Das BVerfG geht dabei vom Ziel der Vielfaltssicherung aus, an dem von Verfassungs wegen (abgeleitet aus der Rundfunkfreiheit nach Art 5 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz) die institutionelle Ausgestaltung der Rundfunkanstalten auszurichten ist (RNr 35 des Urteils). Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks "mit einer binnenpluralistischen Struktur, bei welcher der Einfluss der in Betracht kommenden Kräfte unter maßgeblicher Einbeziehung der Zivilgesellschaft intern im Rahmen von Kollegialorganen vermittelt wird," ist weiterhin (! - das heißt, man hat überlegt und hält daran fest) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Wird ein solches binnenpluralistisches Modell gewählt, ist dann auch die nähere Ausgestaltung der Organisation am "Funktionsauftrag" zu orientieren (RNr 38). Wie aber macht man das? Das BVerfG gibt Anleitung (RNr 39):
Die Zusammensetzung der Kollegialorgane muss darauf ausgerichtet sein, Personen mit möglichst vielfältigen Perspektiven und Erfahrungshorizonten aus allen Bereichen des Gemeinwesens zusammenzuführen. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere darauf Bedacht zu nehmen, dass nicht vorrangig amtliche und sonstige Perspektiven und Sichtweisen, die für die staatlich-politische Willensbildung maßgeblich sind, abgebildet werden, sondern maßgeblich ein breites Band von Sichtweisen vielfältiger gesellschaftlicher Kräfte zum Tragen kommt [...]. Er hat dafür zu sorgen, dass bei der Bestellung der Mitglieder dieser Gremien möglichst unterschiedliche Gruppen und dabei neben großen, das öffentliche Leben bestimmende Verbänden untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen, die nicht ohne weiteres Medienzugang haben, Berücksichtigung finden und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven abgebildet werden. Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat sich so auch hinsichtlich der Zusammensetzung der Gremien an dem Auftrag auszurichten, Vielfalt über die Programmdiversifizierung des privaten Angebots hinaus zu gewährleisten [...]. Dabei hat der Gesetzgeber auch den Gleichstellungsauftrag hinsichtlich des Geschlechts aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zu beachten [...].Die Aufsichtsgremien, so das BVerfG dann, sind nicht Träger der Rundfunkfreiheit, sondern "Sachwalter des Interesses der Allgemeinheit":
Die Bestellung von Mitgliedern unter Anknüpfung an verschiedene gesellschaftliche Gruppen setzt diese nicht als Vertreter ihrer jeweiligen spezifischen Interessen ein, sondern dient nur als Mittel, Sachwalter der Allgemeinheit zu gewinnen, die unabhängig von den Staatsorganen sind, Erfahrungen aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen einbringen und dafür Sorge tragen, dass das Programm nicht einseitig einer Partei oder Gruppe, einer Interessengemeinschaft, einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung dient und in der Berichterstattung die Auffassungen der betroffenen Personen, Gruppen oder Stellen angemessen und fair berücksichtigt werden [...] [RNr 40]"Vertreterinnen und Vertretern aus dem staatlichen Bereich" darf dabei auch ein Anteil eingeräumt werden. Begründung: "Gerade diese Akteure sind in einer Demokratie in besonderer Weise auf eine offene, facettenreiche und kritische Berichterstattung angewiesen und sind zugleich prägender Bestandteil des demokratischen Gemeinwesens. Es entspricht ihrer politischen Gesamtverantwortung, dass sie auch selbst Aspekte des gemeinen Wohls in die Arbeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einbringen können." Das heißt, dass weiterhin, wenn auch "in eng zu begrenzemdem Umfang" Regierungsvertreter, "auch im Rang eines Ministerpräsidenten", weiterhin in die Organe berufen werden können. "Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, auch staatliche Vertreter zur Mitwirkung zu berufen." (RNr 41)
Dann versucht das BVerfG den Spagat mit der Staatsferne: der Stehsatz dazu, zitiert gleich zu Beginn der RNr 39, lautet: "Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als Ausfluss aus dem Gebot der Vielfaltsicherung zugleich dem Gebot der Staatsferne genügen, das das Vielfaltsgebot in spezifischer Hinsicht konkretisiert und mit näheren Konturen versieht". Das muss erst mal etwas relativiert werden, um es in der Realität handhabbar zu machen - also wird am Ende von RNr 40 die Rechtsprechung des BVerfG gewissermaßen authentisch interpretiert:
Entsprechend zielte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für die Zusammensetzung der Rundfunkanstalten nie darauf ab, dass diese in Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft als vollständig oder auch nur möglichst weitgehend staatsfrei auszugestalten sei, sondern setzte die Möglichkeit einer gewissen und auch nicht nur völlig marginalisierten Mitwirkung von staatlichen Vertretern in den Anstalten stets voraus [...].Was ist Staatsferne?
Das Gebot der Staatsferne, so das BVerfG, "bringt eine spezifische Form der Verantwortung zum Ausdruck: Der Staat hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zwar zu organisieren und dessen Auftrag durch eigene Anstalten zu erfüllen, muss dabei aber Sorge tragen, dass die Gestaltung des Programms und dessen konkrete Inhalte nicht in die allgemeine staatliche Aufgabenwahrnehmung eingebunden und als deren Teil ausgestaltet sind". Dann folgen (in RNr 46) wieder einige Sätze im typischen Bundesverfassungsgerichts-Stil:
Die Organisation der für die Erfüllung des Funktionsauftrags maßgeblichen Gremien ist demnach aus dem Prozess staatlich-repräsentativer Willensbildung herauszulösen und so zu gestalten, dass sich in ihr die Vielfalt des Gemeinwesens und gesellschaftliche Pluralität widerspiegeln. Der Staat trägt lediglich eine Strukturverantwortung und ist auf diese begrenzt. Sie ist nicht Teil oder Vorstufe inhaltlicher Vollverantwortung, sondern einer staatlichen Verantwortung für das konkrete Programm entgegengesetzt. Während die Erbringung staatlicher Dienstleistungen in der Regel dazu dient, eine von politisch rückgebundenen Amtsträgern inhaltlich verantwortete Qualität zu gewährleisten und dabei aus der Vielzahl der Möglichkeiten diejenigen zu bestimmen, die konkret zum gemeinen Wohl beitragen, geht es hier darum, die Berichterstattung in Distanz zu einer inhaltlichen Überformung durch die sonst zum Handeln berufenen Amtsträger zu gestalten. Qualität bildet sich insoweit nicht mittels staatlicher Aggregation divergierender Interessen, sondern im Offenhalten von Divergenz und Diversifikation. Das Gebot der Staatsferne zielt darauf, die Darstellung, Verarbeitung und Interpretation der Wirklichkeit in ihren vielfältigen Bewertungen sowie zahlreichen Brechungen des Gemeinwesens ins Werk zu setzen.Alles klar? Worauf also zielt das Gebot der Staatsferne? Natürlich darauf, "die Darstellung, Verarbeitung und Interpretation der Wirklichkeit in ihren vielfältigen Bewertungen sowie zahlreichen Brechungen des Gemeinwesens ins Werk zu setzen." Nein, darauf kann man von alleine nicht kommen, dazu braucht man wirklich das BVerfG. Aber keine Angst, auch das BVerfG weiß, dass man das nochmal übersetzen muss, und bietet auch eine Zusammenfassung an (RNr 48):
Zusammenfassend verlangt das Gebot der Staatsferne damit eine Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die - orientiert an dem Ziel der Vielfaltsicherung und zugleich zur Verhinderung der politischen Instrumentalisierung des Rundfunks - staatsfernen Mitgliedern in den Aufsichtsgremien einen bestimmenden Einfluss einräumt und die eventuelle Mitwirkung staatlicher und staatsnaher Mitglieder begrenzt.Ein Dritttel ist genug
Im zweiten Teil der Urteilsbegründung (ab RNr 50) wird es dann richtig praktisch, und das BVerfG dekretiert Vorgaben für den Gesetzgeber. Vor allem ist der "Einfluss der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten [...] konsequent zu begrenzen. Ihr Anteil darf ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen." Die Begründung für genau dieses Drittel ist eher sketchy: staatsnahe Mitglieder sollen keine Mehrheit haben, außerdem sind sie gut vernetzt ("Freundeskreise"), was man nie unterschätzen soll ("Dabei ist auch die Prägekraft staatlicher und dabei insbesondere parteipolitisch gegliederter Kommunikationsstrukturen zu berücksichtigen"), und so braucht es eben zwei nichtstaatliche Aufpasser für ein staatsnahes Mitglied: "Hinreichend ausgeschlossen ist ein bestimmender Einfluss der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in diesem Sinne nur dann, wenn jedem staatlichen und staatsnahen Mitglied mindestens zwei staatsferne Mitglieder gegenüberstehen". Das soll auch für die Ausschüsse gelten.
Wer ist staatlich oder staatsnah?
"Wer im Sinne dieser Anteilsbegrenzung als staatliches und staatsnahes Mitglied zu gelten hat, bestimmt sich nach einer funktionalen Betrachtungsweise," hält das BVerfG (in RNr 57) fest. Dazu zählen Mandatare in einem öffentlichen Amt, "soweit sie ein Interesse an der Instrumentalisierung des Rundfunks für ihre Zwecke der Machtgewinnung oder des Machterhalts haben können"; das BVerfG zählt dazu Mitglieder einer Regierung, politische Beamtinnen und Beamte, Wahlbeamte in Leitungsfunktion (insbesondere Bürgermeister oder Landräte) und Vertreter von Kommunen (RNr 59); auch als staatnsah zählen von politischen Parteien entsandte Mitglieder (RNr 61).
Personen, die von Hochschulen, aus der Richterschaft oder aus der funktionalen Selbstverwaltung wie etwa den Industrie- und Handelskammern in die Aufsichtsgremien entsandt werden, sind laut BVerfG aber nicht als staatliche oder staatsnahe Mitglieder anzusehen, weil sie typischerweise "nicht in staatlich-politischen Entscheidungszusammenhängen [stehen], die vom Wettbewerb um Amt und Mandat geprägt sind". (RNr 60)
Bei der Auswahl der staatlichen und staatsnahen Mitglieder ist dem Grundsatz der Vielfaltssicherung Rechnung zu tragen, wobei auch kleinere politische Strömungen einzubeziehen sind. "Gleichfalls hat der Gesetzgeber darauf zu achten, dass möglichst vielfältig weitere perspektivische Brechungen - etwa föderaler oder funktionaler Art - berücksichtigt werden" ("Brechungen" ist offenbar ein aktuelles Lieblingswort des BVerfG). Der Geschlechter-Gleichstellungsauftrag gilt natürlich auch hier.
Und wie bestellt man "staatsferne" Mitglieder der Aufsichsgremien?
Das BVerG hält fest, dass Regierungsmitglieder und sonstige Vertreterinnen und Vertreter der Exekutive auf die Auswahl und Bestellung der staatsfernen Mitglieder keinen bestimmenden Einfluss haben dürfen (RNr 66), und dass sich die Auswahl am Ziel der Vielfaltssicherung auszurichten hat (Rnr 68). Dann beschäftigt sich das BverfG sogar mit der Wirklichkeit, und das muss man wieder im Originaltext lesen (RNr 70):
Durch Vertreterinnen und Vertreter einzelner Gruppen kann freilich kein in jeder Hinsicht wirklichkeitsgerechtes Abbild des Gemeinwesens erstellt werden. Gesellschaftliche Wirklichkeit ist in ungeordneter Weise fragmentiert, manifestiert sich in ungleichzeitigen Erscheinungsformen und findet nur teilweise in verfestigten Strukturen Niederschlag, die Anknüpfung für die Mitwirkung in einer Rundfunkanstalt sein können. Insbesondere sind die Interessen der Allgemeinheit nicht mit der Summe der verbandlich organisierten Interessen identisch. Es gibt vielmehr Interessen, die verbandlich gar nicht oder nur schwer organisierbar sind. Verbänderepräsentation ist aus diesem Grund immer nur ein unvollkommenes Mittel zur Sicherung allgemeiner Interessen [...]Und was tun, wenn sich die gesellschaftliche Wirklichkeit in ungleichzeitigen Erscheidungsformen manifestiert? Das soll sich der Gesetzgeber überlegen - denn der hat dabei "einen weiten Gestaltungsfreiraum":
Maßgeblich ist allein, dass die gewählte Zusammensetzung erkennbar auf Vielfaltsicherung angelegt und dabei geeignet ist, die Rundfunkfreiheit zu wahren, dass sie willkürfrei sowie unter Beachtung weiterer Vorgaben des Grundgesetzes wie derjenigen des Art. 3 Abs. 2 GG [Geschlechter-Gleichstelung] erfolgt [...]. Die gewählten Auswahlkriterien müssen dabei gleichmäßig angewandt und dürfen nicht ohne sachlichen Grund verlassen werden [...].Gegen Versteinerung und Dominanz von Mehrheitsperspektiven
Wirklich bemerkenswert ist meines Erachtens - abgesehen von der konsequenten Betonung der Geschlechter-Gleichstellung, die aufgrund der Wiederholung durchaus mehr scheint als eine bloße Pflichtübung - die Ablehnung der "Dominanz von Mehrheitsperspektiven", die das BVerfG im Ergebnis fast dahin führt, so etwas wie Diversität in den Aufsichtsgremien zu verlangen (ohne das freilich so zu nennen). Das BVerfG erkennt das strukturelle Risiko, dass für gesellschaftliche Bereiche "nur die konventionellen Mehrheitsperspektiven der durchsetzungsstärksten Verbände Berücksichtigung finden und kleinere Verbände mit anderen Sichtweisen kaum zum Zuge kommen können". Neuere wichtig werdende gesellschaftliche Entwicklungen könnten ebenfalls nicht erfasst werden (RNr 73). Wie man damit konkret umgehen soll, sagt das BVerfG nicht, sondern verweist wieder auf den Gesetzgeber, der "eine funktionsgerechte Ausgestaltung der Rundfunkanstalten ins Werk zu setzen und hierbei insbesondere auch das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Flexibilität zum Ausgleich zu bringen" hat.
"Persönliche Staatsferne" auch für entsandte Mitgleider gesellschaftlicher Gruppen
Für die staatsfernen Mitglieder müssen auch Inkompatibilitätsregelungen geschaffen werden, damit die "Staatsferne in persönlicher Hinsicht gewährleistet" bleibt (RNr 75). Einfache Parteimitglieder sind ok, wer in einer Partei aber "in herausgehobener Funktion Verantwortung trägt", ist nicht mehr staatsfern genug (RNr 78).
Weisungsfreiheit
Alle Mitglieder der Aufsichtsgremien brauchen nach Ansicht des BVerfG eine hinreichende Absicherung ihrer persönlichen Rechtsstellung zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit bei der Aufgabenwahrnehmung - sie müssen daher weisungsfrei gestellt sein und dürfen nur aus wichtigem Grund abberufen werden (RNr 80-781).
Transparenz
Schließlich verlangt das BVerfG vom Gesetzgeber auch Regelungen, "die für die Arbeit der Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks jedenfalls ein Mindestmaß an Transparenz gewährleisten" (RNr 82). Transparenz kann "heilsame Vorwirkung gegen funktionswidrige Absprachen und Einflussnahmen entfalten und helfen, Tendenzen von Machtmissbrauch oder Vereinnahmungen durch Partikularinteressen frühzeitig entgegenzuwirken." (RNr 84) Das BVerfG lässt offen, ob für die Arbeit in den Gremien der Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit gelten soll. Zu einem Mindestmaß an Transparenz gehört es jedoch, "dass die Organisationsstrukturen, die Zusammensetzung der Gremien und Ausschüsse sowie die anstehenden Tagesordnungen ohne weiteres in Erfahrung gebracht werden können und dass zumindest dem Grundsatz nach die Sitzungsprotokolle zeitnah zugänglich sind oder sonst die Öffentlichkeit über Gegenstand und Ergebnisse der Beratungen in substantieller Weise unterrichtet wird." (RNr 85)
Abweichende Meinung des Richters Paulus
Auf die Anwendung dieser Grundsätze durch das BVerfG im Detail auf die geprüften Rechtsnormen gehe ich hier nicht mehr ein; hinzuweisen ist aber auf die abweichende Meinung des Richters Paulus, der Vertreter der Exekutive von Bund und Ländern generell von Gremien des ZDF ausschließen würde.
Update 26.03.2014: in der ersten Fassung des Urteils, die gestern vom BVerfG zur Verfügung gestellt wurde, waren die Absätze von 1-131 nummeriert, nunmehr liegt eine geänderte Fassung vor, in der die Absatznummerierung geändert wurde (bei den Normzitaten zu Beginn - ab Absatz 12 - wurden 4 weitere Absätze durchnummeriert); ich habe die Zitate nun an die aktuelle Fassung angepasst.
Update: ob die ORF-Gremien den "Staatsferne"-Test des BVerfG bestehen würden, habe ich mir hier angeschaut.
No comments :
Post a Comment