Die News of the World hatte am 30. März 2008 auf der Titelseite einen Bericht über Max Mosley, bekannt als Formel 1-Boss, veröffentlicht, in dem ihm eine "Nazi-Orgie mit 5 Prostituierten" vorgeworfen wurde; die Story erstreckte sich über mehrere Seiten und enthielt Bilder, die Mosley bei sexuellen Aktivitäten zeigten; auf der Website der Zeitung wurde ein heimlich gedrehtes Video dieser Aktivitäten gezeigt. Mosley ging dagegen vor und erreichte eine Gerichtsentscheidung, in der eine Verletzung der Privatsphäre festgestellt wurde; er erhielt 60.000 GBP als Schadenersatz und 420.000 GBP als Kostenersatz. Richter Eady hielt unter anderem fest, dass es keinen Nazi-Bezug und daher auch kein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung gegeben habe.
Im Verfahren vor dem EGMR machte Mosley geltend, dass das Vereinigte Königreich seine positiven Verpflichtungen aus Art 8 EMRK verletzt habe, und zwar weil es keine Rechtspflicht vorgesehen habe, nach der die Zeitung ihn vor der Veröffentlichung verständigen hätte müssen, um ihm die Möglichkeit zu geben, eine einstweilige Verfügung zu erwirken und damit die Veröffentlichung von Material, das seine Privatsphäre verletzt, zu verhindern.
Strittig war auch, ob dem Beschwerdeführer überhaupt Opferstatus zukam und ob er die innerstaatlichen Rechtsmittel erschöpft hatte; beides wurde vom EGMR unter Hinweis auf die "unübliche Art der Beschwerde" bejaht (siehe Nr. 72/73 und 76-78 des Urteils).
In der Sache selbst betont der EGMR zunächst, dass Mosley im UK das Gerichtsverfahren gewonnen hat: "The Court recalls that Eady J in the High Court upheld the applicant’s complaint against the News of the World. ... The Court further notes that as far as the balancing act in the circumstances of the applicant’s particular case was concerned, the domestic court firmly found in favour of his right to respect for private life and ordered the payment to the applicant of substantial monetary compensation." Darauf folgt eine kompakte Darlegung der Grundsätze der Anwendung von Artikel 8 EMRK einerseits und Art 10 EMRK andererseits (wer sich schnell einen Überblick über den aktuellen Stand zu diesen Bestimmungen schaffen will: Nr. 106-117 des Urteils sind dafür sehr zu empfehlen).
Im Hinblick auf die verlangte "Vorverständigung" ("pre-notification") betont der EGMR, dass die Auswirkungen einer solchen Verständigungspflicht auf die Freiheit der Meinungsäußerung - wie begründet das Verlangen im konkreten Fall auch sein möge - sich nicht auf sensationsheischende Berichterstattung wie im Ausgangsfall beschränken ließe, sondern auch politische und ernsthafte investigative Berichterstattung erfassen würde. Auch existiere kein "common consensus" in den Konventions-Staaten, wonach es eine Verständigungspflicht geben solle - es scheint ganz im Gegenteil "common consensus" gegen die Verständigungspflicht zu bestehen.
Besondere Probleme bestünden nach Ansicht des EGMR vor allem mit der Effektivität einer Verständigungspflicht, denn diese müste einerseits eine - notwendigerweise weit auszulegende - Ausnahme bei öffentlichem Interesse zulassen und andererseits könnten nur hohe "punitive damages" Strafschadenersatzzahlungen oder Kriminalstrafen wirklich abschreckend wirken - was aber wiederum einen nicht hinzunehmenden chilling effect auf politischen und investigative Journalismus haben würde (siehe näher in den Nr. 126-129 des Urteils).
In den Schlussfolgerungen betont der EGMR nochmals seine massive Kritik am Verhalten der Zeitung ("the conduct of the newspaper in the applicant’s case is open to severe criticism.") und erkennt an, dass das Privatleben eine hochlukrative Commodity für bestimmte Mediensektoren geworden ist; zwar genießen auch diese Mediensektoren den Schutz des Art 10 EMRK, aber dieser Schutz müsse gegenüber den Anforderungen des Schutzes des Privatlebens nach Art 8 EMRK zurücktreten, wenn die Information privater und intimer Natur ist und es kein öffentliches Interesse an der Verbreitung gibt. Im Hinblick auf die Vorverständigungspflicht müsse man aber über die Fakten des jeweiligen Einzelfalls hinausschauen und die weitreichenden Auswirkungen berücksichtigen - wegen des "chilling effect", ernsthafter Bedenken über die Effektivität und dem breiten Beurteilungsspielraum stelle das Fehlen einer solchen Verständigungspflicht keinen Verstoß gegen Art 8 EMRK dar:
Update: interessante und differenzierte Anmerkungen aus britischer Sicht von Hugh Tomlinson, QC ("The press won the battle but the judgment confirms that it has lost the 'privacy war'.") und von Carl Gardner ("A system of voluntary prior notification for instance – with special legal immunity from any financial or other claim for journalists and media organisations who do give prior notice – would actually be much less chilling of free speech that our current 'publish and be damned' culture). Eine weitere Analyse stammt von Rónán Ó Fathaigh auf Strasbourg Observers. Siehe auch die Presseaussendung des EGMR und nunmehr (2.6.2011) Simon Möller auf Telemedicus."132. However, the Court has consistently emphasised the need to look beyond the facts of the present case and to consider the broader impact of a pre-notification requirement. The limited scope under Article 10 for restrictions on the freedom of the press to publish material which contributes to debate on matters of general public interest must be borne in mind. Thus, having regard to the chilling effect to which a pre-notification requirement risks giving rise, to the significant doubts as to the effectiveness of any pre-notification requirement and to the wide margin of appreciation in this area, the Court is of the view that Article 8 does not require a legally binding pre-notification requirement. Accordingly, the Court concludes that there has been no violation of Article 8 of the Convention by the absence of such a requirement in domestic law."
Weitere (zusammenfassende) Anmerkungen von mir zum Fall Mosley in diesem Blogpost!
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