber Aktionären, die nicht notwendig Journalisten sind. [...]
69      Im Übrigen ist die Annahme, dass alle Aktionäre einer Aktiengesellschaft Fachleute in dem Bereich sind, in den der Gesellschaftszweck der Gesellschaft fällt, geradezu die Negation des freien Kapitalverkehrs, der u. a. auf Portfolioinvestitionen abzielt, d. h. auf den Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt allein in der Absicht einer Geldanlage, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen [...]"