Monday, January 21, 2013

Die Roaming-Realität nach Rübig (vom Standard präsentiert)

Vergangenen Samstag brachte der Standard zum Schwerpunkt "Direkte Demokratie" auch einen Beitrag von Thomas Mayer mit der Überschrift: "Wie eine EU-Bürgerin die Roaminggebühren kappte". Darin geht es einerseits um "EU-Bürgerbegehren" (gemeint sind Europäische Bürgerinitiativen), andererseits aber um Möglichkeiten, als einzelner Bürger die Gesetze der Union zu verändern. Weit mehr als die Hälfte des ganzen Beitrags dient dabei der Erzählung eines Märchens über die Entstehung der Roaming-Verordnung aus der Sicht von Paul Rübig, der im Jahr 2007 Berichterstatter im Europäischen Parlament zur (ersten) Roaming-VO war (hier sein Bericht).

Es ist ein schönes Märchen: eine Linzer Studentin - leider, leider weiß MEP Rübig ihren Namen nicht mehr - fuhr "vor knapp zehn Jahren" (das wäre also 2003 oder vielleicht im ersten Halbjahr 2004 gewesen) nach Brüssel, um einen Vortrag von Rübig zu hören. Am selben Abend telefoniert sie zwei Stunden lang mit ihrem Freund in München - es folgt eine Rechnung über einige hundert Euro. Sie schreibt dem Abgeordneten, der mit der ihm gut bekannten "damals für Telekom zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding" essen geht und ihr das Mail der anonymen Studentin zeigt. Reding findet das unglaublich, ihre Dienste erarbeiten einen Gesetzesvorschlag und nur sieben Monate später (wahrscheinlich gemeint: nach Vorlage des Gesetzesvorschlags) wurde die Verordnung beschlossen. Die böse Telekom-Lobby "klagte beim EU-Gerichtshof, weil 'Netze' angeblich unter nationale Kompetenz fielen"(?), verlor aber, und seither leben alle glücklich und zufrieden und zahlen "in der gesamten Union maximal 34,8 Cent für Aktivgespräche".

Das Problem daran: die Geschichte ist nicht als Märchen deklariert. Mag sein, dass Paul Rübig, der als Berichterstatter für die Roaming-VO unbestreitbare Verdienste hat, die Entstehung der Roaming-VO rückblickend tatsächlich so verklärt. Weshalb aber der Standard diese schon auf den ersten Blick unplausible Erzählung zu seiner eigenen macht und sie präsentiert, als handle es sich um Fakten, bleibt mir rätselhaft. Denn die Kernbotschaft des Artikels ist ebenso klar wie falsch: die anonyme junge Linzerin hätte die Roaminggebühren gekappt bzw die "Initialzündung dafür [geliefert], dass die Kommission mit dem EU-Parlament [zu ergänzen: und dem Rat] das Abzocken der Telekom-Firmen beim Geschäft mit Mobiltelefonkunden aufräumen konnte." 

Es brauchte freilich keine anonyme Linzerin, um die Kommission auf das Problem aufmerksam zu machen (was nicht heißt, dass zahlreiche Beschwerden - übrigens besonders intensiv von MEPs aus eigener Betroffenheit vorgebracht - nicht dazu beigetragen hätten, der Initiative der Kommission etwas nachzuhelfen). Dass ein Mail einer anonymen Linzerin in der Entstehungsgeschichte der Roaming-Verordnung - die ich einigermaßen aufmerksam mitverfolgt habe (ich erspare es mir jetzt, auf die sicher mehr als zwanzig einschlägigen Beiträge in diesem Blog zu verlinken) - irgendeine Rolle gespielt hätte, war bislang jedenfalls weder zu lesen noch zu hören (ich habe das bisher auch von MEP Rübig selbst weder gelesen noch gehört). Das Problem war der Kommission jedenfalls schon länger - vor dem angeblichen Mail der anonymen Linzerin - bekannt; ich zitiere dazu einmal aus der Einleitung zum Verordnungsvorschlag der Kommission:
Hohe Roamingentgelte bei der Mobilfunknutzung im europäischen Ausland wurden zum ersten Mal Mitte 1999 als Problem erkannt, als die Kommission eine Branchenuntersuchung in Bezug auf nationale und internationale Roamingdienste durchführte. Daraufhin leitete die Kommission gegen einige Mobilfunkbetreiber im Vereinigten Königreich und in Deutschland Verfahren wegen Verstoßes gegen Artikel 82 EG-Vertrag ein.Schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Rechtsrahmens für die elektronische Kommunikation im Jahr 2002 wurde das Auslandsroaming als eigenes Problemfeld für die Vorabregulierung erkannt [...]"
Auch nach dem angeblichen Mail der anonymen Linzerin gingen die zuständigen Kommissionsdienststellen nicht gleich daran, Gesetzesvorschläge zu erarbeiten: zuvor gab es noch ein Informationsportal der Kommission mit Tarifvergleichen, Berichte der European Regulators Group, eine Entschließung des Parlaments und Schlussfolgerungen des Rates in Sachen Roaming. Der Vorschlag der Kommission für die Roaming-VO wurde schließlich am 12. Juli 2006 veröffentlicht (erste geleakte Entwürfe zirkulierten etwa ab März 2006).

Vielleicht wollte sich der Standard die fantastische Geschichte von der einfachen, aber leider anonymen Linzer Studentin, die praktisch im Alleingang und eigenhändig für das Ende überhöhter Roamingentgelte verantwortlich ist, einfach nicht durch zuviel Recherche kaputtmachen lassen.

PS: ich weiß, ich könnte und sollte mich hier mit wichtigeren Dingen beschäftigen als mit fehlerhaften Artikeln in irgendwelchen Medien. Aber da ich schon so oft über die Roaming-VO geschrieben habe, wollte ich das hier doch "on the record" haben, falls Rübig und Standard an der Legendenbildung weiter arbeiten sollten. Um nicht allzu beckmesserisch zu wirken, habe ich Hinweise auf weitere Detailfehler und Unschärfen im Artikel unterlassen.

Update 22.01.2012: aufgrund der Diskussion auf Twitter und teilweise hier in den Kommentaren möchte ich zur Vermeidung von Missverständnissen anmerken, dass ich die Verdienste von Rübig und Reding um die Roaming-VO nicht schmälern möchte. Beide hätten es meiner Ansicht daher gar nicht notwendig, die wahre Geschichte noch durch ein wenig kreatives "Storytelling" aufzumotzen (zu Reding siehe zB hier und hier), aber auch das ist hier nicht der Punkt (im Übrigen glaube ich Rübig durchaus, dass er ein Mail einer Linzer Studentin bekommen und Reding gezeigt hat, und ich würde ihm sogar abnehmen, wenn er subjektiv der Auffassung ist, dass das etwas verändert hat am Lauf der Geschichte). Mir ging es nur darum, dass im Standard-Artikel die ganze Roaming-VO auf das Mail dieser anonymen Studentin zurückgeführt wird, und diese Story als Faktum präsentiert wird, als Beleg dafür, wie eine einzelne Bürgerin eine wichtige Rechtsvorschrift initiieren kann. Das mag es in anderen Fällen vielleicht geben - bei der Roaming-VO aber war es nicht so.

4 comments :

Anonymous said...

Dr. Rübig bekommt immer das Fett ab, der arme. Er erzählt halt Märchen, aber er ist im Herzen halt ein einfacher aufrechter Schmied und auch sein "Holiday in Jesolo" war nicht xenophob, sondern nur schmiedisch schlecht ausgedrückt nach einer Analyse er Linguistik und der Mimik. Da Sie Herr Dr. Lehofer heute die narrative Form der Erzählung zu genießen scheinen, habe ich ein weitaus schöneres Märchen für Sie gefunden:
http://sugarbox.at/2013/01/21/wahlen-frauen-das-falsche-studium/comment-page-1/#comment-262

Heinrich Elsigan said...

Das schmiedische Märchen gefällt mir dennoch besser, als die Agent Ernest007 Action Story. Ich habe das Märchen des Schmieds schon auf Facebook gelesen, ich glaube ich habe ihm sogar ein Like gegeben. Ich finde es halb so schlimm, solange es einfach eine narrative Wahlkampfgeschichte war, die diesmal auch nicht xenophob sondern nur verlärend gedeutet werden kann, wie die Befreiung von Minister Darabos der Österreicher von sämtlichen bösartigen Zwängen des Staates und der Republik. Im Gegensatz zu entschlagenden Adeligen oder Geheimagenten Thrillern mit hübscher Sekretärin als Zeugin, dürfte weder der Republik noch der Opposition ein finanzieller oder Image-Schaden dadruch entstanden sein. Es ist einfach nur zum Schmunzeln.

GegenSteuerflucht said...

Märchen ist übertrieben, es ist eine schöne harmlose Sage, die wie alle Sagen ein par Funken Wahrheit enthält!

Anonymous said...

Etwa zu dieser Zeit gab es eine Initiative der Kommssion für mehr Bürgerbeteiligung, und nachdem ich seit den 80er-Jahren und Akustikkopplern DFÜ betrieb, schrieb ich an die damalige Kommissarin Reding meine Einschätzung der zukünftigen Probleme des Internets, etwa Urheberrechte, Überwachung, Zensur etc., so wie sich sich auch nachher leider bewahrheiteten.

Ich hab sogar eine Antwort bekommen: "Wir danken für Ihren interessanten Beitrag"
Damit war klar, das landete ungelesen in der elektronischen Rundablage. Aufrufe zur Beteiligung waren wohl nie wirklich ernst gemeint.

Mich würde extrem wundern, wenn eine Mail eines Bürgers irgendwelche Reaktionen hervorrufen würde, insofern halt ich das auch für ein "G'schichtl" zwecks PR.