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Sunday, November 23, 2014

EuGH: dänisches Teleklagenævn ist kein vorlageberechtigtes Gericht (und was das für österreichische Verwaltungsgerichte bedeuten könnte)

Das Teleklagenævn ist eine unabhängige Telekommunikations-Beschwerdekommission in Dänemark, die aus sieben Mitgliedern besteht und über Beschwerden gegen Entscheidungen der dänischen Regulierungsbehörde entscheidet. Die Entscheidungen sind verbindlich, können aber vor Gericht angefochten werden.

Der dänische Universaldienstbetreiber TDC hatte eine Entscheidung der Regulierungsbehörde über die Finanzierung von zusätzlichen Universaldienstpflichten vor das Teleklagenævn gebracht. Das Teleklagenævn - das sich als unabhängiges Tribunal versteht und der Meinung war, damit auch ein vorlageberechtigtes Gericht im Sinne des Art 267 AEUV zu sein - richtete daraufhin eine Reihe von Fragen zur Auslegung der Universaldienstrichtlinie an den Europäischen Gerichtshof.

Der EuGH hat sich mit diesen Fragen in seinem Urteil vom 09.10.2014, C-222/13, TDC A/S, nicht mehr auseinandergesetzt, weil er zum Ergebnis kam, dass das Teleklagenævn gar kein vorlageberechtigtes Gericht ist - weil es das dafür notwendige Kriterium der Unabhängigkeit nicht erfüllt.

Für diesen Befund führt der EuGH zunächst ins Treffen, dass die Mitglieder des Teleklagenævn vom Minister ihres Amtes enthoben werden können; dabei kommen ausschließlich die allgemeinen Regeln des Verwaltungs- und des Arbeitsrechts zur Anwendung, nicht aber das für die Abberufung von Richtern vorgesehene Verfahren. Die Abberufung der Mitglieder des Teleklagenævn sei daher "offenkundig nicht mit besonderen Garantien verbunden, die es ermöglichen würden, jeden berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Einrichtung auszuräumen".

Ein Gericht, das seine Entscheidung vor einem anderen Gericht verteidigen muss, ist nicht unabhängig
Bemerkenswert ist aber der zweite Grund, weshalb laut EuGH - "im Übrigen" - das Teleklagenævn nicht unabhängig ist (Rn 37):
Wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, kann gegen Entscheidungen des Teleklagenævn im Übrigen Klage bei den ordentlichen Gerichten erhoben werden. Wird eine solche Klage erhoben, ist der Teleklagenævn Beklagter. Diese Beteiligung des Teleklagenævn an einem Verfahren, in dem seine eigene Entscheidung in Frage gestellt wird, bedeutet, dass er beim Erlass dieser Entscheidung im Verhältnis zu den beteiligten Interessen nicht die Eigenschaft eines Dritten hatte und nicht die erforderliche Unparteilichkeit besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil RTL Belgium, EU:C:2010:821, Rn. 47). Diese Organisation der Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung des Teleklagenævn macht somit deutlich, dass die Entscheidungen dieser Einrichtung keinen gerichtlichen Charakter aufweisen (vgl. entsprechend Beschluss MF 7, C‑49/13, EU:C:2013:767, Rn. 19). [Hervorhebung hinzugefügt]
Mit anderen Worten: dass das Teleklagenævn im gerichtlichen Verfahren dann Beklagter ist (in Österreich würden wir "belangte Behörde" sagen), führt dazu, dass es nicht mehr als unabhängig angesehen werden kann. Logisch: denn wenn das Teleklagenævn die eigene Entscheidung verteidigt, die von einer von zumindest zwei Parteien des Verfahrens angegriffen wird, stellt es sich gewissermaßen auf die Seite der anderen Verfahrenspartei(en) - eine Rolle, die einem unabhängigen Gericht eben nicht zukommt.

Und was hat das mit den österreichischen Verwaltungsgerichten zu tun?
Unmittelbar natürlich gar nichts. Interessant wird es nur vor dem Hintergrund des Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes vom 11.03.2014, B 40-41/2014-9, in dem der VfGH die vorläufige Ansicht vertritt, dass im Fall einer Beschwerde gegen ein Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes nach Art 144 B-VG das Verwaltungsgericht(!) seine Entscheidung zu verteidigen hätte - dass also die bis Ende 2013 gegenüber Verwaltungsbehörden bestehende Situation nun auch wieder gegenüber Verwaltungsgerichten herzustellen wäre. Wörtlich heißt es in diesem Prüfungsbeschluss:
Durch Art. 144 B-VG wird ein System geschaffen, das von der Annahme ausgeht, dass das jeweils belangte Gericht die von ihm erlassene Entscheidung im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof zu verteidigen hat. [Hervorhebung hinzugefügt]
Sollte der VfGH in seinem Gesetzesprüfungsverfahren diese Ansicht aufrechterhalten, dann würde den gerade erst geschaffenen erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten sozusagen ein Stück ihrer Unabhängigkeit - jener Unabhängigkeit, die der EuGH als Voraussetzung für ein Gericht im Sinne des Art 267 AEUV sieht - wieder genommen (wenn auch - vorerst? - nur im verfassungsgerichtlichen Verfahren).*)

Update 15.01.2015: Der VfGH hat nun tatsächlich mit Erkenntnis vom 29.11.2014, G 30-31/2014, § 83 Abs 1 VfGG mit Wirkung ab 30.06.2015 aufgehoben. Aus Respekt vor dem VfGH will ich das hier nicht weiter kommentieren.
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*) Als Gegenargument kann man natürlich anführen, dass der EuGH bisher Vorabentscheidungsersuchen der unabhängigen Verwaltungssenate und mancher unabhängiger Kollegialbehörden (zB Umweltsenat, Bundesvergabeamt, Schienen-Control-Kommission) angenommen hat und deren Unabhängigkeit dabei zumindest nicht aus dem Grund bezweifelt hat, dass sie bei Anfechtung ihrer Entscheidungen belangte Behörde vor dem VwGH und/oder VfGH waren - aber dieser Aspekt war, soweit ich das überblicke, dabei auch nicht thematisiert worden.

Friday, November 21, 2014

Netzneutralität in der EU wieder einmal in Gefahr? Nicht mehr und nicht weniger als bisher!

Reuters hat angefangen: EU leans towards broader net neutrality rules hieß es vor vier Tagen; dann kamen die anderen Medien, in denen zB von einer geplanten Verwässerung der Netzneutralität durch die EU die Rede war, und nun folgte auch EDRi (European Digital Rights), mit der Schlagzeile: Leaked documents show net neutrality may be in danger!

Was gibt es aber wirklich Neues? Meines Erachtens nicht allzu viel, wie gerade auch die beiden Dokumente zeigen, die EDRi "geleakt" hat (und die auch Grundlage für den Reuters-Bericht waren). Es handelt es sich um eine Note der italienischen Präsidentschaft an die Delegationen (in der Ratsarbeitsgruppe Telekommunikation und Informationsgesellschaft) mit Anhang, die der Vorbereitung der jüngsten Ratsarbeitsgruppensitzung dienten.

Um die Bedeutung solcher Dokumente einschätzen zu können, muss man ein wenig Verständnis für den Gesetzgebungsprozess auf Unionsebene aufbringen (siehe zum Verfahren gerade in dieser Sache im Blog schon hier [Punkt 3.]) und auch den Gesamtzusammenhang berücksichtigen.

Der Zusammenhang: es geht nicht nur um Netzneutralität, sondern um viel mehr: die Telekom-Binnenmarkt-Verordnung
Erstens geht es um das Rechtssetzungsvorhaben der Telekom-Binnenmarkt-Verordnung (oder "Vernetzer Kontinent"-Verordnung; oft auch im deutschen Sprachraum englisch als TSM- bzw "connected continent"-regulation bezeichnet). Der von der Kommission dazu im September 2013 vorgelegte Vorschlag (zu dem ich zB hier geschrieben habe) war ambitioniert, sowohl im Zeitplan als auch im Regelungsgegenstand - da war etwa eine EU-weite Genehmigung für "europäische Anbieter" genauso vorgesehen wie eine massive Stärkung der Rolle der Kommission bei der Frequenzverwaltung und der Wettbewerbsregulierung - und als eine Art Köder für das Europäische Parlament sollten auch weitere Einschnitte (aus Unternehmenssicht) bzw Verbesserungen (aus Kundensicht) beim Roaming dienen. Es war politisch durchaus schlau geplant - die Kommission rechnete damit, dass das Parlament die Roaming-Änderungen publikumswirksam noch vor der Europawahl beschließen wollte und dass im "Roaming-Windschatten" und dem durch die Wahlen gegebenen Zeitdruck das gesamte Vorhaben leichter durchgehen könnte.

Allerdings war das von der Kommission vorgelegte Gesamtpaket dann doch in manchen Punkten - vor allem bei der europaweiten Genehmigung und bei der Zentralisierung der Frequenzverwaltung - so überzogen, dass das geplante Denkmal für die scheidende Kommissarin Kroes schon vor der Errichtung langsam zu bröckeln begann. Im Rat - und das heißt zunächst einmal in der Ratsarbeitsgruppe, die auf Ebene der FachbeamtInnen der Mitgliedstaaten die Position des Rates vorbereitet - war der Widerstand ziemlich breit. Neben inhaltlichen Bedenken hing das sicher auch mit dem eher merkwürdigen rechtstechnischen Zugang zusammen: die Kommission hatte eine Verordnung vorgeschlagen, die quer zum bisherigen, überwiegend aus Richtlinien bestehenden Rechtsrahmen lag. Es war weder ein vollständiger "Review" des bestehenden Rechtsrahmens, noch eine bloße Ergänzung. Die Verordnung hätte damit auch massive Unschärfen in der Anwendung und Probleme bei der Anpassung der bestehenden nationalen Rechtsvorschriften mit sich gebracht. Das heißt also: ganz unabhängig vom Inhalt gab es durchaus gute Gründe, dem Verordnungsvorschlag mit Skepsis zu begegnen - und inhaltlich stand das Thema Netzneutralität nicht im Vordergrund der mitgliedstaatlichen Überlegungen.

Das Europäische Parlament, von den praktischen Problemen der Umsetzung bzw Anwendung in den Mitgliedstaaten doch deutlich weiter entfernt als die FachbeamtInnen in der Ratsarbeitsgruppe, hat sich mit dem Verordnungsvorschlag befasst und im April in erster Lesung eine legislative Entschließung getroffen. Dabei erzielten die Netzneutralitäts-Befürworter einen Erfolg, da ihre Positionen teilweise in die Entschließung Eingang gefunden haben (im Detail dazu im Blog hier [Punkt 2]). Abgesehen davon war aber die legislative Entschließung des Parlaments in manchen anderen Punkten so, dass ein Übernehmen dieser Position durch den Rat völlig ausgeschlossen ist.

Aktueller Stand des Gesetzgebungsverfahrens
Ich habe schon im April die Pläne der damaligen griechischen Ratspräsidentschaft, die "allgemeine Ausrichtung" (ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Annahme einer Position des Rates in erster Lesung) noch im Juni zu erreichen, für sehr unwahrscheinlich gehalten. Tatsächlich ist es bislang noch nicht zu dieser allgemeinen Ausrichtung gekommen, und die italienische Ratspräsidentschaft plant diesen Schritt nun für die kommende Ratstagung der Telekomminister am 27.11.2014.

In diesem Zusammenhang sind nun die "geleakten" Dokumente zu verstehen. In der Ratsarbeitsgruppe war der Fortschritt bisher ziemlich schleppend, von der Annahme einer Position zum gesamten Verordnungsvorschlag ist man weit entfernt. Das Scheitern des gesamten Rechtssetzungsvorhabens steht ernsthaft im Raum. Das ergab sich auch aus dem Arbeitspapier der italienischen Ratspräsidentschaft aus dem September, in dem versucht wurde, einen möglichen Ausweg aus den ins Stocken geratenen Verhandlungen in der Ratsarbeitsgruppe zu finden. Auch dieses Papier kam nicht besonders gut an, 16 Mitgliedstaaten, so hieß es informell, seien explizit dagegen gewesen, den Kommissionvorschlag überhaupt weiter zu behandeln, nur 6 ausdrücklich dafür (der Rest war indifferent). Die Themen Roaming und Netzneutralität waren damals noch nicht einmal intensiver beraten worden.

Nun steht also das Ende der italienischen Ratspräsidentschaft bevor, und sie bemüht sich natürlich, noch eine erkennbare Wegmarke zu setzen, bevor der nächste Mitgliedstaat sein Glück mit dem eher unglücklichen Verordnungsvorschlag versuchen darf. Daher auch der Versuch, mit der "geleakten" Note der Präsidentschaft wenigstens irgendeine Art von Kompromisspapier vorzulegen, das in möglichst offenen Worten gefasst ist und damit eine Schein-Übereinstimmung ermöglicht - so nach dem Motto: wenn nichts wirklich drinsteht, kann jeder Mitgliedstaat hineininterpretieren, was er für richtig hält. So ist das Scheitern wenigstens nicht ganz so offensichtlich dokumentiert.

Heute tagt der Ausschuss der Ständigen Vertreter I (COREPER I), die nächsthöhere Ebene über der Ratsarbeitsgruppe. Der COREPER dient der Vorbereitung der Ratstagungen und befasst sich - unter vielen anderen Angelegenheiten - auch mit dem "Conected Continent"-Verordnungsvorschlag (siehe die Tagesordnung). Für die Ratstagung am 27.11.2014 wird versucht, eine "allgemeine Ausrichtung" zu erreichen, die notgedrungen relativ vage bleiben wird, und meines Erachtens auch kaum zu Verhandlungen mit dem Parlament taugen kann. Netzneutralität ist dabei ein interessantes, aber nicht das sperrigste Thema.

Wie geht es weiter?
Das Interessanteste an der Note der Ratspräsidentschaft ist eigentlich der Vorspann, in dem das Umfeld skizziert wird, in dem das aktuelle - mehr oder weniger gescheiterte - Gesetzgebungsvorhaben zu sehen ist.
Die - mittlerweile neue - Kommission wird sich wohl kaum darin verbeißen, das geplante Denkmal für Neelie Kroes noch zu retten und die "Connected Continent"-Verordnung unbedingt durchzuboxen - sie hat mittlerweile signalisiert, den regulären "Review" des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste in Angriff nehmen zu wollen. Eine Konsultation ist für 2015 (wohl noch im ersten Quartal) geplant, legislative Vorschläge eher Anfang 2016. Auch andere legislative Instrumente (insbesondere die Frequenzentscheidung) stehen vor einem Review. Die Tendenz geht ganz offensichtlich dazu, den Verordnungsvorschlag als Ganzes jedenfalls zu vergessen, und gleich Nägeln mit Köpfen zu machen, also eine ernsthafte Reform des Rechtsrahmens in Angriff zu nehmen.

Im Hinblick auf den politischen und medialen Druck, den Neelie Kroes mit ihrem Parlamentarier-Zuckerl der weiteren Reduzierung bzw Abschaffung der Roamingentgelte aufgebaut hat, wird man aber wohl kaum umhin kommen, den Roaming-Aspekt auch vom Rat vorzuziehen. Insofern könnte vom gesamten Projekt der "Connected Continent"-Verordnung vielleicht auch bloß eine Art Novelle zur Roaming-Verordnung übrig bleiben.

Das Thema Netzneutralität hat allerdings deutlich an öffentlichem Interesse gewonnen, und so steht - darauf deutet die "geleakte" Note der Ratspräsidentschaft hin - auch zur Debatte, neben Roaming auch das Thema Netzneutralität gegenüber dem regulären "Review" des Rechtsrahmens vorzuziehen. Ich bin nicht sicher, ob man sich das aus Sicht der Netzneutraliätsbefürworter wirklich wünschen kann: denn wenn im Roamingbereich die Netzbetreiber weiter nachgeben müssen, dann steht als Ausgleich für sie natürlich eine möglichst weiche Netzneutralitätsregelung (zB im Sinne der von der italienischen Ratspräsidentschaft angedeuteten bloßen "Prinzipien") im Raum. Insofern besteht die von EDRi diagnostizierte Gefahr natürlich wirklich.

Wirklich neu ist das alles freilich nicht. Die aktuellen Dokumente bestätigen nur die bisherige Einschätzung des Gesetzgebungsprozesses. Dazu verweise ich nochmals auf mein Blogpost aus dem April, wo ich das Verfahren näher geschildert habe, und auf die Veranstaltung der Rundfunk und Telekom Regulierungs GmbH vom 14.10.2014, die auf der Website der RTR dokumentiert ist, wo ich mich ebenfalls mit den möglichen Szenarien befasst habe.

Tuesday, November 04, 2014

EGMR: Teilnehmer an Radiodiskussion muss nicht sorgfältiger sein als Journalisten

Den Medien kommt in einer demokratischen Gesellschaft die wichtige Aufgabe zu, die Allgemeinheit in allen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu informieren (zB EGMR Bladet Tromsø und Stensaas, Rn 59). Um diese Aufgabe als "public watchdog" (zuletzt etwa EGMR Stankiewicz ua, Rn 64) nicht übermäßig zu beeinträchtigen, sind Journalisten auch vor Sanktionen geschützt, wenn sich ihre Berichterstattung nachträglich als unwahr oder zumindest nicht beweisbar herausstellt, vorausgesetzt, sie haben in gutem Glauben über eine Angelegenheit von echtem öffentlichem Interesse ("genuine public interest") berichtet und dabei die professionelle journalistische Sorgfalt eingehalten (zB EGMR Kasabova, Rn 63).

Schützt journalistische Sorgfalt auch Nichtjournalisten?
Kann sich aber auch jemand auf die Wahrnehmung der journalistischen Sorgfalt berufen, der nicht als Journalist, sondern als "Privater" bzw als Experte an einer Radiodiskussion teilnimmt? Der EGMR hat das heute in seinem Urteil im Fall Braun gegen Polen (Appl. nr. 30162/10) bejaht (siehe auch die Pressemitteilung des EGMR).

Zum Ausgangsfall
Grzegorz Michal Braun ist Filmregisseur, Historiker und publiziert zum aktuellen Zeitgeschehen. In einer Diskussion am 27.04.2007 in einem regionalen Hörfunkprogramm sagte er, dass Professor J.M. unter den Informanten der geheimen politischen Polizei gewesen sei; das bestätige, dass jene, die sich am lautesten gegen die Lustration ["Säuberung" des öffentlichen Dienstes von politisch belasteten Personen nach dem Fall des kommunistischen Regimes] aussprächen, gute Gründe dafür hätten. Auch in einer Fernsehsendung am selben Tag bezeichnete Braun J.M. als Informanten.

J.M. klagte wegen übler Nachrede. Das Gericht stellte fest, dass J.M. ein anerkannter Sprachwissenschaftler und eine bekannte Persönlichkeit in Polen sei, der auch lange Jahre hindurch ein TV-Programm präsentiert habe. Zwischen 1975 und 1984 sei er fünfmal im Zusammenhang mit Passansuchen und bei Rückkehr von Auslandsreisen von Agenten des Geheimdienstes vorgeladen worden. 1978 sei er förmlich als geheimer Kollaborateur registriert worden; Archivunterlagen zeigten, dass zwei Aktenbände über J.M. existiert hätten, diese konnten aber nicht mehr aufgefunden werden. Eine eigens eingesetzte universitäre Kommission habe den Fall untersucht, sei aber nicht zueinheitlichen Schlussfolgerungen gekommen. Eine tatsächliche aktive Kollaboration mit dem Geheimdienst sei nicht erwiesen worden.

Braun wurde zu einer Entschädigung und zu einer öffentlichen Enschuldigung verurteilt. Das Urteil wurde auch vom Berufungsgericht und vom Obesten Gerichtshof (im Wesentlichen) bestätigt. Der Oberste Gerichtshof hielt fest, dass die Handlungen eines Journalisten nicht illegal wären, wenn sie im öffentlichen Interesse lägen und die notwendige Sorgfalt eingehalten worden wäre. Dieser Zugang könne aber nicht für Braun gelten, da sein Statement von privater Natur gewesen sei und er dabei nicht als Journalist anzusehen sei, der einer Pflicht zur Information der Öffentlichkeit nachgekommen wäre.

Das Urteil des EGMR
Es steht außer Zweifel, dass das Gerichtsverfahren einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art 10 EMRK darstellte, der auf Gesetz beruhte und einem legitimen Ziel, dem Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, diente. Zu beurteilen war daher nur mehr, ob der Eingriff auch in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war.

Der vom Beschwerdeführer (Braun) erhobene Vorwurf, J.M. sei ein geheimer Kollaborateur des Geheimdienstes in der kommunistischen Ära gewesen, wiegt schwer und ist jedenfalls ein Angriff auf dessen guten Ruf. Die nationalen Gerichte mussten daher eine Abwägung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung auf der einen und dem Schutz des guten Rufes auf der anderen Seite vornehmen (Rn 44).

Der Oberste Gerichtshof habe unterschieden zwischen dem an Journalisten anzulegenden Maßstab und jenem, der der an andere Teilnehmer einer öffentlichen Debatte anzulegen sei - ohne zu prüfen, ob eine derartige Unterscheidung mit Art 10 EMRK vereinbar sei (Rn 46). Während die polnische Regierung und die nationalen Gerichte fanden, dass Braun kein Journalist sei, brachte Braun selbst vor, jahrelang als Journalist gearbeitet zu haben. Der EGMR hält diese Unterscheidung hier für nicht relevant, denn die EMRK schützt alle Teilnehmer an einer Debatte über Angelegenheiten von legitimem öffentlichem Interesse (Rn 47):
However, in any case the question of whether the applicant was a journalist within the meaning of the domestic law, is not of particular relevance in the circumstances of the instant case. The Court reiterates that the Convention offers a protection to all participants in debates on matters of legitimate public concern.
Was sind nun die konkreten Umstände des Falles? Der Beschwerdeführer war Historiker und Autor von Presseberichten und TV-Sendungen; er nahm auch aktiv und öffentlich zum Zeitgeschehen Stellung. Zur Radiodiskussion war er als Experte zum diskutierten Thema eingeladen worden:
48. The Court notes that the applicant was a historian, the author of press articles and television programmes, and someone who actively and publicly commented on current affairs. The domestic courts acknowledged that the applicant was a publicist and that given his professional experience, and the fact that he was a “specialist” on the subject, he had been invited to participate in the radio programme on lustration. Nevertheless they found the applicant’s intervention to be of a private nature. The Court also notes that when assessing the legality of his actions the Supreme Court failed to address the question of whether the applicant had been engaged in public debate.
Der EGMR betont dann, dass er nicht zu beurteilen hat, ob der Beschwerdeführer sich auf ausreichend genaue und verlässliche Quellen stützen konnte; ebensowenig hat er zu entscheiden, ob die Tatsachengrundlage Art und Ausmaß der Vorwürfe gerechtfertigt hat - dies ist Aufgabe der nationalen Gerichte, die dabei die Maßstäbe der EMRK zu beachten haben (Rn 49). Nur der Umstand allein, dass der Bechwerdeführer nicht als Journalist beurteilt wurde, durfte daher nicht zur Folge haben, dass von ihm ein höheres Maß an (journalistischer) Sorgfalt verlangt wird als von Journalisten:
50. The Court considers that the applicant in the case under consideration had clearly been involved in a public debate on an important issue (see Vides Aizsardzības Klubs v. Latvia, no. 57829/00, § 42, 27 May 2004). Therefore the Court is unable to accept the domestic courts’ approach that required the applicant to prove the veracity of his allegations. It was not justified, in the light of the Court’s case-law and in the circumstances of the case, to require the applicant to fulfil a standard more demanding than that of due diligence only on the ground that the domestic law had not considered him a journalist.
Damit hatten die nationalen Gerichte den Beschwerdeführer im Ergebnis des Schutzes nach Art 10 EMRK beraubt. Auch dass die Sanktion vergleichsweise milde war, ändert nichts daran, dass die Gründe, auf die die nationalen Gerichte die Zulässigkeit des Eingriffs gestützt hatten, nicht relevant und ausreichend waren (Rn 51).

Schlussfolgerung
Der EGMR bestätigt mit diesem Urteil wieder einmal, dass eine starre Dichotomie - auf der einen Seite Journalisten, für die bestimmte Berufsprivilegien gelten, auf der anderen Seite alle anderen ("Nichtjournalisten"), für die das nicht der Fall ist - in Fragen der Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK nicht zielführend ist (siehe etwa für den Zugang zu öffentlichen Informationen schon das EGMR-Urteil Társaság a Szabadságjogokért [im Blog dazu hier] und daran anknüpfend meine Überlegungen zu einer weiteren Sicht hinsichtlich des Redaktionsgeheimnisses im Blog hier).

Nach österreichischem Medienrecht ist gemäß § 29 Mediengesetz (nur) "der Medieninhaber oder ein Medienmitarbeiter" wegen des Medieninhaltsdelikts der üblen Nachrede nach § 111 StGB "nicht nur bei erbrachtem Wahrheitsbeweis, sondern auch dann nicht zu bestrafen, wenn ein überwiegendes Interesse der öffentlichkeit an der Veröffentlichung bestanden hat und auch bei Aufwendung der gebotenen journalistischen Sorgfalt für ihn hinreichende Gründe vorgelegen sind, die Behauptung für wahr zu halten."

Diese gesetzliche Differenzierung zwischen Medieninhabern / Medienmitarbeitern einerseits und allen anderen - darunter zB bloß nebenberuflich Publizierende - andererseits (die sich nicht mit dem Verweis auf die Wahrnehmung der journalistischen Sorgfalt exkulpieren können) wurde in der juristischen Literatur schon öfters kritisiert; das heutige Urteil des EGMR bestätigt diese Kritik.

Bemerkenswerterweise kennt § 6 Abs 2 Z 2 lit b Mediengesetz für den medienrechtlichen Entschädigungsanspruch bei übler Nachrede keine Unterscheidung zwischen Journalisten und Nichtjournalisten; der Anspruch besteht generell nicht, wenn "ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Veröffentlichung bestanden hat und auch bei Aufwendung der gebotenen journalistischen Sorgfalt hinreichende Gründe vorgelegen sind, die Behauptung für wahr zu halten".

Für Personen, die als Expertinnen oder Experten an diversen TV- und Hörfunkdiskussionen teilnehmen, könnte  das Urteil eine gewisse Entspannung bringen: Ansprüchen aus übler Nachrede könnten sie auch entgegensetzen, dass sie zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen und in gutem Glauben und in Übereinstimmung mit einer journalistischen Berufsethik ("journalist ethics") gehandelt haben. Zur Beurteilung, ob diese "journalistischen Ethik" oder die gebotene journalistische Sorgfalt ("due diligence") eingehalten wurde, zieht der EGMR typischerweise verschiedene Faktoren heran (vor kurzem etwa im Urteil Stankiewicz ua): zum einen Art und Ausmaß der Vorwürfe, zum anderen die Bemühungen, die Vorwürfe entsprechend zu verifzieren; dabei kommt es auf die Verlässlichkleit der Quelle(n) an, auf die Intensität der Recherche und auf die Art der Präsentation im Medium (ob reißerisch einseitig oder ausgewogen); ähnliche Überlegungen werden auch bei einer Diskussionsteilnahme heranzuziehen sein.

Der Beschwerdeführer brachte übrigens auch vor (siehe Rn 33 des Urteils), dass er sich bei seinen Vorwürfen gegenüber J.M. auf Quellen gestützt habe, die er schützen müsse. Die interessante Frage, wie weit er sich - als "bloßer" Diskussionsteilnehmer - auch auf ein Recht auf Quellenschutz ("Redaktionsgeheimnis") stützen könnte, war aber nicht weiter Thema im Verfahren.

Update: siehe zu diesem Urteil auch einen Beitrag von Maximilian Steinbeis auf dem Verfassungsblog.
Update (04.12.2014): siehe nun auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.
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PS: ich bin jetzt einige Zeit lang nicht dazu gekommen, über andere aktuelle Artikel 10 EMRK-Fälle mehr zu schreiben; meine einschlägige Liste habe ich aber weitergeführt. Ich weiß nicht, ob ich zu einzelnen Fällen noch später mehr schreiben werde, hier nur ein knapper Verweis auf ausgewählte Urteile (und eine Entscheidung) der letzten zwei Monate, die ich für interessant halte:
  • 28.10.2014, Gough (Pressemitteilung des EGMR): der Fall des nackten Wanderers, in dem der EGMR die öffentliche Nacktheit zwar als Form der Meinnugsäußerung beurteilt, aber die Haft wegen der wiederholten Missachtung von Anordnungen, nicht nackt zu wandern, doch als zulässigen Eingriff beurteilt
  • 21.10.2014, Matúz; Entlassung eines Journalisten des ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens wegen eines Buchs über die von ihm erlebte Zensur in diesem Sender; wurde vom EGMR als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt.
  • 14.10.2014, Stankiewicz ua; zur beruflichen Sorgfalt von Journalisten, die in einem Artikel angedeutet hatten, dass ein hoher Beamter des Gesundheitsministeriums in korrupte Praktiken verwickelt sei.
  • 30.09.2014, Keena und Kennedy; mit dieser Entscheidung wies der EGMR die Beschwerde zweier Journalisten mehrheitlich als offensichtlich unbegründet zurück; es ging dabei um die Verfahrenskosten in einem Verfahren, in dem sie sich vor den nationalen Gerichten gegen eine Verletzung des Redaktionsgeheimnisses gewehrt hatten; dabei waren sie letztlich - bis auf die Kosten - erfolgreich gewesen, weil sie die angeforderten Unterlagen zerstört hatten und daher nicht mehr zur Herausgabe gezwungen werden konnten.
  • 16.09.2014, Karácsony ua und Szél ua (Pressemitteilung des EGMR) zu parlamentarischem Aktivismus: die Beschwerdeführer waren Abgeordnete des ungarischen Parlaments, die wegen Störung der parlamentarischen Verhandlungen durch das Hochhalten von Plakaten bzw Transparenten bestraft worden waren; der EGMR stellte jeweils einstimmig eine Verletzung von Art 10 und Art 13 EMRK fest (Update: diese beiden Fälle wurde mit Entscheidung vom 16.02.2015 an die Große Kammer verwiesen!).