Thursday, January 30, 2014

Baustelle Publikumsrat - Initiativantrag für Änderung des ORF-Gesetzes

Vor mehr als zwei Jahren hat der Verfassungsgerichtshof einige Bestimmungen im ORF-Gesetz über die Wahl von 6 Mitgliedern des Publikumsrates durch die Rundfunkteilnehmer (die legendäre "Fax-Wahl") aufgehoben (Erkenntnis vom 27.09.2011, VfSlg 19.509/2011). Da der VfGH in diesem Verfahren seinen Prüfbeschluss überraschend eng gezogen hatte, blieben nach der Aufhebung noch zwei Bestimmungen im ORF-Gesetz übrig, die ohne die aufgehobenen Regeln über die Fax-Wahl ziemlich in der Luft hängen: eine eher technische Regelung in § 28 Abs 11 ORF-G, in der noch auf die Bestellung der gewählten Mitglieder Bezug genommen wird, und eine inhaltlich schwerwiegendere Bestimmung in § 30 Abs 1 Z 2 ORF-Gesetz: demnach bestellt der Publikumsrat sechs Mitglieder des Stiftungsrates, "wobei drei Mitglieder aus den auf Grund der Ergebnisse der Direktwahl bestellten sechs Mitgliedern des Publikumsrates stammen müssen und jedenfalls je ein Mitglied aus den Bereichen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, der Hochschulen und der Kunst zu bestellen ist".

Nun haben SPÖ- und ÖVP-Abgeordnete einen Initiativantrag im Nationalrat für eine Änderung des ORF-Gesetzes eingebracht, nach der § 28 Abs 11 ORF-G zu § 28 Abs 6 ORF-G werden und in dieser Bestimmung die Wortfolge "nach Bestellung der Mitglieder gemäß Abs. 10" entfallen soll. In Kraft treten soll die Regelung rechtzeitig vor Bestellung der neuen Stiftungsratsmitglieder am 1. März 2014.

Auffällig an diesem Initiativantrag ist, was er nicht enthält: die - wesentlich dringendere - Neufassung des § 30 Abs 1 Z 2 ORF-Gesetz, um klarzustellen, wie die vom Publkumsrat in den Stiftungsrat zu entsendenden Mitglieder auszuwählen sind. Die Bedeutung des Publikumsrats an sich ist überschaubar, machtpolitisch einzig entscheidende Kompetenz ist ja die Entsendung von 6 Stiftungsratsmitgliedern. Da bei der letzten Direktwahl von Publikumsräten die Mobilisierungskraft von ÖVP-nahen Einrichtungen - anders als die beiden Male davor - stärker war als die von SPÖ-nahen Einrichtungen, sind aktuell zwei der drei Stiftungsräte, die vom Publikumsrat aufgrund der Direktwahl (nach § 30 Abs 1 Z 2 ORF-G) entsendet wurden, selbstverständlich genauso unabhängig wie alle anderen, aber halt doch dem konservativen Lager zuzurechnen. Das könnte sich ändern, wenn der Publikumsrat frei mit Mehrheitsbeschluss aus seiner Mitte jene Mitglieder auswählen könnte, die er in den Stiftungsrat entsendet.

Dass nun die nach dem VfGH-Erkenntnis notwendig gewordene Neuregelung über die Entsendung von Publikumsratsmitgliedern in den Stiftungsrat nicht im Initiativantrag enthalten ist, deutet darauf hin, dass zwischen den Koalitionsparteien noch keine Einigung darüber erzielt wurde (der Initiativantrag musste aber aufgrund des parlamentarischen Fahrplans schon eingebracht werden, wenn man ein Inkrafttreten mit 1. März noch ermöglichen will). Man kann also gespannt sein, ob es eine rechtzeitige Einigung in der Koalition gibt und die "Trägerrakete" damit zündet - und auch, ob sie noch zusätzlichen Ballast aufnehmen wird.

Update 02.04.2014: Der Nationalrat hat mittlerweile die Novelle beschlossen und in letzter Minute im Plenum zumindest noch die minimalst notwendigen Anpassung in § 30 Abs 1 Z 2 ORF-G vorgenommen. Das Gesetz soll - nach Zustimmung des Bundesrats - am 15. April 2014 in Kraft treten (Übersichtsseite auf der Parlaments-Website).

Friday, January 17, 2014

EuGH-Generalanwalt: Zugangsverpflichtung nach der Zugangsrichtlinie kann auch Verpflichtung umfassen, neue Anschlussleitungen zu legen

Kann eine nationale Telekom-Regulierungsbehörde einen Netzbetreiber mit beträchtlicher Marktmacht nach Art 8 und Art 12 der Zugangsrichtlinie 2002/19/EG (in der Fassung der RL 2009/140/EG) dazu verpflichten, auf Antrag konkurrierender Betreiber Anschlussleitungen von seiner Glasfaserinfrastruktur zum Endverbraucher zu verlegen, wenn dies nicht einen Grabungsaufwand von mehr als 30 Metern erfordert? Diese Frage - bei der es im Wesentlichen um die Auslegung des Begriffs "Zugang" nach Art 2 lit a der ZugangsRL geht - hat der EuGH auf Ersuchen eines dänischen Gerichts in der Rechtssache C-556/12 TDC A/S zu klären.

Gestern erstattete Generalanwalt Cruz Villalón dazu seine seine Schlussanträge - und gleich der zweite Absatz enthält eine Feststellung, der man schwer widersprechen kann: "nicht alle Vorschriften der Richtlinie 2002/19 [Zugangsrichtlinie] sind eindeutig."

Sein Ergebnis ist aber - vergleichsweise - eindeutig: die ZugangsRL ermöglicht auch derart weitgehende Verpflichtungen, die vom Betreiber die Herstellung von Anschlussleitungen verlangen. Der Regulierungsbehörde kommt bei der Auferlegung von Verpflichtungen auch ein weiter Handlungsspielraum zu, sie muss aber sicherstellen, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist.

Der Ausgangsfall
Die dänische Regulierungsbehörde hatte dem Incumbent TDC die strittige Verpflichtung auferlegt, nachdem TDC durch mehrere Zukäufe, zuletzt im Jahr 2009 eines größeren Powerline-Anbieters, seine Marktmacht noch ausgebaut hatte. TDC war dadurch (auch) zu einem Betreiber mit beträchtlicher Marktmacht "auf dem Markt für Glasfasernetze" geworden, wie der Generalanwalt etwas untechnisch schreibt. Die Details zum nationalen Verfahren bleiben in den Schlussanträgen etwas unklar, es geht offenbar um Verpflichtungen, die zwischen zwei Marktanalyserunden speziell nur für das Glasfasernetz auferlegt worden waren, betroffen ist der Markt 4 der Märkteempfehlung (Vorleistungsmarkt für den [physischen] Zugang zu Netzinfrastrukturen); ein Verfahren nach Art 7 RahmenRL hat damals offenbar nicht stattgefunden.*)

Aktive und passive Dimension des Zugangs
Der Generalanwalt hebt zunächst hervor, dass Zugang in Art 2 lit a der ZugangsRL abschließend definiert wird. Nach dem ersten Halbsatz der Definition besteht "Zugang" in der "ausschließliche[n] oder nicht ausschließliche[n] Bereitstellung von Einrichtungen und/oder Diensten für ein anderes Unternehmen unter bestimmten Bedingungen zur Erbringung von elektronischen Kommunikationsdiensten"[Hervorhebung durch den Generalanwalt]. Der Generalanwalt schließt daraus, "dass die Bereitstellung des Netzes etwas enthält, das als eine 'passive' und eine 'aktive' Dimension bezeichnet werden kann, Dimensionen, die offenkundig den Netzinhaber betreffen." Der Netzbetreiber muss einerseits passiv den Zugang dulden, hat also "eine Pflicht zur Enthaltung, die dahin geht, dass er andere Betreiber nicht am Zugang zu seinem Netz hindern darf". Andererseits hat er auch eine aktive Verpflichtung, "die in der Erbringung von Diensten besteht, die ausschließlich dazu dienen, den Zugang zu ermöglichen."

Auch in den Beispielen für den Zugang kommt die sowohl "aktive" wie "passive" Dimension des Zugangs zum Ausdruck ("aktiv" zB: Zugang "zu Diensten, die erforderlich sind, um Dienste über den Teilnehmeranschluss zu erbringen"). Die - wiederum nur beispielhafte - Aufzählung der verschiedenen Verpflichtungen, die nationale Regulierungsbehörden Betreibern auferlegen können, in Art 12 der RL enthält sowohl Verpflichtungen zu einem Tun wie zu einem Unterlassen. Dass in dieser Aufzählung eine Verpflichtung zur Verlegung der Anschlussleitung auf Antrag eines konkurrierenden Betreibers nicht enthalten ist, bedeutet nach Auffassung des Generalanwalts "keineswegs, dass es sich um eine Verpflichtung handelt, die mit den Befugnissen, die die Richtlinie 2002/19 den nationalen Regulierungsbehörden zuweist, unvereinbar ist. Im Gegenteil: Da die Zugangsverpflichtung durch ein Tun oder Unterlassen im Sinne von Art. 2 Buchst. a die 'Erbringung von elektronischen Kommunikationsdiensten' zum Gegenstand hat, kann der Schluss gezogen werden, dass die Verpflichtung in den Anwendungsbereich von Art. 8 und insbesondere von Art. 12 fällt."

Der Generalanwalt berücksichtigt auch den Umstand, "dass die in Rede stehende Erweiterung des Netzes keinesfalls einen Ausbau des vorhandenen Netzverlaufs bedeutet, sondern einzig und allein dort, wo bereits ein Netz vorhanden ist, die Verbindung zum Endnutzer ermöglicht. Es handelt sich mithin um einen Ausbau in einem sehr engen Sinne." Die Verpflichtung ziele nur darauf ab, die letzte Verbindung dort herzustellen, wo ein Netz bereits vorhanden ist.

Die zunächst aus dem Wortlaut der RL gewonnene Auslegung wird auch durch die Ziele der ZugangsRL bestärkt, die auch die Aufrechterhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen für sämtliche Marktteilnehmer umfassen. Die aufzuerlegenden Verpflichtungen bezwecken, "einem Betreiber mit beträchtlicher Marktmacht Lasten aufzuerlegen, damit durch seine Position die für das Funktionieren des Markts erforderlichen Bedingungen nicht geändert werden." In Absatz 29 der Schlussanträge heißt es:
Daher besteht das Ziel der Verpflichtungen zu einem Tun oder Unterlassen im Sinne des Art. 12 der Richtlinie 2002/19 letztendlich in der Gewährleistung von Wettbewerbsbedingungen für alle Betreiber. Der "Zugang", dessen Gewährleistung die Richtlinie regelt, ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Schaffung eines wettbewerbsfähigen Telekommunikationsmarkts.
Nach Ansicht des Generalanwalts sind daher Art 2 lit a sowie Art 8 und 12 der ZugangsRL dahin auszulegen, dass eine Verpflichtung zur Gewährleistung des Zugangs zu Telekommunikationsnetzen grundsätzlich und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch eine Verpflichtung beinhalten kann, auf Antrag eines konkurrierenden Betreibers eine Anschlussleitung mit einer Länge von höchstens 30 Metern zu verlegen.

Verhältnismäßigkeitsprüfung - Aufgabe des nationalen Gerichts
Art 12 der ZugangsRL verpflichtet die nationalen Regulierungsbehörden dazu, den Betreibern "angemessene" Verpflichtungen aufzuerlegen. Dabei müssen die Regulierungsbehörden einer Reihe von Faktoren, wie der technischen und wirtschaftlichen Tragfähigkeit der Verpflichtung, der Anfangsinvestition des Eigentümers oder der Notwendigkeit zur Sicherung des Wettbewerbs, Rechnung tragen. Die Würdigung dieser Faktoren hat aber, so der Generalanwalt, nicht der EuGH, sondern das nationale Gericht vorzunehmen, da dabei die tatsächlichen Umstände zu prüfen sind. Der EuGH könne nur Auslegungshinweise für die Verhältnismäßigkeitsprüfung geben.

Prämisse: Weiter Handlungsspielraum der Regulierungsbehörden
Der Generalanwalt verweist darauf, dass der EuGH im Urteil C-227/07 Kommission/Polen (im Blog dazu hier) die "weitgehenden Interventionsmöglichkeiten" der nationalen Regulierungsbehörden unterstrichen hat. Folglich müsse die Auslegung der Art 8 und 12 der ZugangsRL und konkret die dort vorgesehene Verhältnismäßigkeitskontrolle "von der Prämisse ausgehen, dass die nationalen Regulierungsbehörden über einen weiten Handlungsspielraum verfügen, wenn sie den auf dem Markt tätigen Betreibern und insbesondere den wichtigsten Betreibern Verpflichtungen auferlegen, die sie für erforderlich halten."

Das nationale Gericht müsse prüfen, ob die mit der Maßnahme verfolgten Ziele den in Art 8 RahmenRL und in der ZugangsRL genannten Zielen entsprechen (ua Sicherstellung des Zugangs der Betreiber zu den Telekommunikationsnetzen, Beibehaltung effektiven Wettbewerbs zwischen Betreibern und Qualität des dem Endnutzer angebotenen Dienstes).

Nächster Schritt ist die Prüfung 1) der Eignung (ist die Maßnahme objektiv zur Zielerreichnung geeignet?), 2) der Erforderlichkeit (gibt es weniger einschneidende Mittel zur Zielerreichung?) und 3) der Verhältnismäßigkeit im eigentlichen Sinne (Abwägung zwischen den betroffenen Gütern und Interessen). Das Gericht muss prüfen, ob die Regulierungsbehörde eine zutreffende Abwägung zwischen den durch die Maßnahme hervorgerufenen Belastungen und den durch sie erlangten Vorteilen vorgenommen hat. Als besonders wichtig erachtet der Generalanwalt dabei einerseits die Bewertung der Kosten der Investition und andererseits das Bestehen eines Tarifsystems, das dem Betreiber ermöglicht, trotz der ihm auferlegten Verpflichtung die Kosten der Investition zu decken. Diese Beurteilung ist "eindeutig Sache des vorlegenden Gerichts, das aber die hier gegebenen Auslegungshinweise berücksichtigen muss."

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*) Die konkrete Entscheidung der Regulierungsbehörde konnte ich - jedenfalls auf die Schnelle - auf dem Server der dänischen Regulierungsbehörde nicht finden (dort finden sich aber Informationen zur dritten Runde der Marktanalyse auf Markt 4 und zur vorangegangenen zweiten Runde); gefunden habe ich nur einen (dänischen) Medienbericht zur Entscheidung. Auch in der Datenbank der Kommission über die Art 7-Verfahren konnte ich nur die Verfahren zur zweiten und dritten Runde der Marktanalyse finden. In der dritten Runde (DK/2012/1339) hat die Regulierungsbehörde die hier interessierende Verpflichtung neuerlich vorgeschlagen; in der Stellungnahme der Kommission wird die Maßnahme so beschrieben:
With regard to access to the fibre loops DBA [nationale Regulierungsbehörde] imposes on TDC a specific obligation to construct, at the request of an alternative operator, a 'drop cable' (up to 30 m of length) connecting the end customer with the near-by fibre network. DBA considers that it is specific to the Danish market that the fibre distribution network has been already significantly rolled out and passes near-by individual households. Furthermore, unlike the copper or CaTV networks, the fibre connection is extended to the end customer only at the time of signing a contract for the provision of broadband services over fibre. TDC installs such drop cables whenever an end-customer signs a contract with TDC, however, absent the drop cable obligation, it does not install such connections, as a wholesale service, when the end customers are solicited by alternative operators. As a result, TDC may exploit a significant first mover advantage and may foreclose alternative operators from competing for an increasing number of potential customers. DBA proposes that the costs of the drop cable connections will be included in the regulated cost-base of TDC'snetwork and will not be reimbursed by way of a one-off payment. [...]
DBA considers that any less intrusive remedy, such as non-discrimination, transparency or specific migration rules would not be sufficient to address the competition problems identified (first mover advantages)
In den "Comments" der Kommission wird diese Maßnahme sehr vorsichtig gewürdigt, wobei besonders auf die notwendige Verhältnismäßigkeit hingewiesen wird:
The Commission points out that the obligation to roll out the drop cables at the request of competing operators may be considered necessary and appropriate only in the absence of any other less intrusive measure, such as, for example, unbundled access to the fibre already built by the SMP operator, or the inability of the alternative operators to self supply, which prima facie do not seem to be possible alternatives in the specific circumstances of this case.
The Commission therefore invites DBA to provide in its final measure additional elements showing that an obligation to provide the drop cables is justified and proportionate, and in particular why other less intrusive remedies fail to address TDC's first mover advantage in an equally effective manner. In this respect, the Commission invites DBA to consider a planning mechanism, which would require TDC to consult alternative operators on the installation of drop cables prior to TDC securing a contract with end customers in a certain area.

Tuesday, January 14, 2014

Wenn die Ex-Freundin über das Liebesleben mit dem Regierungschef schreibt: EGMR zu den Grenzen des "kiss and tell"

Dass Beziehungsgeschichten von Präsidenten die Presse interessieren, muss nicht nur Frankreichs Präsident Hollande zur Kenntnis nehmen - auch der österreichische Bundespräsident wehrte sich schon gerichtlich gegen ein - damals im Standard aufgeschriebenes - "bürgerliches Gerücht", das letztlich auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beschäftigte (4. Juni 2009, Standard Verlags GmbH gegen Österreich (Nr. 2)).

Keine Gerüchte, sondern unbestritten die Wahrheit über ihre neun Monate dauernde Beziehung mit dem damaligen finnischen Premierminister erzählte hingegen Susan Ruusunen in einem gemeinsam mit dem Verleger Kari Ojala verfassten Buch ("Die Braut des Premierministers"), das heute zu zwei Urteilen des EGMR führte, in denen der Gerichtshof die Grenzen des "Kiss and Tell"-Journalismus aufzeigt: Ojala und Etukeno Oy gegen Finnland (Appl no. 69939/10) und Ruusunen gegen Finnland (Appl. no. 73579/10). Kurz zusammengefasst: "kiss and tell" im engeren Wortsinn kann zulässig sein, "f**k and tell" aber nicht.

Zum Ausgangsfall
In ihrem Buch schilderte die Ex-Freundin des Premiers neun Monate ihres Lebens, in denen sie sich mit dem damals gerade erst geschiedenen Regierungschef verabredete und eine Liebesbeziehung aufnahm. "The book made references to their intimate interactions", heißt es im Urteil des EGMR etwas verschämt.

Der Staatsanwalt leitete Verfahren gegen die Autorin, den Verleger und den Verlag ein. Nach einem bis zum Obersten Gerichtshof Finnlands geführten Verfahren wurde der Verleger zu einer Geldstrafe von 60 Tagsätzen (insgesamt 840 Euro) und zum Ersatz der Kosten des Premierministers, der sich am Verfahren beteiligt hatte (in der Höhe von insgesamt 10.500 €) verurteilt, die Ex-Freundin des Premier zu 20 Tagsätzen (insgesamt 300 €) - am Verfahren gegen seine Ex-Freudin hatte sich der Premier nicht beteiligt. Der Verlag, gegen den sich das Strafverfahren auch richtete, wurde nicht verurteilt und erhielt Kostenersatz für das Verfahren zugesprochen (auch der Verlag beschwerte sich beim EGMR; im Urteil Ojala und Etukeno Oy wurde seine Beschwerde aber - mangels Opferstatus - als unzulässig beurteilt).

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs hielt fest, welche Teile des Buchs unzulässige Informationen zum Privatleben des Premiers enthielten:
The court enumerated in particular seven parts of the book which contained information about the start of the sex life in the beginning of their relationship, descriptions of their brief and passionate intimate moments as well as giving massages to each other, and accounts of their sexual intercourse.
Die Urteile des EGMR
Unstrittig war, dass durch die Urteile der finnischen Gerichte in das Recht der Autorin und des Verlegers auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK eingegriffen worden war. Der Gerichtshof hält fest, dass diese Eingriffe auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgten und einem legitimen Ziel, dem Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK, dienten. Näher zu prüfen war dann, ob dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die (in beiden Urteilen weitgehend idente) Begründung verweist zunächst auf die ständige Rechtsprechung, insbesondere auch zu den weiteren Schranken bei Kritik an Politikern und anderen "public figures". Unter bestimmten Umständen können aber auch Personen des öffentlichen Interesses legitimerweise auf den Schutz ihrer Privatsphäre vertrauen. In der Folge verweist der EGMR auf seine jüngere Rechtsprechung zu den relevanten Grundsätzen, wenn die Notwendigkeit eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit im Interesse des Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer zu beurteilen ist. In solchen Fällen ist es Aufgabe des EGMR zu verifizieren, dass die nationalen Gerichte einen fairen Ausgleich gefunden haben ("the Court may be required to verify whether the domestic authorities struck a fair balance when protecting two values guaranteed by the Convention which may come into conflict with each other in certain cases, namely, on the one hand, freedom of expression protected by Article 10 and, on the other, the right to respect for private life enshrined in Article 8").

Die dafür relevanten Kritierien hat der EGMR vor allem in den Urteilen der Großen Kammer Von Hannover Nr 2 (im Blog dazu hier) und Axel Springer AG (im Blog dazu hier) ausgearbeitet - ich nenne sie der Einfachkeit halber "Caroline-Kriterien":
  • Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse,
  • Bekanntheit der Person, über die berichtet wird und Gegenstand des Berichts,
  • früheres Verhalten der Person,
  • Methode der Informationsbeschaffung und Wahrheitsgehalte /Umstände, unter denen Fotos aufgenommen wurden,
  • Inhalt, Form und Folgewirkungen der Veröffentlichung,
  • Schwere der Sanktionen.
Details der Abwägung:

In der Folge nimmt der EGMR aber weder selbst eine systematische Abwägung dieser Kriterien vor, noch beschränkt er sich darauf, zu überprüfen, ob die nationalen Gerichte diese Abwägung vorgenommen haben; auch die Reihenfolge der Kriterien wird nicht "schulmäßig" abgehandelt. Die Begründung ist im Ergebnis wie auch in jedem einzelnen Argumentationsschritt zwar durchaus stimmig, aber in der Darstellung merkwürdig unsystematisch.

Zunächst hält der EGMR fest, dass es im Buch nicht nur um eine Beschreibung des Privatlebens der Autorin ging: "The book also described [..] a situation in which two different realities of present day Finnish society met: a wealthy party leader and Prime Minister on the one hand, and a single mother with everyday money problems on the other hand."

Wahrheit, guter Glaube/Methode der Informationsbeschaffung: Niemand hatte behauptet, dass das Buch Unwahrheiten enthalten hätte, und sogar der EGMR stellte fest, dass es bestritten, dass die Fakten im Buch "mitfühlend" dargestellt wurden ("in a compassionate manner") und der Stil weder provozierend noch übertrieben war. Es gab auch keinerlei Hinweise auf einen fehlenden guten Glauben der Autorin oder des Verlegers. Es gab auch keinen Hinweis, dass die Autorin zu den im Buch dargestellten Informationen auf illegitime Weise gekommen wäre, eher im Gegenteil: der Premier hatte auch der Verwendung des Titelfotos, auf dem er mit der Autorin abgebildet ist, zugestimmt.

Bekanntheit der Person: Es überrascht nicht, dass der Premierminister als Person öffentlichen Interesses beurteilt wurde.

Im nächsten Schritt wendet sich der EGMR dann der von den nationalen Gerichten vorgenommen Abwägung zu. Er hält fest, dass er zur "Notwendigkeit" der Beschränkung der Meinungsäußerung prüft, ob die vom nationalen Gericht dargelegten Gründe für die Verurteilung relevant und ausreichend sind, ob der richtige Ausgleich zwischen den Interessen gefunden wurde und die dem Art 10 EMRK entsprechenden Standards angewendet wurden.

Debatte von öffentlichem Interesse?
The Court considers that even though the emphasis in the book was on the girlfriend’s private life, it nevertheless contained elements of public interest. The Supreme Court considered, contrary to the Appeal Court, that the information about how and when the former Prime Minister had met the girlfriend and how quickly their relationship had developed had relevance to general public discussion as these issues raised the question of whether in this respect he had been dishonest and lacked judgment. The Supreme Court also found that the information concerning the great differences in the standard of living between the girlfriend and the former Prime Minister, his lifestyle, the data protection concerns and the protection of the highest political authorities in general had relevance to general public discussion. The Court agrees with this. From the point of view of the general public’s right to receive information about matters of public interest, there were thus justified grounds for publishing the book. (Hervorhebung hinzugefügt)
Früheres Verhalten des Betroffenen: Vieles, was im Buch über den Premier geschrieben wurde, war bereits weit bekannt. Der Premier hatte Informationen über seine Familie und sein Privatleben, auch über seine Beziehung zu seiner Freundin, offengelegt. Er hatte sogar selbst (im Jahr 2005) eine Autobiographie geschrieben (und, wie das nationale Erstgericht festgestellt hatte, auch gebloggt!). Informationen über sein Sexualleben und "intime Ereignisse" ("intimate events") hatte er aber noch nie offengelegt.

Abwägung durch das nationale Gericht anhand der Standards des Art 10 EMRK: Wie ich schon zum Urteil Von Hannover Nr 2 geschrieben habe, könnte eine Maxime des EGMR im Zusammenhang mit der Abwägung der gegenläufigen Interessen nach Art 10 und Art 8 EMRK auch lauten: "Not only must the balancing exercise be done; it must also be seen to be done." Der EGMR vergewissert sich, dass die nationalen Gerichte die Standards des Art 10 EMRK geprüft haben und das auch in ihren Urteilen erkennbar ist. Hier waren die finnischen Gerichte diesmal überzeugend:
56. [...] The domestic courts examined the case in conformity with principles embodied in Article 10 and the criteria laid down in the Court’s recent case-law. All domestic courts, and especially the Supreme Court, balanced in their reasoning the first applicant’s right to freedom of expression against the former Prime Minister’s right to reputation, by considering them from the point of view of “pressing social need” and proportionality. The Supreme Court also narrowed down the scope of the problematic passages in the book. It enumerated only certain parts of the book which it considered to contain information falling within the core area of the private life of the former Prime Minister (see paragraph 14 above). The Supreme Court found that such information and hints and their unauthorised publication was conducive of causing the former Prime Minister suffering and contempt. According to the Supreme Court, it was thus necessary to restrict the applicants’ freedom of expression in this respect in order to protect the former Prime Minister’s private life.
57. The Court finds this reasoning acceptable. The restrictions of the exercise of the applicants’ freedom of expression were established convincingly by the Supreme Court, taking into account the Court’s case-law. The Court recalls its recent case-law according to which the Court would require, in such circumstances, strong reasons to substitute its view for that of the domestic courts (see Von Hannover v. Germany (no. 2) [GC], cited above, § 107; and Axel Springer AG v. Germany [GC], cited above, § 88).
Schwere der Sanktionen: Der EGMR fand die - immerhin strafrechtlichen - Sanktionen angemessen; es war kein Eintrag ins Strafregister erfolgt und lediglich eine Geldstrafe ergangen. Interessant ist, dass der EGMR die Verurteilung des Verlegers zum Ersatz der Kosten des Premierministers für dessen Beteiligung am Strafverfahren auf der Seite des Staatsanwalts als nicht angemessen beurteilte. Dies allein sei aber noch kein ausreichender Grund für ein anderes Gesamtergebnis.

Die finnische Regierung hatte im Fall des Verlegers geltend gemacht, dass dieser bloß "insignificant damage" erlitten habe und die Beschwerde deshalb unzulässig sei. Bemerkenswert ist, dass der EGMR dazu ausdrücklich nicht Stellung nahm - was jedenfalls erwarten lässt, dass auch (geringe) strafrechtliche Verurteilungen vom EGMR allenfalls als "insignificant damage" beurteilt werden könnten, was zur Unzulässigkeit einer Beschwerde führen würde.

Ergebnis: Der EGMR kam damit - einstimmig - zum Ergebnis, dass die von den nationalen Gerichten herangezogeen Gründe relevant und ausreichend waren, um zu belegen, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Die nationalen Gerichte hatten einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Inteessen gefunden und ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten haben, sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK festzustellen war.

Schlussfolgerungen:
Wie schon oben geschrieben: die Urteile sind nicht das Ende von "kiss and tell". Der EGMR hatte zwar (sachverhaltsbezogen) nicht zu beurteilen, ob schon Berichte über Küsse mit dem Premierminister zu weit gehen, aber solange solche Küsse nicht allzu sinnlich und damit vielleicht schon als Bestandteile von "intimate events" anzusehen sind, scheint mir das Urteil ein "kiss and tell" im engeren Wortsinne durchaus offen zu lassen.

"How I Met Your Prime Minister" wäre nach dem Urteil zulässig, "How I Massaged Your Prime Minister" nicht.

PS: Wenn jemand aus aktuellem Anlass wissen möchte, was der französische Präsident jetzt an juristischen Optionen (nach französischem Recht) hat, möge Presidential affair: a close friend, a Closer enemy von Alexia Bedat auf Inforrm's Blog lesen.

Update: siehe dazu nun auch den Beitrag von Dominic Crossley auf Inforrm's Blog.

Monday, January 06, 2014

Einige Vorsätze für das neue Jahr ...

Wünsche zum Jahreswechsel habe ich diesmal ausgelassen - aber hier sind ein paar Vorsätze für das (nicht mehr ganz) neue Jahr (für bessere Lesbarkeit bitte jeweils draufklicken oder pdf-Version downloaden).







Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein wunderbares, gesundes und erfolgreiches 2014!