Tuesday, January 17, 2012

EGMR: Verurteilung wegen Preisgabe der Identität eines Verbrechensopfers durch Nennung der (verwandten) Täter - keine Verletzung des Art 10 EMRK

Ein Fall brutaler Kindesmisshandlung erschütterte Ende 2003 - und dann nochmals anlässlich des Strafprozesses im Jahr 2005 - die österreichische Öffentlichkeit. Vater und Stiefmutter eines zum Zeitpunkt der Übergriffe etwa zehnjährigen Mädchens wurden schließlich wegen der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, der absichtlichen schweren Körperverletzung, des Quälens oder Vernachlässigens einer unmündigen Person und wegen des Vergehen der Freiheitsentziehung verurteilt (siehe zB hier; die sachlich-nüchterne Aufzählung der Tathandlungen im Beschluss des OGH vom 20.9.2005, mit dem die Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten zurückgewiesen wurde, kann einem näher gehen als als so manche reißerische Boulevard-Berichterstattung).

Die Kronenzeitung (und krone.at) berichtete über den Strafprozess unter Nennung des Vornamens des Opfers und der vollen Namen der Angeklagten und veröffentlichte nicht nur Bilder der Angeklagten, sondern auch des Opfers (eines hatte sie von der biologischen Mutter des Opfers bekommen, andere waren anlässlich von Krankenhausbesuchen mit der biologischen Mutter - die zu diesen Zeitpunkten nicht obsorgeberechtigt war - gemacht worden). Die Krone Verlag GmbH & Co KG wurde wegen Bekanntgabe der Identität des Opfers einer strafbaren Handlung nach § 7a Mediengesetz zu einer Entschädigung von (insgesamt) 8.000 € verurteilt, die Krone Multimedia GmbH & Co KG wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs  nach § 7 Mediengesetz zu einer Entschädigung von (insgesamt) 16.000 €.

Der Kurier veröffentlichte zwar keine Fotos des Opfers, aber deren Vornamen und die vollen Namen der Angeklagten, wodurch das Opfer identifiziert werden konnte. Die Medieninhaberin des Kurier wurde nach § 7a Mediengesetz zu einer Entschädigung von (insgesamt) 10.000 € verurteilt.

Die verurteilten Medieninhaber erhoben Beschwerde vor dem EGMR, da sie sich durch die Urteile der österreichischen Gerichte in ihrem Recht auf freie Meiungsäußerung nach Art 10 EMRK verletzt erachteten. Mit den heutigen Urteilen in den Rechtssachen Krone Verlag GmbH & Co KG und Krone Multimedia GmbH & Co KG gegen Österreich (Appl. no. 33497/07) und Kurier Zeitungsverlag und Druckerei GmbH gegen Österreich (Appl. no. 3401/07) stellte der EGMR jedoch (einstimmig) fest, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag.

Unstrittig war, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorlag, dass dieser durch das Gesetz vorgesehen war und dass er ein legitimes Ziel - den Schutz der guten Rufs oder der Rechte Dritter - verfolgte. Der EGMR hatte daher zu prüfen, ob der Eingriff auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Der EGMR betont (im Fall Krone, das Urteil im Fall Kurier ist in den wesentlichen Passagen praktisch wortgleich) zunächst, dass dem Konventionsstaat ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen zukommt (Recht der Medien zur Information der Öffentlichkeit über eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses nach Art 10 EMRK einerseits, positive Verpflichtung des Staates zum Schutz des Privatlebens des Opfers nach Art 8 EMRK andererseits). Die nationalen Gerichte hatten eine Abwägung durchgeführt und waren zum Ergebnis gekommen, dass die Medien auch ohne Preisgabe der Identität der Angeklagten - und damit (wegen des Familienverhältnisses) des Opfers - ausreichend detailliert hätten berichten können; dieses Ergebnis wird vom EGMR geteilt:
56.  In the present case, C was not a public figure, nor does the Court consider that she has entered the public scene by becoming the victim of a criminal offence which attracted considerable public attention.
57. The Court considers further that the articles at issue dealt with a matter of public concern, a crime involving violence against a child and sexual abuse committed within the family and could well give rise to a public debate on how the commission of similar crimes could be prevented. However, given that neither the offenders nor the victim were public figures or had previously entered the public sphere, it cannot be said that the knowledge of the identity of these persons was material for understanding the particulars of the case [...]. In this connection the Court notes that the applicant companies were not prevented from reporting on all the details concerning the case of C, only from revealing her identity and publishing a picture of her from which she could be recognised.
58. On the other hand there is no doubt that the identity of the victim of a crime deserves particular protection on account of his or her vulnerable position, all the more so in the instant case as C was a child at the time of the events and had become the victim of violence and sexual abuse. In this connection the Court refers to Article 31 of the Council of Europe Convention on the Protection of Children against Sexual Exploitation and Sexual Abuse, which obliges the Contracting States 'to take the necessary legislative or other measures to protect the rights and interests of victims, by protecting their ... identity and ... by taking measures in accordance with international law to prevent the public dissemination of any information that could lead to their identification.[...]
59. The applicant companies also claimed that in 2003 they had received the authorisation of D to report on the case in the manner they did including the publication of photos of C. However, the Court notes that the Austrian courts examined this issue carefully and, having heard several witnesses, concluded that at the time of the publication at issue no valid consent to the applicant companies’ publications had existed as in 2005 D had explicitly revoked her consent given in 2003. The Court considers that these findings do not appear unreasonable and in this connection reiterates that the fact that a person cooperated with the press on previous occasions cannot serve as an argument for depriving that person of protection against the publication by the press of photographs revealing his or her identity [...].
60. Lastly, the Court considers that the interference with the applicant companies’ right to impart information was proportionate. The applicant companies have not been subject to fines imposed in criminal proceedings but ordered to pay compensation for the injury caused to the person whose identity was revealed by them to the public. The amounts of compensation, EUR 8,000 as regards the first applicant company and EUR 12,000 as regards the second applicant company, relate to two articles published. Even though substantial, the amounts appear reasonable taking into account the length of the articles, their contents which, on account of the details given, constituted a particularly serious interference [...].
61. In sum, the Court finds that, by awarding C compensation for the disclosure of her identity as the victim of a crime, the respondent State acted within its margin of appreciation in assessing the need to protect her privacy. It is satisfied that the restriction on the applicant companies’ right to freedom of expression resulting from the Court of Appeal’s judgment of 28 June 2006 was supported by reasons that were relevant and sufficient, and was proportionate to the legitimate aims pursued.
62. There has accordingly been no violation of Article 10 of the Convention.

PS: letzte Woche hat der EGMR im Fall Standard Verlags GmbH gegen Österreich (Nr. 3) (Appl. no. 34702/07) eine Verletzung des Art 10 EMRK festgestellt (update: siehe im Blog nun hier); heute auch im Fall Lahtonen gegen Finnland (Appl. no. 29576/09); update 22.01.2012: siehe dazu nun hier.

3 comments :

hans|k said...

Sehe ich das jetzt richtig, dass der EGMR festgestellt hat, dass Krone und Kurier mit der Veröffentlichung der Opferidentität gegen das "Übereinkommen des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch" verstoßen haben?

hplehofer said...

@hans|k: rechtlich ist das nicht so: das Übereinkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Vertragsparteien - also die Staaten, die das Übereinkommen ratizfiziert haben - bindet. Österreich hat das am 25.10.2007 unterzeichnete Übereinkommen erst am 25.2.2011 ratifiziert, es ist damit am 1.6.2011 für Österreich in Kraft getreten (BGBl III 2011/96); laut Nationalratsbeschluss ist das Übereinkommen "im Sinne des Art. 50 Abs. 2 Z 3 B-VG durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen", also nicht self-executing.
Krone/Kurier konnten im vorliegenden Fall daher nicht nur deshalb nicht gegen das Übereinkommen verstoßen, weil es zum Vorfallszeitpunkt (Berichterstattung 2005) nicht in Kraft war, sondern auch weil sich das Übereinkommen nicht an die Medieninhaber richtet, sondern "nur" den Staat verpflichtet, die notwendigen gesetzlichen oder anderen Maßnahmen zum Schutz der Opfer zu ergreifen. Der EGMR hat das im Urteil vor allem wohl deshalb zitiert, weil sich daraus ein Hinweis auf die Standards ergibt, die von den Mitgliedstaaten (im konkreten auch den in Mediensachen tätigen Gerichten) in solchen Angelegenheiten eingehalten werden sollten.

hans|k said...

Vielen Dank für die ausführliche Information!