Thursday, October 13, 2011

EGMR: keine Verletzung des Art 10 EMRK, wenn die Post Tierschutz-Newsletter bei "Bitte keine Werbung"-Aufklebern nicht zustellt

Der Schweizer Verein gegen Tierfabriken (VgT) ist ein durchaus kämpferischer Verein, auch vor Gericht, insbesondere auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (siehe die Urteile vom 28.6.2001, VgT gegen Schweiz, und vom 30.6.2009, VgT gegen Schweiz (Nr. 2); siehe dazu im Blog hier).

Ein Urteil "VgT gegen Schweiz (Nr. 3)" wird es aber zumindest bis auf weiteres nicht geben - denn mit Entscheidung vom 20. September 2011 hat der EGMR nun eine Beschwerde des VgT als unzulässig zurückgewiesen (Entscheidung vom 20.09.2011, Verein gegen Tierfabriken gegen Schweiz (Appl. no. 48703/08; siehe auch die Pressemitteilung des EGMR).

Der VgT wollte schon 1999 seine VgT-Nachrichten in St. Gallen mit der Post als unadressierte Massensendung an alle Haushalte schicken. Die Post weigerte sich und wurde vom VgT geklagt - der Prozess ging bis vor das Schweizer Bundesgericht, das dem VgT recht gab (BGE 129 III 35; die Zustellung falle zwar nicht unter den Universaldienst, aber die Weigerung der Post, die Publikationen des VgT  zu transportieren, stellte unter den gegebenen Umständen - insbesondere der "marktmächtigen Position" der Post - einen Verstoß gegen die guten Sitten dar).

In der Folge nahm die Post die VgT-Nachrichten zwar zur Zustellung an, teilte dem VgT aber im April 2007 mit, dass sie diese Zeitschriften nicht mehr an Haushalte mit "Stopp-Kleber" ("keine Werbung")  zustellen werde, was sie bis dahin irrtümlich getan habe. Nach den Bedingungen für "PromoPost" würden nur "offizielle" Mailings in alle Briefkästen verteilt, "kommerzielle" Sendungen mit Werbecharakter aber nur an Briefkästen, die nicht mit dem "Stopp-Kleber" gekennzeichnet sind. Dagegen klagte der VgT wiederum, und das Verfahren ging wieder bis vor das Bundesgericht, endete aber mit einer Niederlage des VgT (Urteil vom 20.8.2008, 4A_144/2008). Das Bundesgericht führte in seinem Urteil unter anderem aus:
"Die Informationsfreiheit gewährt jeder Person das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten (Art. 16 Abs. 2 und Art. 17 BV). Auch der Beschwerdeführer anerkennt jedoch, dass sein Recht, seine Meinung zu verbreiten, die Grenze an der Freiheit der Informationsempfänger findet, die Annahme gewisser nicht adressierter Sendungen durch entsprechende Angaben auf den Briefkästen zu verweigern. Die Berücksichtigung der Erklärung 'Stopp - Keine Werbung' bei der Verteilung unadressierter Sendungen stellt daher grundsätzlich keinen Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit dar."
Der VgT erhob Beschwerde an den EGMR, da er sich durch diese Entscheidung in seinem Recht auf feie Meinungsäußerung und Nichtdiskriminierung verletzt erachtete. Der EGMR ließ offen, inwieweit den Staat eine Verantwortung für die Ablehnung der Zeitschriftenzustellung durch die Post treffe, da die Beschwerde aus anderen Gründen jedenfalls unzulässig war. Der EGMR prüft dann, ob eine Verletzung des Art. 10 EMRK darin liegen könnte, dass die Schweiz einer allfälligen positiven Verpflichtung, die Verteilung der Zeitschrift durch die Post auch an Briefkästen mit dem Stopp-Kleber nicht nachgekommen wäre.

Die Post und der VgT, so der EGMR,  hätten als private Geschäftspartner gehandelt. Die Bedingungen für die Verteilung von Veröffentlichungen seien in der PromoPost-Broschüre klar definiert worden und Teil das Angebots an jedermann, der Publikationen zustellen lassen wolle. Die Mitgliedstaaten hätten auch den Beurteilungsspielraum, um von einem zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnis, die Publikationen des VgT bei Anbringung eines "Stopp-Klebers" nicht zugestellt zu bekommen, ausgehen zu können. Da nur an Biriefkästen mit dem Stopp-Kleber nicht zugestellt wurde, sei die Auswirkung der Maßnahme auch begrenzt gewesen (auch wenn nach Angaben des VgT jeder zweite Briefkasten einen derartigen Aufkleber trägt). Ein Verbot oder eine Vorabkontrolle der Zeitschrift sei nie zur Diskussion gestanden. Ohne den Grundsatz zu verkennen, dass die Meinungsäußerungsfreiheit auch für Ideen gelte, die verletzen, schockieren oder beunruhigen, müsse doch dem wichtigen Interesse des Konsumentenschutzes und des Schutzes von unbewohnten Wohnungen Rechnung getragen werden. Der EGMR verweist dabei auf die Ausführungen des Schweizer Bundesgerichts, wonach die von der Post festgelegten Kriterien nach Beschwerden von Postkunden festgelegt worden waren und den Bedürfnissen der Verwender des Stopp-Klebers entsprechen.     Schließlich stützte sich der EGMR noch darauf, dass die nationalen Instanzen sorgfältig geprüft und ihre Entscheidungen überzeugend und detailliert begründet hatten. Eine Verletzung der positiven Verpflichtungen der Schweiz, die Meinungsäußerungsfreiheit des VgT zu schützen, war daher nicht festzustellen.

Zur Diskriminierung nach Art. 14 (in Verbindung mit Art. 10) EMRK schließt der EGMR nicht aus, dass grundsätzlich ein derartiges Problem entstehen könnte, da der VgT nicht als politische Partei (deren Mitteilungen an alle Haushalte verteilt würden) beurteilt wurde. Im konkreten Fall habe die unterschiedliche Behandlung aber ein legitimes Ziel (Schutz der Konsumenten und unbewohnter Wohnungen) verfolgt und sei im Hinblick auf die verfolgten Ziele verhältnismäßig gewesen. Wichtig sei auch, dass der VgT Zugang zu anderen Verteilsystemen gehabt habe und damit nicht vollständig seiner Möglichkeit beraubt worden sei, seine Ideen zu verbreiten. Auch im Hinblick auf die behauptete Diskriminierung betont der EGMR wiederum das privatrechtliche - gleichrangige - Verhältnis zwischen Post und VgT.

Zulässige Differenzierung bei Postversendung - wie wäre das im Internet?
Nur eine kurze Anmerkung, keine Vertiefung, zur möglichen Übertragbarkeit dieser Entscheidung auf Fragen der Netzneutralität: im Grundsatz handelt es sich meines Erachtens - jedenfalls "absenderseitig" - um eine durchaus vergleichbare Konstellation. Nehmen wir an, ein Contentanbieter (etwa ein Videoportal, vielleicht eine Rundfunkanstalt) will "bandbreitenintensiven" Content im Web bereitstellen und sieht sich ISPs gegenüber, die für die ungehinderte "Zustellung" an ihre Kunden ein (höheres) Entgelt verlangen (bzw. bei Nichtzahlung den Verkehr zur Website des Contentanbieters einschränken, etwa durch gezielte Drosselung der Übertragungsgeschwindigkeit für Downloads). Da wir es auch hier mit privaten Geschäftspartnern zu tun haben, wäre ein derartiges Verlangen - jedenfalls im Fall transparenter und konsistenter Bedingungen, die auch nichtdiskriminierend angewandt werden und sofern alternative "Zustellmöglichkeiten" verbleiben (auch wenn diese nicht gleich günstig sind) - wohl mit Art 10 EMRK vereinbar und noch kein unzulässiger Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Das heißt freilich nicht, dass solche Einschränkungen nicht am Maßstab des Wettbewerbsrechts zu prüfen wären (wie dies übrigens auch das Schweizer Bundesgericht getan hat), allenfalls nicht nur im Hinblick auf einen möglichen Marktmachtmissbrauch, sondern auch auf das Kartellverbot, wenn es etwa Hinweise auf abgestimmtes Verhalten von ISPs gäbe. Und ich beziehe mich hier im Übrigen nur auf das Verhältnis von klassischem Contentanbieter (im Postbeispiel der Versender von Publikationen) und ISPs (die "Post"), nicht auf die Frage, wie Einschränkungen der Netzneutralität im Verhältnis gegenüber den "Empfängern" zu beurteilen wären (wobei natürlich im Netz jeder in gewissem Umfang sowohl/als auch ist).
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PS: der EGMR hat vor kurzem auch den Fall Vellutini und Michel gegen Frankreich (Appl. no. 32820/09) entschieden und dabei (mit 6:1 Stimmen) in der Verurteilung von Polizeigewerkschaftern wegen politischer Beleidigung eines Bürgermeisters in einem Gewerkschaftsflugblatt eine Verletzung des Art 10 EMRK gesehen.
Außerdem hat der EGMR nun auch offiziell mitgeteilt, dass die Verweisung an die Große Kammer im Fall Mosley (dazu hier, hier und hier) abgelehnt wurde (ebenso in den Fällen Otegi Mondragon gegen Spanien - siehe dazu hier - und RTBF gegen Belgien - dazu hier).

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