1. Netzneutralität heute - oder: Was es nicht gibt, kann auch nicht abgeschafft werden
Der Kommission wurde vielfach der Vorwurf gemacht, sie wolle mit ihrem Verordnungsvorschlag die Netzneutralität abschaffen. Mit Einschränkungen könnte man diesen Vorwurf allenfalls für Slowenien und die Niederlande gelten lassen, wo es derzeit gesetzliche Regelungen zum Schutz der Netzneutralität gibt (Niederlande, Slowenien, jeweils inoffizielle Übersetzungen; siehe für eine Analyse auch diesen Artikel von Thomas Lohninger) - für alle anderen Mitgliedstaaten aber trifft der Vorwurf nicht zu, denn derzeit ist die Netzneutralität weder unionsrechtlich verankert noch in den Mitgliedstaaten (außer eben den Niederlanden und Slowenien).
Ob die Netzneutralitäts-Regelungen in den Niederlanden und Slowenien mit den aktuellen unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar sind, ist übrigens zweifelhaft (die Kommission hat allerdings - wohl mehr aus politischen Überlegungen heraus - bisher kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet); nach einer Neuordnung durch die aktuell diskutierte Verordnung wäre das neu zu überprüfen. In allen anderen Mitgliedstaaten, so auch in Österreich, gibt es keine vergleichbaren Regeln, die derzeit Einschränkungen der Netzneutralität verhindern könnten.
Beschränkungen der Netzneutralität sind daher - im Rahmen des allgemeinen Vertragsrechts und bei Erfüllung der telekomrechtlichen Informationspflichten (für Österreich siehe insbesondere § 25 Abs 4 Z 2 lit b, c, und e TKG 2003) - möglich und kommen auch in der Praxis vor (zB VoIP-Blocking in Mobilnetzen, siehe diesen BEREC-Bericht). Zu mehr als anekdotischen Ansätzen für eine gesetzliche Regelung hat es in Österreich bisher nicht gereicht (mehr dazu hier im Blog; zu Grundfragen der Netzneutralität verweise ich auch gern auf einen älteren Vortrag von mir aus 2008 [Manuskript, Folien]; die auch heute noch aktuelle Unions-Rechtslage habe ich bei einem Vortrag 2011 einmal zusammengefasst [Manuskript, S. 4- 9]).
Erich Möchel schreibt in seinem Bericht über die Abstimmung im Europäischen Parlament, dass sich das Plenum gegen die Empfehlungen der EU-Kommission entschieden habe, "die 'Verkehrsregeln' auf dem europäischen Markt grundlegend zu ändern". Das ist im Ergebnis schon richtig, denn die Kommission wollte erstmals einen - wenn auch nicht extrem ausgeprägten - gesetzlichen Schutz der Netzneutralität verankern, und das Parlament hat sich dafür entschieden, diese "Verkehrsregeln" in die gleiche Richtung, aber eben noch etwas grundlegender zu ändern, als es die Kommission vorgeschlagen hatte.
2. Was hat das Europäische Parlament überhaupt beschlossen?
Die Abstimmung betraf einen Verordnungsvorschlag der Kommission, mit dem der Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste in vielen Punkten abgeändert werden soll. Der vom Parlament gefasste Beschluss ist eine "Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 3. April 2014 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zum europäischen Binnenmarkt der elektronischen Kommunikation und zur Verwirklichung des vernetzten Kontinents und zur Änderung der Richtlinien 2002/20/EG, 2002/21/EG und 2002/22/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 1211/2009 und (EU) Nr. 531/2012 (COM(2013)0627".
Wie der lange Namen schon andeutet, geht es dabei um weit mehr als die in den Medien diskutierten Fragen der Netzneutralität und des Roamings. Ich will mich hier trotzdem auf das Thema Netzneutralität beschränken, wer die gesamte Entschließung lesen will, kann dies in der aktuell verfügbaren vorläufigen Fassung hier [als Word-Dokument!] tun (Übersicht der am 03.04.2014 angenommenen Texte). Der Text geht über rund 180 Seiten, wirklich lesbar - soweit EU-Rechtstexte überhaupt lesbar sind - wird er zudem nur im direkten Vergleich mit dem Verordnungsvorschlag der Kommission. Zum gesamten Inhalt des Kommissionsvorschlags habe ich übrigens im Blog hier und hier mehr geschrieben (und auf der Basis eines Vorentwurfs habe ich in einem Vortrag auf dem Salzburger Telekom-Forum 2013 auch ein paar kritische Anmerkungen zu den Vorhaben der Kommission - insbesondere zur geplanten Oligopolisierungder Telekom-Branche auf europäischer Ebene - angebracht).
Die zentralen Bestimmungen betreffend die Netzneutralität sollen laut Parlament nun wie folgt lauten (Hervorhebung hinzugefügt):
[Neue Ziffer 12a) und geänderte Ziffer 15) in den Definitionen des Art 2 Abs 2]
12a) „Netzneutralität“ bezeichnet den Grundsatz, nach dem der gesamte Internetverkehr ohne Diskriminierung, Einschränkung oder Beeinträchtigung und unabhängig von Absender, Empfänger, Art, Inhalt, Gerät, Dienst oder Anwendung gleich behandelt wird;
15) „Spezialdienst“ ist ein elektronischer Kommunikationsdienst, der für spezielle Inhalte, Anwendungen oder andere Dienste oder eine Kombination dieser Angebote optimiert ist, über logisch getrennte Kapazitäten und mit strenger Zugangskontrolle erbracht wird, Funktionen anbietet, die durchgehend verbesserte Qualitätsmerkmale erfordern, und als Substitut für Internetzugangsdienst weder vermarktet wird noch genutzt werden kann;
Artikel 23 - Freiheit der Bereitstellung und Inanspruchnahme eines offenen Internetzugangs und angemessenes Verkehrsmanagement
[hier wurden offenbar zwei widersprüchliche Änderungsanträge angenommen, in der zweiten, ebenfalls in der Entschließung enthaltenen Fassung lautet die Überschrift "Freiheit der Bereitstellung und Inanspruchnahme eines offenen Internetzugangs und Verkehrsmanagement" - ohne das Wort "angemessenes"](1) Endnutzer haben das Recht, über ihren Internetzugangsdienst Informationen und Inhalte abzurufen und zu verbreiten, Anwendungen und Dienste zu nutzen und bereitzustellen und Endgeräte ihrer Wahl zu nutzen, unabhängig vom Standort des Endnutzers oder des Anbieters und von Standort, Ursprung oder Bestimmung der Dienste, Informationen oder Inhalte.
(2) Anbietern von Internetzugang, Anbietern von öffentlicher elektronischer Kommunikation und Anbietern von Inhalten, Anwendungen und Diensten steht es frei, Endnutzern Spezialdienste anzubieten. Solche Dienste dürfen nur angeboten werden, wenn die Netzwerkkapazitäten ausreichen, um sie zusätzlich zu Internetzugangsdiensten bereitzustellen, und sie die Verfügbarkeit oder Qualität der Internetzugangsdienste nicht beeinträchtigen. Anbieter von Internetzugang für Endnutzer diskriminieren nicht zwischen funktional gleichwertigen Diensten und Anwendungen.
[Absatz 3 entfällt]
(4) Endnutzern werden vollständige Informationen gemäß Artikel 20 Absatz 2, Artikel 21 Absatz 3 und Artikel 21a der Richtlinie 2002/22/EG bereitgestellt, darunter Informationen zu allen angewandten Verkehrsmanagementmaßnahmen, die den Zugang zu und die Verbreitung von Informationen, Inhalten, Anwendungen und Diensten gemäß den Absätzen 1 und 2 beeinträchtigen können.
(5) Anbieter von Internetzugangsdiensten und Endnutzer können vereinbaren, Datenvolumina oder ‑geschwindigkeiten für Internetzugangsdienste zu begrenzen. Anbieter von Internetzugangsdiensten dürfen das in Absatz 1 genannte Recht nicht durch Blockierung, Verlangsamung, Änderung, Verschlechterung oder Diskriminierung gegenüber bestimmten Inhalten, Anwendungen oder Diensten oder bestimmten Klassen davon beschränken, außer in den Fällen, in denen Verkehrsmanagementmaßnahmen erforderlich sind. Verkehrsmanagementmaßnahmen müssen transparent, nicht diskriminierend, verhältnismäßig und erforderlich sein,
a) um einem Gerichtsbeschluss nachzukommen;b) um die Integrität und Sicherheit des Netzes, der über dieses Netz erbrachten Dienste und der Endgeräte der Endnutzer zu wahren;
[Buchstabe c) entfällt]
d) um die Auswirkungen einer vorübergehenden und außergewöhnlichen Netzüberlastung zu verhindern oder zu verringern, sofern gleichwertige Verkehrsarten auch gleich behandelt werden.
Maßnahmen des Verkehrsmanagements werden nicht länger als notwendig aufrechterhalten.
Unbeschadet der Richtlinie 95/46/EG dürfen im Rahmen von Maßnahmen zum Verkehrsmanagement nur solche personenbezogenen Daten verarbeitet werden, die für die in diesem Absatz genannten Zwecke erforderlich und verhältnismäßig sind, und sie unterliegen auch der Richtlinie 2002/58/EG, insbesondere in Bezug auf die Achtung der Vertraulichkeit der Kommunikation.
Anbieter von Internetzugangsdiensten richten geeignete, klare, offene und effiziente Verfahren für die Bearbeitung von Beschwerden zu mutmaßlichen Verstößen gegen diesen Artikel ein. Solche Verfahren lassen das Recht der Endnutzer, die Angelegenheit an die nationale Regulierungsbehörde zu verweisen, unberührt.
Artikel 30a - Überwachung und DurchsetzungDaneben wurden auch die Erwägungsgründe (also der erklärende, nicht verbindliche Text) gegenüber dem Vorschlag der Kommission geändert - die wesentlichsten Passagen im Zusammenhang mit der Netzneutralität lauten in der Entschließung des Parlaments so:
[...]
(5) Die nationalen Regulierungsbehörden richten geeignete, klare, offene und effiziente Verfahren zum Umgang mit Beschwerden wegen mutmaßlicher Verstöße gegen Artikel 23 ein. Die nationalen Regulierungsbehörden reagieren ohne unnötige Verzögerungen auf Beschwerden.
(45) [...] Der Grundsatz der „Netzneutralität“ im offenen Internet bedeutet, dass der gesamte Datenverkehr ohne Diskriminierung, Einschränkung oder Beeinträchtigung und unabhängig von Absender, Empfänger, Art, Inhalt, Gerät, Dienst oder Anwendung gleich behandelt werden sollte. Laut der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. November 2011 zu dem Thema "Offenes Internet und Netzneutralität in Europa" ist der offene Charakter des Internets sogar eine zentrale Triebkraft für die Wettbewerbsfähigkeit, das Wirtschaftswachstum, die gesellschaftliche Entwicklung und Innovationen, wodurch ein herausragendes Entwicklungsniveau bei Online-Anwendungen, ‑Inhalten und ‑Diensten erreicht und auf diese Weise auch ein eindrucksvolles Wachstum von Angebot und Nachfrage bei Inhalten und Diensten bewirkt wurde, und hat in ganz entscheidendem Maße den freien Verkehr von Wissen, Ideen und Informationen beschleunigt, und zwar auch in Ländern, in denen unabhängige Medien nur eingeschränkt zugänglich sind. Der bisherige Rechtsrahmen zielt darauf ab, Nutzern die Möglichkeit zu geben, Informationen abzurufen und zu verbreiten bzw. Anwendungen und Dienste ihrer Wahl zu nutzen. Allerdings hat ein aktueller Bericht des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) über die Praxis im Datenverkehrsmanagement vom Mai 2012 und eine Studie im Auftrag der Exekutivagentur für Gesundheit und Verbraucher (EAHC) vom Dezember 2012 über das Funktionieren des Marktes für Internetzugang und ‑dienste aus Sicht der Verbraucher in der Europäischen Union gezeigt, dass sehr viele Nutzer von Datenverkehrsmanagementpraktiken betroffen sind, die bestimmte Anwendungen blockieren oder verlangsamen. Diesem Trend muss mit klaren Regeln auf Unionsebene entgegengewirkt werden, damit das Internet offen bleibt und es nicht zu einer Fragmentierung des Binnenmarkts durch individuelle Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten kommt.3. Wie geht es jetzt weiter?
[...]
(47) In einem offenen Internet sollten Anbieter von Internetzugangsdiensten innerhalb der im Rahmen von Internetzugangsdiensten vertraglich vereinbarten Grenzen für Datenvolumina und ‑übertragungsgeschwindigkeiten Inhalte, Anwendungen und Dienste oder bestimmte Kategorien dieser Leistungen außer im Falle einer begrenzten Anzahl von Verkehrsmanagementmaßnahmen weder blockieren noch verlangsamen, verschlechtern oder diskriminieren. Solche Maßnahmen sollten technisch notwendig, transparent, verhältnismäßig und nicht diskriminierend sein. Die Behebung einer Überlastung des Netzes sollte möglich sein, sofern die Netzüberlastung nur vorübergehend oder aufgrund außergewöhnlicher Umstände auftritt. Nationale Regulierungsbehörden sollten verlangen können, dass ein Anbieter nachweist, dass eine Gleichbehandlung des Datenverkehrs weitaus weniger effizient wäre.
[...]
(49) Es sollte möglich sein, der Nachfrage der Nutzer nach Diensten und Anwendungen mit einem höheren Niveau an zugesicherter Dienstqualität zu entsprechen. Solche Dienste können u. a. Fernsehen, Videokonferenzen sowie bestimmte Anwendungen im Gesundheitswesen umfassen. Die Nutzer sollten daher auch die Freiheit haben, mit Anbietern von Internetzugangsdiensten, Anbietern öffentlicher elektronischer Kommunikation und Anbietern von Inhalten, Anwendungen oder Diensten Vereinbarungen über die Bereitstellung von Spezialdiensten mit verbesserter Dienstqualität schließen zu können. Beim Abschluss derartiger Vereinbarungen sollte der Anbieter von Internetzugangsdiensten sicherstellen, dass die allgemeine Qualität des Internetzugangs durch den Dienst mit verbesserter Qualität nicht wesentlich beeinträchtigt wird. Darüber hinaus sollten Verkehrsmanagementmaßnahmen nicht so angewandt werden, dass in Wettbewerb stehende Dienste diskriminiert werden.
(50) Darüber hinaus besteht seitens der Inhalte‑, Anwendungs- und Diensteanbieter Nachfrage nach der Bereitstellung von Übertragungsdiensten auf der Grundlage flexibler Qualitätsparameter, einschließlich der unteren Prioritätsebenen für nicht zeitabhängigen Datenverkehr. Dass Inhalte‑, Anwendungs- und Diensteanbietern die Möglichkeit offensteht, eine solche flexible Dienstqualität mit Anbietern elektronischer Kommunikation auszuhandeln, kann auch für die Bereitstellung bestimmter Dienste wie der Maschine-Maschine-Kommunikation (M2M) erforderlich sein. Inhalte‑, Anwendungs- und Diensteanbieter und Anbieter elektronischer Kommunikation sollten deshalb weiterhin die Freiheit haben, Spezialdienst-Vereinbarungen über konkrete Dienstqualitätsniveaus zu schließen, sofern solche Vereinbarungen die Qualität des Internetzugangsdienstes nicht beeinträchtigen.
Die Gesetzgebungsprozesse in der Europäischen Union sind ziemlich unübersichtlich: im vorliegenden Fall kommt das sogenannte "ordentliche Gesetzgebungsverfahren" zur Anwendung, das in Art 294 AEUV geregelt ist (wer das lieber grafisch dargestellt hat, kann sich an einem Schaubild in der Wikipedia orientieren). Zu beachten ist aber, dass Art 294 AEUV nicht alle Details des praktischen Ablaufs abbildet, insbesondere ist darin keine Rede von den Ratsarbeitsgruppen und auch der sogenannte "Trilog" findet keine Erwähnung.
- Erste Lesung im Rat
Das Europäische Parlament hat nun seinen Standpunkt in erster Lesung festgelegt und übermittelt diesen dem Rat. Der Rat besteht aus den Ministern der Mitgliedstaaten und tagt in unterschiedlichen Formationen; für Telekomangelegenheiten ist die Formation Verkehr, Telekommunikation und Energie zuständig.
Natürlich erörtern die Minister den Standpunkt des Parlaments aber nicht ad hoc und freihändig, sondern lassen sich ihre Tagung von Ratsarbeitsgruppen (bestehend aus den fachlich zuständigen BeamtInnen der Mitgliedstaaten) und dann vom Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) vorbereiten. Erst wenn in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe des Rates die Standpunkte halbwegs klar sind und die Präsidentschaft absieht, dass man sinnvoller Weise die Minister damit beschäftigen könnte, kommt die Angelegenheit - im Weg des COREPER - in den Rat.
Beim aktuellen Gesetzgebungsvorhaben gab es im Rat bisher lediglich eine "erste Orientierungsaussprache" am 05.12.2013 (siehe auch die Presseaussendung), aber noch nicht einmal eine "allgemeine Ausrichtung". Nach der Planung der derzeitigen griechischen Präsidentschaft (siehe S. 55) wäre die allgemeine Ausrichtung ("general approach"), aber allenfalls auch bloß die Erörterung eines weiteren Fortschrittsberichts, erst für die Ratstagung am 6. Juni 2014 vorgesehen. Nun sind die Planungen der Präsidentschaft meist sogar optimistischer als der tatsächliche Fortschritt, insofern halte ich es also für sehr unwahrscheinlich, dass - über die Planung der Präsidentschaft hinaus - bereits auf der Tagung der Telekomminister im Rat am 6. Juni 2014 der Standpunkt des Rates festgelegt werden könnte; eine Frist für den Standpunkt des Rates in erster Lesung gibt es nicht. Nun gehen also erstmal die Tagungen der Ratsarbeitsgruppe weiter, nächster Termin dafür ist der 9. April. Ich würde den Standpunkt des Rates daher erst im Herbst dieses Jahres erwarten; es kann aber auch sein, dass im Hinblick auf den doch ambitionierten Zeithorizont des Parlaments beim Roaming (Abschaffung von Roamingentgelten bis 15.12.2015) auch Zeitdruck beim Rat entsteht, zumal die Betreiber möglichst bald mehr Sicherheit über die zu erwartenden Regeln haben wollen.
Theoretisch könnte der Rat den Standpunkt des Parlaments in erster Lesung zur Gänze billigen - damit wäre die Verordnung angenommen. Im vorliegenden Fall ist dies aber wirklich nur theoretisch: Das Parlament hat zwar in seinen Änderungen einige Bedenken, die auch aus dem Rat gekommen sind (etwa was die EU-weite Genehmigung und Sitzstaatskontrolle betrifft), aufgegriffen (zur österreichischen Position zum Verordnungsvorschlag siehe die EU-Jahresvorschau des BMVIT, S 13: "Österreich steht diesem Vorschlag [...] sehr kritisch bis ablehnend gegenüber"). Es hat aber auch einigen Wünschen der Telekomindustrie Rechnung getragen, die von den Mitgliedstaaten kaum mitgetragen werden können - allein die auf einen Streich erfolgte Erweiterung der Dauer aller Frequenznutzungsrechte "auf 25 Jahre ab dem Datum der Erteilung" (Artikel 8a nach der Entschließung des Parlaments) schließt eine Zustimmung des Rates zu diesem Text meines Erachtens aus. Eine zweite Lesung in Parlament und Rat wird daher jedenfalls erforderlich sein.
- Standpunkt der Kommission
Nächster Schritt ist dann der Standpunkt der Kommission zu den von Parlament und Rat vorgesehenen Änderungen. Auch die Kommission kann mit einigen der vom Parlament vorgeschlagenen Änderungen keinesfalls einverstanden sein, etwa mit der Verpflichtung der Kommission zur Erlassung von Durchführungsrechtsakten innerhalb eines Jahres (in Artikel 12 Abs 2). Im Standpunkt der Kommission wird in der Regel auch erkennbar, in welchen Punkten sich ein Kompromiss abzeichnen könnte und wo die Kommission hart bleiben möchte (was für eine allfällige dritte Lesung von Bedeutung ist). Die Kommission könnte den Vorschlag zudem jederzeit auch zurückziehen und damit das Gesetzgebungsverfahren zu einem abrupten Ende bringen.
Dass das Parlament den von seinem ersten Standpunkt abweichenden Standpunkt des Rates dann in zweiter Lesung ohne Weiteres billigt, ist schon aus Gründen der demonstrativen Selbstachtung des Parlaments auszuschließen, und zwar ganz egal wie das Parlament nach der Wahl zusammengesetzt sein wird. Also werden - in einem viel kürzeren Zeitraum, nämlich binnen einer Frist von drei Monaten - neuerlich Änderungsvorschläge des Parlaments beschlossen werden, die wiederum dem Rat vorgelegt werden.
- Trilog
Zuvor aber wird ein informeller Trilog (siehe zu diesem "secret lawmaking" zB hier auf eu obvserver) versucht werden, also eine Abstimmung zwischen Parlament, Rat und Kommission, um das Gesetzgebungsvorhaben in zweiter Lesung - mit übereinstimmenden Beschlüssen von Parlament und Rat - abschließen zu können. Denn für die praktische Arbeit hat sich das offizielle ordentliche Gesetzgebungsverfahren als viel zu schwerfällig erwiesen, sodass in den meisten Fällen eine "Abkürzung" versucht wird, in dem sich Parlament und Rat schon vor der Beschlussfassung in zweiter Lesung (manchmal auch vor der ersten Lesung) auf einen gemeinsamen Text verständigen. Das erfolgt außerhalb formeller Regeln und führt auch nicht immer zu einem Ergebnis - und manchmal gibt es zwar eine Einigung im Trilog, die dann aber vom Plenum des Parlaments abgelehnt wird. Im Telekombereich war dies beim letzten Reformpaket 2009 der Fall, wo die Diskussion um Netzsperren - ähnlich wie diesmal zur Netzneutralität - und die zivilgesellschaftliche Mobilmachung in letzter Minute dazu führte, dass das Plenum anders abstimmte, als die VertreterInnen des Parlaments im Trilog mit Rat und Kommission ausgemacht hatten (siehe dazu im Blog hier; siehe auch das Procedure File, das die dadurch eingetretene Verzögerung von etwa einem halben Jahr dokumentiert).
- Zweite Lesung im Rat
Nur wenn es im Trilog ein Agreement zwischen Rat und Parlament und Kommission gegeben hat, und wenn das Plenum des Parlaments diesem Agreement auch folgt, ist die zweite Lesung im Rat eine Formsache. Die Zustimmung der Kommission ist wesentlich, denn gegen den Standpunkt der Kommission kann der Rat in zweiter Lesung nur einstimmig beschließen, was extrem schwer erreichbar ist. Gab es keine Einigung im Trilog, dann ist die zweite Lesung im Rat gewissermaßen nur der Auftakt zum:
- Vermittlungsausschuss
Der Vermittlungsausschuss ist sozusagen der formelle Trilog, in dem von VertreterInnen von Rat, Parlament und Kommission binnen sechs Wochen ein gemeinsamer Text beschlossen werden muss - gelingt dies nicht, ist das Gesetzgebungsverfahren gescheitert.
Wie sich der Text in diesem noch langwierigen Verfahren weiterentwickeln wird, ist derzeit noch kaum abzusehen. Die Lobbyisten der Industrie ebenso wie jene der Zivilgesellschaft werden natürlich versuchen, alle weiteren Schritte - auf Rats-, Kommissions- und Parlamentsebene - zu beeinflussen. Die Abstimmung im Parlament ist dabei ein Zwischenbefund, das Endergebnis kann noch deutlich davon abweichen.
Nochmals zusammengefasst:
- Netzneutralität ist derzeit weder unionsrechtlich noch in den meisten Mitgliedstaaten (einschließlich Österreich) rechtlich gesichert.
- Der Beschluss des Parlaments sieht ein Diskriminierungsverbot vor, lässt aber gewisse Verkehrsmanagementmaßnahmen zu, ebenso wie Spezialdienste, die allerdings nur "über logisch getrennte Kapazitäten" angeboten werden dürfen.
- Ein endgültiger Beschluss der Verordnung durch Parlament und Rat ist realistisch nicht vor Ende 2014 zu erwarten, vielleicht auch erst Anfang 2015. Wie der Text dann aussehen wird, ist noch völlig offen.
PS: Bemerkenswert war die in den Tagen vor der Abstimmung im Parlament immer schriller und unprofessioneller werdende Kampagne von Kommissarin Kroes, die allen Kritikern vorwarf, sich von den Fakten zu entfernen (zB hier); offenbar lagen bei ihr und auch bei ihrem Team die Nerven blank, weil auch ein völliges Scheitern des Prestige-Vorhabens noch im Raum stand. Zuletzt wurde gegen die Änderungsvorschläge zugunsten der Netzneutralität auch noch ins Treffen gebracht, dass damit dem Kindesmissbrauch Vorschub geleistet würde (siehe auch die Rede von Kroes im Parlament), was tatsächlich zu Gegenstimmen der meisten Abgeordneten aus dem Vereinigten Königreich führte. Dies hat seinen Grund darin, dass nach den Änderungsvorschlägen Art 23 Abs 3 des Kommissionsvorschlags entfällt (dieser lautet: "Dieser Artikel lässt die Rechtsvorschriften der Union oder nationale Rechtsvorschriften über die Rechtmäßigkeit der übertragenen Informationen, Inhalte, Anwendungen oder Dienste unberührt.") und weiters nach Art 23 Abs 5 lit a Verkehrsmanagmentmaßnahmen zulässig sind, "um einem Gerichtsbeschluss nachzukommen", aber nicht mehr - ohne Gerichtsbeschluss - einfach auch "um schwere Verbrechen abzuwehren oder zu verhindern". Daraus hatte die britische Internet Watch Foundation geschlossen, dass ihre privaten Maßnahmen gegen illegale Inhalte in Gefahr sein könnten (siehe dazu auch den Blogbeitrag von Chris Marsden). Auch in Österreich gab es übrigens im Vorfeld der Abstimmung die eine oder andere eher skurrile Presseaussendung.
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