Tuesday, March 29, 2011

"Im Namen des Gesetzes": einstweiliges Ausstrahlungsverbot als Verstoß gegen Art 10 EMRK

In seinem heutigen Urteil in der Sache RTBF gegen Belgien (Appl. no. 50084/86) zieht der EGMR enge Grenzen für die Zulässigkeit einstweiliger Verfügungen gegen die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen.

RTBF, die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt der französischsprachigen Gemeinschaft Belgiens, produzierte ein monatliches (Investigativ)Magazin über rechtliche Themen mit dem Titel "Au nom de la loi" (im Namen des Gesetzes); nach Zeitungsberichten über Beschwerden von Patienten eines Neurochirurgen berichtete das Magazin, ausgehend von diesen Beschwerden, allgemein über medizinische Risken und Aufklärungs- und Informationspflichten. Der Chirurg verweigerte ein Interview, führte aber ein ausführliches Gespräch mit den Journalisten. Vor der geplanten Ausstrahlung des Beitrags erwirkte der Chirurg eine einstweilige Verfügung gegen die Ausstrahlung, die in allen Instanzen bestätigt wurde; das Hauptsacheverfahren wurde ausgesetzt und bis zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung beim EGMR nicht fortgesetzt.

Der EGMR stellte zunächst eine Verletzung des Art 6 EMRK fest, da die Court de cassation den wesentlichen Inhalt des Rechtsmittels von RTBF aus übertriebenem Formalismus nicht zugelassen hatte.

Belgien wandte gegen die Zulässigkeit der Beschwerde ein, dass das Hauptsacheverfahren nicht fortgesetzt worden war und RTBF daher nicht alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft habe. Die einstweilige Verfügung sei eben nur einstweilig, die Richter im Hauptsacheverfahren seien an die EV nicht gebunden. Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht: Selbst wenn RTBF das Hauptsacheverfahren gewinnen würde, könnte der Schaden, der durch das einstweilige Ausstrahlungsverbot angerichtet worden sei, nicht mehr rückgängig gemacht werden. Unter diesen Umständen kann das Hauptsacheverfahren jedenfalls nicht als effektives innerstaatliches Rechtsmittel gegen das einstweilige Ausstrahlungsverbot angesehen werden. Wie der EGMR schon ausgesprochen hat, ist Information eine verderbliche Ware, und die Verzögerung der Veröffentlichung - auch nur für kurze Zeit - könnte ihr jeden Wert nehmen.

Dass das einstweilige Ausstrahlungsverbot einen Eingriff darstellte, war unstrittig. Nächster Schritt im Prüfungsschema war damit die Frage, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen sei. Artikel 10 EMRK verbiete als solches nicht, dass ein Eingriff auch vor einer Veröffentlichung (Ausstrahlung) erfolge; solche vorherigen Eingriffe bergen allerdings große Gefahren, sodass eine besonders genaue Prüfung durch den EGMR gefordert sei. Solche vorherigen Eingriffe müssten daher in einer besonders genauen gesetzlichen Regelung vorgesehen sein, die eine klare Abgrenzung der möglichen Verbote und eine effektive gerichtliche Kontrolle gegen möglichen Missbrauch sicherstellt.

In der Folge untersuchte der EGMR die belgische Rechtslage und Rechtsprechung und stellte ziemliche Unterschiede in der Rechtsprechung fest, sodass RTBF die möglichen Konsequenzen einer Ausstrahlung nicht angemessen ("á un degré raisonnable") habe vorhersehen können. Die unterschiedlichen Verfügungen seien "durch ihre Widersprüche charakterisiert", sogar wenn sie von verschiedenen Richtern desselben Gerichts getroffen wurden ("Ces différentes ordonnances se caractérisent par leur contradiction, même lorsqu'elles sont prises par des juges différents au sein de la même juridiction").

Gerichtliche Kontrolle der Verbreitung von Informationen durch welches Medium auch immer, auf der Grundlage einer Interessenabwägung, ist unvorstellbar ohne einen feststehenden Rahmen präziser Regelungen ("un contrôle judiciaire de la diffusion des informations par quelque support de presse que ce soit, opéré par le juge des référés, sur la base de la mise en balance des intérêts en conflit et dans le but d'aménager un équilibre entre ces intérêts, ne saurait se concevoir sans un cadre fixant des règles précises et spécifiques pour l'application d'une restriction préventive à la liberté d'expression.")

Der EGMR betont auch, dass die Ausstrahlung von Fernsehsendungen häufig angekündigt wird, sodass betroffene Personen vor Ausstrahlung noch eine richterliche Verfügung beantragen können; der bestehende Ermessensspielraum der (belgischen) Richter könne zu einer Kasuistik bei der Erlassung einstweiliger Verfügungen führen, die das Wesen der Informationsfreiheit gefährde. Insgesamt betrachtet biete die Rechtslage in Belgien nicht die von der EMRK verlangte Vorhersehbarkeit und damit auch nicht den notwendigen rechtsstaatlichen Schutz.

Da der EGMR schon das Vorliegen der erforderlichen gesetzlichen Grundlage für den Eingriff verneinte, brauchten die weiteren Kriterien (Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, legitimes Ziel, Verhältnismäßigkeit) nicht mehr geprüft werden.
Update 12.10.2011: die beantragte Verweisung an die Große Kammer wurde abgelehnt, das Urteil ist damit endgültig.

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