Die Ausgangslage war hier allerdings umgekehrt, denn die nationalen Gerichte hatten der Axel Springer AG die Veröffentlichung von (mit Fotos des Betroffenen illustrierten) Berichten in der Bild-Zeitung über die Festnahme und spätere Verurteilung eines TV-Schauspielers wegen Kokainbesitz untersagt, sodass sich in diesem Fall der Medieninhaber vor dem EGMR wegen eines Eingriffs in das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK beschwerte. An sich, so hält der EGMR auch in diesem Urteil (Absatz 87) fest, sollte der Maßstab derselbe sein, egal ob der Fall nach Artikel 10 - durch den Medieninhaber - oder nach Art 8 - durch die von der Berichterstattung betroffene Person - vor den Gerichtshof gebracht wird.
"In cases such as the present one the Court considers that the outcome of the application should not, in principle, vary according to whether it has been lodged with the Court under Article 10 of the Convention by the publisher who has published the offending article or under Article 8 of the Convention by the person who was the subject of that article. Indeed, as a matter of principle these rights deserve equal respect [...]. Accordingly, the margin of appreciation should in principle be the same in both cases." (Im heutigen "Caroline Nr. 2"-Urteil findet sich in Absatz 106 weitgehend die selbe Formulierung, allerdings heißt es dort "in theory"[!] statt "in principle").In der Sache ging es um die identifizierende Berichterstattung über die Festnahme eines TV- und Filmschauspielers, der vor allem durch die Rolle des Kriminalhauptkommissars Balko in der Krimiserie "Balko" einigermaßen bekannt geworden war. Dieser Schauspieler war auf der Münchner Wies'n in der Öffentlichkeit wegen Kokainbesitzes festgenommen worden (man kann auch heute noch leicht Berichte darüber im Web finden, zB hier - wegen der Entscheidung des EGMR traue ich mich hier auch zu verlinken). Die Bild-Zeitung berichtete darüber mit einem Aufmacher auf der Titelseite und einem Bericht im Blattinneren, später - anlässlich des Urteils - auch über die Verurteilung (nach einem vollen Geständnis des Schauspielers). Der Betroffene erreichte vor dem Landgericht Hamburg ein weitgehendes Verbot der identifizierenden Berichterstattung, das vom Berufungsgericht aufrechterhalten wurde. Außerdem wurde die Axel Springer AG wegen des ersten Berichts zu einer Entschädigung von € 1.000 verurteilt, unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Identität des Betroffenen von der Staatsanwaltschaft - unzulässiger Weise - bestätigt worden war. Der BGH lehnte Rechtsmittel der Axel Springer AG ab, auch das BVerfG nahm Verfassungsbeschwerden nicht an.Schließlich wrude die Axel Springer AG vom LG Hamburg auch zu zwei Strafzahlungen von je € 5.000 verurteilt, weil sie zweimal gegen das Veröffentlichungsverbot verstoßen hatte.
Das Urteil der Großen Kammer legt natürlich auch in diesem Urteil zunächst ausführlich die grundlegende einschlägige EGMR-Rechtsprechung dar, insbesondere zu den relevanten Kriterien für die Abwägung zwischen den durch Artikel 10 bzw durch Artikel 8 EMRK geschützten Rechten; wesentlich ist hier neben dem Beitrag zur Debatte vom allgemeinem Interesse, der Bekanntheit der betroffenen Person und dem Gegenstand des Berichts, dem früheren Verhalten des Betroffenen gegenüber den Medien und der Methode, wie die Informationen erlangt wurden und sie zutreffend sind, auch die Schwere der verhängten Sanktionen.
Anders als im "Caroline Nr. 2"-Fall von heute (dazu hier) steigt der EGMR hier deutlich tiefer selbst in die Abwägung ein (was auch der Grund für die abweichende Meinung ist, die immerhin von fünf der 17 RichterInnen geteilt wird):
Zum Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse:
"The Court notes that the articles in question concern the arrest and conviction of the actor X, that is, public judicial facts that may be considered to present a degree of general interest. The public do, in principle, have an interest in being informed – and in being able to inform themselves – about criminal proceedings, whilst strictly observing the presumption of innocence [...]"
Zur Bekanntheit des Betroffenen:
Besonders bemerkenswert ist meines Erachtens die vom EGMR vorgenommene Umwertung der Bekanntheit des Schauspielers - hier setzt der EGMR seine Beurteilung an die Stelle jener der nationalen Gerichte und legitimiert dies vor allem auch durch die uneinheitliche Beurteilung der nationalen Gerichte (Hervorhebung hinzugefügt):
"The Court notes the substantially different conclusions reached by the national courts in assessing how well known X was. [...] The Court considers that it is, in principle, primarily for the domestic courts to assess how well known a person is, especially where that person is mainly known at national level. It notes in the present case that at the material time X was the main actor in a very popular detective series, in which he played the main character, Superintendent Y. The actor’s popularity was mainly due to that television series, of which, when the first article appeared, 103 episodes had been broadcast, the last 54 of which had starred X in the role of Superintendent Y. Accordingly, he was not, as the Regional Court appeared to suggest, a minor actor whose renown, despite a large number of appearances in films (more than 200 [...]), remained limited. It should also be noted in that connection that the Court of Appeal referred not only to the existence of X’s fan clubs, but also to the fact that his admirers could have been encouraged to imitate him by taking drugs, if the offence had not been committed out of public view [...]Zum Gegenstand der Berichterstattung:
Furthermore, whilst it can be said that the public does generally make a distinction between an actor and the character he or she plays, there may nonetheless be a close link between the popularity of the actor in question and his or her character where, as in the instant case, the actor is mainly known for that particular role. In the case of X, that role was, moreover, that of a police superintendent, whose mission was law enforcement and crime prevention. That fact was such as to increase the public’s interest in being informed of X’s arrest for a criminal offence. Having regard to those factors and to the terms employed by the domestic courts in assessing the degree to which X was known to the public, the Court considers that he was sufficiently well known to qualify as a public figure. That consideration thus reinforces the public’s interest in being informed of X’s arrest and of the criminal proceedings against him."
Der EGMR teilt die Ansicht der nationalen Gerichte, dass es zwar kein "petty offence" war, aber dennoch bloß von mittlerer oder minderer Schwere, das bei einer unbekannten Person nicht zu einer Berichterstattung geführt hätte.
Früheres Verhalten des Betroffenen:
Der EGMR hält fest, dass der Betroffene Details aus seinem Privatleben in früheren Interviews preisgegeben und damit aktiv das Rampenlicht gesucht hatte; seine berechtigte Erwartung, dass sein Privatleben wirksam geschützt sei, sei daher herabgesetzt.
Methode der Informationsbeschaffung und Richtigkeit der Information:
Eine Besonderheit in diesem Fall lag darin, dass sich der Inhalt der Veröffentlichung, und im Besonderen die Identität des Schauspielers, auf Informationen der Polizei und des Pressesprechers der Staatsanwaltschaft zurückführen ließen. (Hier gibt es eine interessante Nebenlinie: die Axel Springer AG hatte behauptet, dass es eine Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft gegeben habe, was allerdings unzutreffend war und ihr eine Rüge des Gerichts einbrachte: "The Court finds the attitude of the applicant company regrettable in this respect.")
Mit der Bestätigung der Staatsanwaltschaft lag jedenfalls eine ausreichende Tatsachengrundlage vor, die Richtigkeit der Information war auch nicht in Zweifel gezogen worden. Nach Ansicht des EGMR liegen auch keine Umstände vor, die darauf schließen ließen, dass die Bild keine Abwägung des Informationsinteresses mit dem Interesse des Betroffenen auf Schutz der Privatsphäre vorgenommen hätte. In Anbetracht der Art des Delikts, der Bekanntheit des Betroffenen, der Umstände der Verhaftung und der Richtigkeit der Information hatte die beschwerdeführende Medieninhaberin - nachdem eine Bestätigung der Information von der Staatsanwaltaschaft eingeholt worden war - keine ausreichend starken Gründe für die Annahme, dass sie die Anonymität des Betroffenen bewahren müsste. Der EGMR weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die von der Bild im ersten Artikel veröffentlichte Information vom Pressesprecher der Staatsanwaltschaft auch gegenüber anderen Zeitschriften und Fernsehkanälen bestätigt worden war. "In the Court’s view, it has not therefore been shown that the applicant company acted in bad faith when publishing the articles in question."
Art, Inhalt und Folgen der Artikel
"The Court observes that the first article merely related X’s arrest, the information obtained from W. and the legal assessment of the seriousness of the offence by a legal expert [...]. The second article only reported the sentence imposed by the court at the end of a public hearing and after X had confessed [...]. The articles did not therefore reveal details about X’s private life, but mainly concerned the circumstances of and events following his arrest [...]. They contained no disparaging expression or unsubstantiated allegation [...]. The fact that the first article contained certain expressions which, to all intents and purposes, were designed to attract the public’s attention cannot in itself raise an issue under the Court’s case-law [...].
Furthermore, the Government did not show that publication of the articles had resulted in serious consequences for X."
Schwere der Sanktionen: "Regarding, lastly, the severity of the sanctions imposed on the applicant company, the Court considers that, although these were lenient, they were capable of having a chilling effect on the applicant company. In any event, they were not justified in the light of the factors set out above."
Die Große Kammer des EGMR kam daher mit 12 zu 5 Stimmen zum Ergebnis, dass der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. "Despite the margin of appreciation enjoyed by the Contracting States, the Court considers that there is no reasonable relationship of proportionality between, on the one hand, the restrictions imposed by the national courts on the applicant company’s right to freedom of expression and, on the other hand, the legitimate aim pursued."
Richter López Guerra verfasste eine abweichende Meinung, der sich die RichterInnen Jungwiert, Jaeger, Villiger und Poalelungi anschlossen. Darin wird vor allem betont, dass es nicht die Aufgabe des EGMR sei, die Rolle eines nationalen Gerichts zu übernehmen und an dessen Stelle zu entscheiden, um nicht eine "vierte Instanz" zu werden. Die nationalen Gerichte hätten die geforderte Abwägung vorgenommen, auch das Berufungsgericht habe - "albeit indirectly" (meiner Ansicht nach ist das gerade die Schwachstelle!) - die vom EGMR entwickelten Kriterien angewandt, indem es ein Urteil des BGH als Referenzpunkt genommen habe, das wiederum die Kriterien des ersten Caroline-Urteisl des EGMR angewandt hatte.
Wie ich schon zum Caroline Nr. 2-Urteil angemerkt habe, geht es dem EGMR aber nicht nur darum, dass seine Kriterien angewandt werden, sondern diese Abwägung muss auch in der Entscheidung klar nachvollziehbar sein ("Not only must the balancing exercise be done; it must also be seen to be done"). Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall die materielle Endentscheidung nicht von einem Höchstgericht stammte und dass es in wesentlichen Fragen ("public figure"-Status des Schauspielers) auch divergente Beurteilungen gab, die vom EGMR - meines Erachtens zu Recht - nicht nachvollzogen werden konnten. Insofern teile ich die Bedenken der abweichenden Meinung, dass der EGMR hier zur vierten Instanz werde, gerade angesichts des heutigen "Caroline Nr. 2"-Urteils nicht.
Nachtrag:: Thomas Stadler kritisiert in seinem Blog-Beitrag die Annahme des EGMR, dass der Persönlichkeitsschutz deshalb abgeschwächt sein soll, weil Ermittlungsbehörden – möglicherweise in rechtswidriger Art und Weise – Informationen an die Presse geben. Weitere Beiträge zu diesem Urteil (und auch zum Urteil Caroline 2) von David Ziegelmayer auf LTO und Max Steinbeis im Verfassungsblog sowie von Rónán Ó Fathaigh bei den Strasbourg Observers.
Update 12.05.2012: Der EGMR hat nun auch eine deutschsprachige Fassung des Urteils (nichtamtliche Übersetzung durch die deutsche Bundesregierung) veröffentlicht.
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