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Thursday, July 25, 2013

Niemals vergessen (2): EGMR: Zugang zu öffentlichen Internetarchiven der Presse durch Art 10 EMRK geschützt

Dass Internetarchive der Presse einen "substantiellen Beitrag zur Bewahrung und Zugänglichmachung von Informationen" leisten, hat der EGMR schon in seinem Urteil Times Newspapers Ltd (Nos. 1 and 2) vom 10.06.2009 anerkannt. Der Gerichtshof unterschied dabei zwischen der primären Funktion der Presse als "public watchdog" und einer wertvollen sekundären Rolle: "maintaining and making available to the public archives containing news which has previously been reported."

Was aber hat zu geschehen, wenn im Internetarchiv der Zeitung auch Artikel zu finden sind, die - nach ihrem Erscheinen in der Printausgabe - Gegenstand eines Rechtsstreits waren und von einem Gericht als rechtswidrig beurteilt wurden? Eine vollständige Tilgung aus dem Internetarchiv kann vom Verletzten nicht verlangt werden, hat der EGMR nun in seinem Urteil vom 16. Juli 2013, Węgrzynowski und Smolczewski gegen Polen (Appl. no. 33846/07) entschieden - denn Gerichte sollen sich nicht mit der Neuschreibung von Geschichte befassen:
The Court accepts that it is not the role of judicial authorities to engage in rewriting history by ordering the removal from the public domain of all traces of publications which have in the past been found, by final judicial decisions, to amount to unjustified attacks on individual reputations. Furthermore, it is relevant for the assessment of the case that the legitimate interest of the public in access to the public Internet archives of the press is protected under Article 10 of the Convention. [Hervorhebung hinzugefügt]
Zum Ausgangsfall
Die polnische Zeitung Rzeczpospolita hatte in einem Beitrag über Politiker angedeutet, dass die Beschwerdeführer (Anwälte) durch Mithilfe bei zweifelhaften Geschäften im Zusammenhang mit der Liquidierung staatseigener Betriebe zu Reichtum gekommen seien. Die Zeitungsjournalisten wurden für diesen Bericht verurteilt, weil sie nicht zeigen konnten, dass es eine Tatsachengrundlage für die Behauptung gegeben hätte, und weil sie überdies ihre Sorgfaltspflicht verletzt hatten. Die Zeitung musste eine Entschuldigung der Journalisten abdrucken. Mehr als ein Jahr später klagten die Beschwerdeführer neuerlich, weil sie herausgefunden hatten, dass der ursprüngliche - unveränderte - Zeitungsartikel noch auf der Website der Zeitung abrufbar (und über Google auffindbar) war; sie beantragten die Löschung des Artikels.

Die polnischen Gerichte wiesen die Klage ab. Ausdrücklich hielt das Erstgericht fest, dass die Beschwerdeführer nicht beantragt hatten, den Artikel zB mit einer Fußnote oder einem Link zum Urteil oder zur Entschuldigung zu versehen, was vom gericht sonst in Betracht gezogen worden wäre.

Das Urteil des EGMR
Für die Beschwerdeführer als Anwälte ist zunächst eher peinlich, dass einer der beiden seine Beschwerde zu spät eingebracht hatte und sie daher zurückgewiesen wurde. Hinsichtlich des zweiten Beschwerdeführers  geht der EGMR zunächst auf die vorzunehmende Abwägung zwischen dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten Grundrecht (Art 8 EMRK - Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK ein. Das Internet, so der EGMR unter Hiwneis auf das Urteil Editorial Board of Pravoye Delo and Shtekel ist ein Informations- und Kommunikationswerkzeug, das sich deutlich von der gedruckten Presse unterscheidet, insbesondere im Hinblick auf die Kapazität zur Speicherung und Übermittlung von Informationen. Weiter führt der EGMR aus:
The electronic network, serving billions of users worldwide, is not and potentially will never be subject to the same regulations and control. The risk of harm posed by content and communications on the Internet to the exercise and enjoyment of human rights and freedoms, particularly the right to respect for private life, is certainly higher than that posed by the press. Therefore, the policies governing reproduction of material from the printed media and the Internet may differ. The latter undeniably have to be adjusted according to technology’s specific features in order to secure the protection and promotion of the rights and freedoms concerned [...].
Das Begehren, eine Richtigstellung oder Gegendarstellung auch zu einem Artikel in einem Internetarchiv zu bringen, wäre mit Art 10 EMRK in Einklang (der EGMR verweist dazu auf das Urteil Times Newspapers); ein solches Begehren sei aber von den Beschwerdeführern nicht gestellt worden. Die gänzliche Herunternahme eines veröffentlichten Artikels aus dem Zeitungsarchiv käme aber, wie schon die polnischen Gerichte ausgeführt hatten, dem Neuschreiben der Geschichte gleich und würde in das durch Art 10 EMRK geschützte Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Informationen eingreifen (vergleiche dazu auch die gestern hier referierten Schlussanträge von Generalanwalt Jääskinen im Fall Google Spain und Google Inc. vor dem EuGH, RNr 129: "Meiner Meinung nach kann es jedoch keine Rechtfertigung dafür geben, bei der digitalen Neuveröffentlichung einer Zeitungsausgabe zu verlangen, dass der Inhalt gegenüber der ursprünglich herausgegebenen Druckausgabe verändert wird. Dies käme einer Geschichtsfälschung gleich.").

Eine Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit, um den Ruf der Beschwerdeführer zu schützen, wäre daher unter den konkreten Umständen des Falles unverhältnismäßig gewesen.

Conclusio
Aus Art 8 EMRK ist auch bei rechtswidrigen Veröffentlichungen kein Recht abzuleiten, dass die einmal im erfolgte Veröffentlichung aus den Internet-Archiven entfernt wird. Richtigstellungen / Gegendarstellungen dazu oder Hinweise auf Urteile, mit denen über die jeweiligen Artikel entschieden wurden, können aber gegebenenfalls verlangt werden.

(Siehe zu diesem Urteil auch den Beitrag von Thomas Stadler auf internet-law.de sowie von Roseline Letteron auf Liberté, Libertés chéries).

Wednesday, July 24, 2013

Niemals vergessen (1): EuGH-Generalanwalt Jääskinen gegen ein "Recht auf Vergessenwerden"

In der Rechtssache C-131/12, Google Spain, S.L. und Google, Inc., - siehe im Blog dazu schon hier - hat Generalanwalt Jääskinen am 25. Juni 2013 seine Schlussanträge erstattet. Er spricht sich darin klar gegen ein "Recht auf Vergessenwerden" aus und räumt der Freiheit der Meinungsäußerung und des Informationszugangs Priorität ein gegenüber dem Wunsch eines Bürgers, dass Google Suchergebnisse, die ihn in einem negativen Licht zeigen, nicht mehr anzeigen dürfe.

Im Ausgansgfall - ganz knapp zusammengefasst - geht es um das Begehren eines spanischen Bürgers, dass Google bei Suchanfragen nach seinem Namen eine bestimmte Zeitungswebsite nicht anzeigen soll, auf der Informationen zu einem längst erledigten Zwangsversteigerungsverfahren (die damals legal publiziert wurden und richtig sind) verfügbar sind.

Vom EuGH zu klären ist zunächst schon die Frage, ob die spanische Datenschutzbehörde überhaupt zuständig ist, da Google Spain nur für die Werbevermarktung verantwortlich sein will und Google Inc meint, dass jedenfalls in Spanien keine Verarbeitung durchgeführt wird. Vor allem aber geht es um die Frage, ob aus der Datenschutzrichtlinie ein Recht abgeleitet werden kann, dass die Ergebnisse von Suchanfragen in der vom Betroffenen gewünschten Weise zensiert werden müssten, und ob gegebenenfalls ein solches Recht, wenn schon nicht aus der Richtlinie, so doch aus der Grundrechtecharta abgeleitet werden könne.

Generalanwalt Jääskinen setzt den Ton seiner Schlussanträge schon recht zu Beginn, indem er - noch in den Vorbemerkungen (RNr 30) - den Gerichtshof anhält, "bei der Auslegung des Anwendungsbereichs der Richtlinie Vernunft walten zu lassen," um unangemessene und übermäßige Rechtsfolgen zu vermeiden. Auch in der Folge warnt er den EuGH vor einer überzogenen Auslegung der Datenschutzrichtlinie, bei deren Erlassung im Jahr 1995 der Gemeinschaftsgesetzgeber die Entwicklung des Internets noch nicht vorhergesehen hat.

Zum räumlichen Anwendungsbereich geht Jääskinen pragamtisch vor und knüpft de facto daran an, ob der Suchmaschinenbetreiber im jeweiligen Mitgliedstaat eine Niederlassung hat, auch wenn diese sich nicht mit der Suche befasst, sondern - wie auch in Spanien - ausschließlich mit der Werbevermarktung, "wenn diese Niederlassung als Bindeglied zwischen dem Referenzierungsdienst und dem Werbemarkt des betreffenden Mitgliedstaats fungiert, selbst wenn der technische Datenverarbeitungsvorgang in anderen Mitgliedstaaten oder in Drittländern erfolgt." (siehe die Kritik daran auf delegelata.de)

Google als für die Datenverarbeitung Verantwortlicher?
Auch im Hinblick auf den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie wählt Jääskinen einen pragmatischen und meines Erachtens sachgerechten Zugang. Jääskinen postuliert zunächst, dass "bei der Auslegung der Richtlinie im Hinblick auf neue technologische Phänomene der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Ziele der Richtlinie und die in ihr vorgesehenen Mittel zur Erreichung dieser Ziele berücksichtigt werden müssen, um zu einem ausgewogenen und angemessenen Ergebnis zu gelangen."

Davon ausgehend prüft er, ob der Suchdiensteanbieter wirklich über "die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten" entscheidet (und damit als "für die Verarbeitung Verantwortlicher" im Sinne der Richtlinie anzusehen ist). Das könnte man - wie auch die Art-29-Datenschutzgruppe aufgezeigt hat - bei wörtlicher Auslegung durchaus so sehen, was aber, nach Ansicht des Generalanwalts,
zeigt, zu welch unsinnigen Ergebnissen eine nicht hinterfragte wortwörtliche Auslegung der Richtlinie im Kontext des Internets führen kann. Der Gerichtshof darf keiner Auslegung folgen, die praktisch jede Person, die ein Smartphone, ein Tablet oder einen Laptop besitzt, zu einem für die Verarbeitung von im Internet veröffentlichten personenbezogenen Daten Verantwortlichen macht. [...]
Ein Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter, der lediglich ein Instrument zur Lokalisierung von Informationen bereitstellt, übt keine Kontrolle über die auf Webseiten Dritter vorhandenen personenbezogenen Daten aus. [...]
Die Bereitstellung eines Instruments zur Lokalisierung von Informationen impliziert keine Kontrolle über die Inhalte. [Hervorhebung hinzugefügt]
Eine angemessene Auslegung der Richtlinie gebietet nach Ansicht des Generalanwalts deshalb, den Diensteanbieter (Suchmaschinenbetreiber) nicht generell als für die Verarbeitung Verantwortlichen anzusehen, zumal man bei Zugrundelegung der entgegensetzten Auffassung Suchmaschinen als mit dem Unionsrecht unvereinbar erklären müsste - "ein abwegiges Ergebnis", wie der Generalanwalt ausdrücklich festhält.

Suchmaschine dient berechtigtem Interesse  
Verantwortlich ist der Suchmaschinenbetreiber nach Jääskinen für seinen Index, nicht aber für den Cache. Die Verarbeitung der Informationen für den Index muss daher den Vorgaben der Richtlinie genügen. Es dürfte, so der Generalanwalt, auf der Hand liegen, dass die Erbringung von Internetsuchmaschinen-Diensten als solche einem berechtigten Interesse dient, nämlich
i) den Internetnutzern Informationen einfacher zugänglich zu machen,
ii) die Verbreitung der ins Internet gestellten Informationen effektiver zu gestalten und
iii) verschiedene Dienste der Informationsgesellschaft zu ermöglichen, die der Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter ergänzend zur Internetsuchmaschine anbietet, etwa die Schlüsselwörterwerbung.
Diesen drei Zielen entsprechen jeweils drei durch die Charta geschützte Grundrechte, nämlich die Informationsfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung (beide nach Art. 11) und die unternehmerische Freiheit (Art. 16). Ein Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter nimmt daher ein berechtigtes Interesse im Sinne von Art. 7 Buchst. f der Richtlinie wahr, wenn er im Internet zugängliche Daten, einschließlich personenbezogener Daten, verarbeitet.
Der Generalanwalt kommt dann zum Ergebnis, dass eine nationale Datenschutzbehörde einen Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter nicht zur Entfernung von Informationen aus seinem Index verpflichten kann, es sei denn, der Diensteanbieter hat exclusion codes nicht beachtet oder ist einer Aufforderung seitens des Websitebetreibers zur Aktualisierung des Cache nicht nachgekommen. [...] Ob ein Verfahren zur Meldung und Entfernung von Links zu Quellenwebseiten mit illegalen oder anstößigen Inhalten möglich ist, bestimmt sich nach der nach dem nationalen Recht bestehenden zivilrechtlichen Verantwortlichkeit, die auf anderen Gründen als dem Schutz personenbezogener Daten beruht.

Kein "Recht auf Vergessenwerden" nach der Datenschutzrichtlinie
Aus dem Recht auf Berichtigung, Löschung und Sperrung nach der Datenschutzrichtlinie lässt sich bei Daten, die weder unvollständig noch unrichtig noch aus anderen Gründen nicht richtlinienkonform sind, kein Löschanspruch ableiten. Auch das Widerspruchsrecht, das überwiegende schutzwürdige Gründe des Betroffenen voraussetzt, führt nicht zu einem Recht auf Vergessenwerden:
Werden Daten ohne Einwilligung der betroffenen Person verarbeitet, kommt es auf die mit der Verarbeitung verfolgten Zwecke und Interessen in Abwägung mit denjenigen der betroffenen Person an und nicht auf die subjektiven Präferenzen dieser Person. Eine subjektive Präferenz stellt noch keinen überwiegenden, schutzwürdigen Grund im Sinne von Art. 14 Buchst. a der Richtlinie dar.
Jedes E-Mail ein Grundrechtseingriff
Schließlich prüft der Generalanwalt die grundrechtliche Dimension der Angelegenheit, wobei hier vor allem die Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7 Grundrechtecharta bzw Art 8 EMRK) und auf Schutz personenbezogener Darten (Art 8 GRC) einerseits und die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (Art 11 GRC bzw Art 10 EMRK) von Interesse ist.

Bemerkenswert ist zunächst, dass der Generalanwalt angesichts der im Unionsrecht weit gefassten Begriffe "personenbezogene Daten" und "'Verarbeitung" solcher Daten zum Ergebnis kommt, "dass jeder auf automatisierte Verfahren gestützte Kommunikationsvorgang, etwa per Telekommunikation, E-Mail oder in den sozialen Medien, der eine natürliche Person betrifft, an sich schon einen mutmaßlichen Eingriff in das Grundrecht darstellt, der der Rechtfertigung bedarf". Aus der Auslegung der Richtlinie ergeben sich die Grenzen, die einem Privaten bei der Datenverarbeitung gesetzt sind - und daraus wiederum ergibt sich die Frage, ob eine Handlungspflicht der Union und der Mitgleidstaaten dahin besteht, gegenüber Internetsuchmaschinen-Diensteanbietern, bei denen es sich um Private handelt, ein Recht auf Vergessenwerden durchzusetzen.  

Abwägung mit Art 11 GRC
In der konkreten Abwägung betont Jääskinen das Recht der Internetnutzer, im Internet verfügbare Informationen zu suchen und zu empfangen, und das - ebenso durch Art 11 GRC geschützte - Recht der Webseitenurheber, Inhalte ins Internet zu stellen. Bemerkenswert ist, dass er den "exclusion codes" (zB robots.txt) auch in diesem Zusammenhang Bedeutung einräumt:
Wer Inhalte ins Internet stellt, macht von der Freiheit der Meinungsäußerung Gebrauch; dies gilt umso mehr, wenn der Urheber seine Seite mit anderen Seiten verknüpft, das Indexieren und Archivieren durch Suchmaschinen nicht einschränkt und damit zu erkennen gibt, dass er eine weite Verbreitung der Inhalte anstrebt.
In die Abwägung geht auch ein, dass es sich bei den von Google angezeigten Suchergebnissen um eben solche handelt: um Ergebnisse einer gezielten Suche.
130.   Das im Mittelpunkt des vorliegenden Rechtsstreits stehende Datenschutzproblem tritt nur auf, wenn ein Internetnutzer den Vor- und die Nachnamen der betroffenen Person in die Suchmaschine eingibt und ihm daraufhin ein Link zu den Webseiten der Zeitung angezeigt wird, die die beanstandeten Bekanntmachungen enthalten. In einem solchen Fall macht der Internetnutzer aktiv von seinem Recht auf Empfang von Informationen über die betroffene Person aus öffentlichen Quellen Gebrauch, und zwar aus Gründen, die nur ihm bekannt sind.
131.   In der heutigen Informationsgesellschaft gehört die mittels einer Suchmaschine betriebene Suche nach im Internet veröffentlichten Informationen zu den wichtigsten Formen der Ausübung dieses Grundrechts. Dieses Recht umfasst zweifellos das Recht, sich um Informationen über andere natürliche Personen, die grundsätzlich durch das Recht auf Privatleben geschützt sind, also etwa um im Internet vorhandene Informationen über die Tätigkeit einer natürlichen Person als Geschäftsmann/-frau oder Politiker/in, zu bemühen. Das Recht des Internetnutzers auf Informationen wird beeinträchtigt, wenn bei seiner Suche nach Informationen über eine natürliche Person Ergebnisse angezeigt werden, die die einschlägigen Webseiten nicht in ihrer wahren Form wiedergeben, sondern in einer [gesäuberten] „Bowdler“-Version.
132. Ein Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter, der auf eine Suchmaschine gestützte Instrumente zur Lokalisierung von Informationen im Internet bereitstellt, macht rechtmäßigen Gebrauch von seiner unternehmerischen Freiheit und von der Freiheit der Meinungsäußerung.
133. Angesichts der besonders komplexen und schwierigen Grundrechtskonstellation im vorliegenden Fall lässt es sich nicht rechtfertigen, die nach Maßgabe der Richtlinie bestehende Rechtsstellung der betroffenen Personen zu verstärken und um ein Recht auf Vergessenwerden zu ergänzen. Andernfalls würden entscheidende Rechte wie die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit geopfert. 
Kritik an "notice und takedown" und daraus resultierender privater Zensur
Schließlich geht der Generalanwalt noch einen Schritt weiter und rät dem EuGH ausdrücklich auch davon ab, "in seinem Urteil zu dem Ergebnis zu gelangen, dass diese einander widerstreitenden Interessen im jeweiligen Einzelfall auf zufriedenstellende Weise in ein Gleichgewicht gebracht werden können und dass die Entscheidung dem Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter überlassen bleibt."
Derartige Verfahren zur Meldung und Entfernung, sollte der Gerichtshof sie vorschreiben, werden wahrscheinlich entweder zu einer automatischen Löschung von Links zu beanstandeten Inhalten oder zu einer von den beliebtesten und wichtigsten Internetsuchmaschinen-Diensteanbietern nicht zu bewältigenden Anzahl von entsprechenden Anträgen führen. [...]
Vor allem sollten die Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter nicht mit einer solchen Pflicht belastet werden. Es käme zu einem Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung des Webseitenurhebers, der in einem solchen Fall ohne angemessenen Rechtsschutz bliebe, da ein ungeregeltes Verfahren zur Meldung und Entfernung eine privatrechtliche Angelegenheit zwischen der betroffenen Person und dem Suchmaschinen-Diensteanbieter wäre. Dies liefe auf eine Zensur der vom Urheber veröffentlichten Inhalte durch einen Privaten hinaus. Auf einem ganz anderen Blatt steht hingegen, dass den Staaten die Handlungspflicht obliegt, gegen einen das Recht auf Privatleben verletzenden Verleger einen wirksamen Rechtsbehelf vorzusehen, der im Kontext des Internets gegen den Webseitenurheber gerichtet wäre.
Im Übrigen ist anzumerken, dass der betroffene spanische Bürger, der den Anstoß zu diesem Verfahren gab, selbst dann nicht vergessen würde, wenn der EuGH ihm - gegen die Ausführungen des Generalanwalts - ein Recht auf Vergessenwerden einräumen sollte: denn sein Name - Mario Costeja González - ist nun mit der Rechtssache vor dem EuGH auf immer verbunden. Es sei denn, natürlich, Herr Costeja González könnte auch gegenüber der Website des EuGH ein Recht auf Vergessenwerden durchsetzen ...

PS: Nicht gegen eine Suchmaschine, sondern direkt gegen das Online-Archiv einer Zeitungswebsite richtete sich eine vor dem EGMR abgehandelte Beschwerde, die ebenfalls ein "Recht auf Vergessenwerden" (Löschen eines Artikels aus dem Online-Archiv) durchsetzen wollte. Zu diesem Fall, Węgrzynowski und Smolczewski gegen Polen, werde ich voraussichtlich in den nächsten Tagen hier mehr schreiben unter "Niemals vergessen (2)". Vorweggenommen sei soviel: auch der EGMR sprach sich - wie hier Generalanwalt Jääskinen im Fall Google - gegen eine gerichtlich angeordnete Geschichtsfälschung aus.

Update 26.07.2013: siehe auch den Beitrag auf Huťko´s Technology Law Blog.
Update 20.05.2014: zum Urteil des EuGH in dieser Sache siehe hier.

Friday, July 19, 2013

Kurzes Update zum (nach wie vor nicht vorhandenen) Quellenschutz in den USA - NY Times Reporter muss über seine Quelle aussagen

"Der Schutz journalistischer Quellen ist eine der Grundvoraussetzungen der Pressefreiheit", heißt es in der ständigen Rechtsprechung des EGMR zu Art 10 EMRK (etwa im Urteil Goodwin, Abs 39). In Österreich ist das Recht von Medienmitarbeitern, "in einem Strafverfahren oder sonst in einem Verfahren vor Gericht oder einer Verwaltungsbehörde als Zeugen die Beantwortung von Fragen zu verweigern, die die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes von Beiträgen und Unterlagen oder die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachten Mitteilungen betreffen", nach § 31 Mediengesetz sogar absolut geschützt; nach der Rechtsprechung des EGMR wäre die Aufforderung zur Offenlegung einer Quelle ausnahmsweise zulässig, wenn sie durch ein zwingendes öffentliches Interesse ("overriding requirement in the public interest") gerechtfertigt ist.

In den USA gibt es - entgegen einem bei uns weit verbreiteten Irrglauben (siehe dazu im Blog schon einmal hier)  - jedenfalls auf Bundesebene keinen vergleichbaren Schutz für Journalisten. Der U.S. Supreme Court hat sich im Fall Branzburg v. Hayes im Jahr 1972 mit knapper Mehrheit geweigert, aus dem ersten Zusatzartikel zur Verfassung ("First Amendment") ein Recht auf Quellenschutz abzuleiten. Seither wurde mehrfach versucht, diese Frage wieder zum Supreme Court zu bringen - bislang erfolglos (siehe zB zum Fall der NY Times Reporterin Miller, die aufgrund ihrer Weigerung, ihre Quelle zu verraten, ins Gefängnis ging, hier).

Nun dürfte ein weiterer Fall eines NY Times-Reporters auf dem Weg zum Supreme Court sein: James Risen wurde mit Urteil des U.S. Court of Appeals for the Fourth Circuit vom 19.07.2013 verpflichtet, als Zeuge gegen einen Ex-CIA-Mitarbeiter auszusagen, von dem er möglicherweise vertrauliche Informationen geleakt erhielt. Kernsatz der Mehrheitsmeinung (das Urteil wurde mit 2:1 Stimmen gefällt): 
There is no First Amendment testimonial privilege, absolute or qualified, that protects a reporter from being compelled to testify by the prosecution or the defense in criminal proceedings about criminal conduct that the reporter personally witnessed or participated in, absent a showing of bad faith, harassment, or other such non-legitimate motive, even though the reporter promised confidentiality to his source,"
Richter Gregory verfasste eine dissenting opinion, in der er ua schreibt: "The majority exalts the interests of the government while unduly trampling those of the press, and in doing so, severely impinges on the press and the free flow of information in our society."

Risen will das Urteil bekämpfen: "Mr. Risen has vowed to appeal any loss at the appeals court to the Supreme Court, and to go to prison rather than testify about his sources." heißt es dazu in der New York Times. Ob der Supreme Court den Fall annehmen wird, scheint aber - gerade nach der Erfahrung im Fall Miller - eher zweifelhaft. Update 09.06.2014: der Supreme Court hat es am 02.06.2014 abgelehnt, den Fall anzunehmen (siehe Case Page auf Scotus Blog; Bericht auf US News)

PS: US Attorney General Holder hat vergangene Woche angekündigt, wenigstens die Regeln für den Zugriff auf Telefondaten und Mails von Journalisten enger zu fassen. Immerhin heißt es im diesbezüglichen Bericht des US Justizministeriums "members of the news media will not be subject to prosecution based solely on newsgathering activities." Wenn das nicht beruhigend ist!

Thursday, July 18, 2013

EuGH: unterschiedliche Werbebeschränkungen für Pay-TV und Free-TV grundsätzlich zulässig

Darf der nationale Gesetzgeber für Pay-TV-Anbieter kürzere zulässige Werbezeiten vorsehen als für Veranstalter von frei empfangbarem Fernsehen? Diese Frage hat der EuGH heute mit seinem Urteil in der Rechtssache C-234/12 Sky Italia, den Schlussanträgen von Generalanwältin Kokott folgend, grundsätzlich bejaht - vorbehaltlich allerdings der vom vorlegenden nationalen Gericht noch vorzunehmenden Prüfung, ob auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.

Nach Art 4 Abs 1 der Richtline über audiovisuelle Mediendienste können die Mitgliedstaaten "Mediendiensteanbieter, die ihrer Rechtshoheit unterworfen sind, verpflichten, strengeren oder ausführlicheren Bestimmungen in den von dieser Richtlinie koordinierten Bereichen nachzukommen, sofern diese Vorschriften im Einklang mit dem Unionsrecht stehen." Der EuGH entnimmt dieser Bestimmung, ohne dies noch weiter herzuleiten, dass die Mitgliedstaaten Mediendiensteanbeiter verpflichten können, "strengeren oder ausführlicheren Bestimmungen und in bestimmten Fällen unterschiedlichen Bedingungen" nachzukommen (RNr 13 des Urteils; Hervorhebung hinzugefügt).

Der Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er in Art 20 und 21 der Grundrechtecharta verankert ist, steht dem nicht entgegen, sofern sich die Betroffenen nicht in einer vergleichbaren Situation befinden. die Vergleichbarkeit zweier verschiedener Sachverhalte ist "in Anbetracht aller Merkmale, die sie kennzeichnen, sowie anhand der Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs, in den die in Rede stehende Regelung fällt, zu beurteilen". Zwischen Pay-TV und Free-TV-Veranstaltern bestehen diesbezüglich nach Ansicht des EuGH relevante Unterschiede:
20   In Bezug auf die Regelungen über die Sendezeit für Fernsehwerbung unterscheiden sich nämlich die finanziellen Interessen der Veranstalter von Bezahlfernsehen von denen der Veranstalter von frei empfangbarem Fernsehen. Während Erstere durch die von den Zuschauern abgeschlossenen Abonnements Einnahmen erzielen, verfügen Letztere über keine solche unmittelbare Finanzierungsquelle und müssen die benötigten Mittel durch mit Fernsehwerbung erzielte Einnahmen oder durch andere Finanzierungsquellen aufbringen.
21   Ein solcher Unterschied ist grundsätzlich geeignet, die Veranstalter von Bezahlfernsehen im Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Regelungen über die Sendezeiten für Fernsehwerbung auf ihre Finanzierungsmodalitäten in eine objektiv andere Situation zu versetzen.
22   Überdies unterscheidet sich die Situation der Zuschauer, die als Abonnenten die Dienste eines Veranstalters von Bezahlfernsehen in Anspruch nehmen, objektiv von der Situation der Zuschauer eines Veranstalters von frei empfangbarem Fernsehen. Die Abonnenten unterhalten nämlich eine unmittelbare Geschäftsbeziehung mit ihrem Fernsehveranstalter und zahlen einen Preis, um in den Genuss der Fernsehprogramme zu kommen.
23   Bei der Suche nach einem ausgewogenen Schutz der finanziellen Interessen der Fernsehveranstalter und der Interessen der Fernsehzuschauer im Bereich der Fernsehwerbung konnte der nationale Gesetzgeber daher, ohne gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu verstoßen, die Sendezeit pro Stunde für diese Werbung unterschiedlich begrenzen, je nachdem, ob es sich um Veranstalter von Bezahlfernsehen oder von frei empfangbarem Fernsehen handelt. 
In Bezug auf die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zur Vereinbarkeit der Beschränkung mit der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) verweist der EuGH auf seine Rechtsprechung, dass der Schutz der Verbraucher gegen ein Übermaß an geschäftlicher Werbung einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt (Urteil vom 28.10.1999, C-6/98 ARD), dass die Beschränkung aber zur Zielerreichung geeignet sein muss und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 18.10.2012, C-498/10, X). Wie so oft kommt es also letztlich auf die Frage der Verhältnismäßigkeit an, die freilich vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

Die spannendere zweite Vorlagefrage war, ob Art 11 der Grundrechtecharta, ausgelegt im Licht von Art 10 EMRK, "sowie insbesondere der Grundsatz der Informationsvielfalt" der italienischen Regelung entgegenstehen. Das vorlegende Gericht meinte dazu, dass diese Regelung "den Wettbewerb verzerrt und die Begründung bzw. den Ausbau einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Markt der Fernsehwerbung begünstigt". Diese Frage ist natürlich vor dem spezifisch italienischen Hintergrund zu verstehen, in dem Sky Italia als "Murdoch-Pay-TV" den vor allem im Free-TV starken "Berlusconi"-Sendern von Mediaset gegenübersteht, die rein zufällig von diversen gesetzlichen Regelungen immer wieder einmal profitiert haben (siehe nur beispielsweise hier).

Leider stellte sich der EuGH dieser Frage nicht und verwies darauf, dass die Vorlageentscheidung "äußerst unvollständig" sei, "was Informationen u. a. zur Definition des relevanten Marktes, zur Berechnung der Marktanteile der verschiedenen auf diesem Markt tätigen Unternehmen und zu dem vom vorlegenden Gericht in seiner zweiten Frage erwähnten Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung betrifft."

Update 16.07.2013: siehe zu diesem Urteil auch den Bericht auf medialaws.eu (in italienischer Sprache)

Tuesday, July 16, 2013

EGMR: Hausdurchsuchung und Beschlagnahme von Speichermedien bei Journalistin war Verletzung des Art 10 EMRK

In seinem heutigen Urteil im Fall Nagla gegen Lettland (Appl. no.73469/10; siehe auch die Pressemitteilung des EGMR) hat der EGMR wieder einmal betont, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch den adäquaten Schutz journalistischer Quellen umfasst.

Zum Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin vor dem EGMR, die lettische Fernsehjournalistin Ilze Nagla, hatte von einer anonymen Quelle ("Neo") Informationen über Sicherheitsmängel in einer Datenbank der nationalen Steuerverwaltung bekommen, wodurch es möglich war, unautorisiert auf elektronische Steuererklärungen Zugriff zu bekommen. Die Journalistin überprüfte die Informationen und informierte auch die Steuerverwaltung über die Sicherheitsmängel. Nach Angaben von "Neo" würden die Daten auch belegen, dass die höchstbezahlten Amtsträger von den strengen Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst verschont geblieben seien. Die Journalistin berichtete darüber in einer Sendung am 14. Februar 2010. Eine Woche später begann "Neo", einige Einkommensdaten auf Twitter zu veröffentlichen (bis zum 18. April 2010).

Die Journalistin wurde schon am 19. Februar 2010 als Zeugin in dem gegen "Neo" eingeleiteten Strafverfahren vernommen. Dabei berief sie sich auf das Recht, ihre Quelle nicht zu benennen, wie es auch im nationalen Medienrecht vorgesehen war. Knapp drei Monate später fand die Polizei heraus, zu wem eine IP-Adresse gehörte, von der aus die Daten aus de Steuer-Datenbank abgerufen wurde; diese Person, I.P.(!), hatte auch mehrfach mit der Journalistin telefoniert. I.P. wurde am 11. Mai 2010 gegen sieben Uhr abends festgenommen (Update 18.07.2013: es handelt sich um Ilmārs Poikāns, der laut diesem Zeitungsbericht auch selbst Beschwerde an den EGMR erhoben hat; für eine nähere Darstellung des Verfahrens gegen I.P. in Lettland siehe auch die 2011 verfasste "case analysis" von Martins Birks).

Ebenfalls am 11. Mai 2010, ab etwa 21:30 Uhr, erfolgte eine Durchsuchung der Wohnung der Journalistin auf Grundlage eines vom Staatsanwalt in einem Dringlichkeitsverfahren genehmigten Durchsuchungsbeschlusses. Bei der Durchsuchung wurden ein Laptop, eine externe Festplatte, eine Speicherkarte und vier Flash-Drives sichergestellt und später ausgewertet. Am 12. Mai 2010 bewilligte die Untersuchungsrichterin die Durchsuchung rückwirkend und ohne weitere Begründung. Nach einer Beschwerde der Journalistin wurde diese Entscheidung (letztinstanzlich) vom Gerichtspräsidenten bestätigt (und erstmals inhaltlich begründet).

Eine Überprüfung der Angelegenheit durch den Ombudsmann kam zum (rechtlich die Behörden nicht bindenden) Ergebnis, dass die Notwendigkeit der Durchsuchung nicht ausreichend geprüft und dass das Recht der Journalistin auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei.

Verfahren vor dem EGMR

Schutzbereich des Art 10 EMRK
Da die lettische Regierung eingewendet hatte, dass die Durchsuchung nicht mit dem Ziel durchgeführt worden sei, eine journalistische Quelle zu identifzieren, behandelt der EGMR zunächst recht ausführlich die Frage, ob die Durchsuchung überhaupt in den Anwendungsbereich des Art 10 EMRK fiel. Auch wenn die Quelle zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits bekannt war (I.P. wurde mehr als zwei Stunden vor der Durchsuchung festgenommen), so hätten mit den sichergestellten Datenträgern auch andere journalistische Quellen identifiziert werden können; der EGMR sieht schon aus diesem Grund den Schutzbereich des Art 10 EMRK eröffnet.

Eingriff, gesetzliche Grundlage und legitimes Ziel
Dass die Durchsuchung und Beschlagnahme in das Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen hat, wurde nicht bestritten.

Die Beschwerdeführerin meinte zudem, dass - im Sinne des Urteils Sanoma Uitgevers (siehe im Blog dazu hier) - keine ausreichende gesetzliche Grundlage vorhanden gewesen sei. Dem konnte der EGMR nicht folgen: dem Grundatz nach gebe es in Lettland ausreichende prozedurale Gewährleistungen durch eine vorherige richterliche Überprüfung bei Durchsuchungsbeschlüssen im ordentlichen Verfahren und auch durch die vorgesehene sofortige richterliche post factum-Kontrolle im Dringlichkeitsverfahren (bei Durchsuchungsbeschlüssen im Dringlichkeitsverfahren muss die richterliche Überprüfung am folgenden Tag erfolgen; das Gericht kann den Durchsuchungsbeschluss widerrufen, die so erlangten Beweise als unzulässig erklären und auch die Bekanntgabe einer journalistischen Quelle unterbinden).

Der EGMR kam daher zum Ergebnis, dass der Eingriff auf einer ausreichende gesetzlichen Grundlage beruhte und auch ein legitimes Ziel (Verhinderung von Verbrechen und Schutz der Rechte Dritter) verfolgte.

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft
Dass die Identität der Quelle zum Zeitpunkt der Durchsuchung bereits bekannt war, ist für den EGMR nicht von Bedeutung, da dies der Journalistin nicht den Schutz des Art 10 EMRK nimmt. Der EGMR betont dann, dass die Berichterstattung der Journalistin in zweifacher Weise zur öffentlichen Debatte beitrug: einerseits weil über die Gehälter im öffentlichen Sektor in Zeiten von Sparmaßnahmen berichtet wurde, andererseits wegen der Aufdeckung von Sicherheitsmängeln in der Steuer-Datenbank. Dass die Quelle allenfalls strafrechtlich verfolgt werden kann, ändert nichts am Quellenschutz (Hinweis auf das Urteil Tillack, Abs 65) und stellt lediglich einen Faktor in Abwägungsentscheidung dar (Hinweis auf das Urteil Financial Times ua, Abs 63).

Besonders gewichtet der EGMR den Umstand, dass die Durchsuchung nach dem Dringlichkeitsverfahren beantragt wurde, obwohl fast drei Monate seit dem Bericht in der Fernsehsendung vergangen waren und seitdem auch keine Kommunikation zwischen der Journalistin und ihrer Quelle stattgefunden hatte. Die Begründung für das Dringlichkeitsverfahren hatte sich darauf beschränkt, dass die Durchsuchung dringend sei, um die Vernichtung, Verbergung oder Beschädigung von Beweismitteln zu verhindern, wobei für den EGMR nicht klar wurde, auf welche Gründe diese Behauptung gestützt war.

Der EGMR hält fest, dass es zwar nicht durchführbar sein könnte, ausführliche Begründungen für dringende Durchsuchungen zu geben; unter solchen Umständen müsse die notwendige Abwägung der konfligierenden Interessen später ausgeführt werden, jedenfalls aber bevor das beschlagnahmte Material ausgewertet wird. Im vorliegenden Fall habe weder die Untersuchungsrichterin noch der Gerichtspräsident, der über die Beschwerde der Journalistin zu entscheiden hatte, eine nähere Begründung gegeben. Beide hätten sich darauf beschränkt auszusprechen, dass die Durchsuchung sich nicht auf die Quellen der Journalistin bezogen hätte, sodass sie keine Abwägung der widerstreitenden Interessen vornahmen. Wörtlich führt der EGMR dann aus (Hervorhebung hinzugefügt):
101. The Court considers that any search involving the seizure of data storage devices such as laptops, external hard drives, memory cards and flash drives belonging to a journalist raises a question of the journalist’s freedom of expression including source protection and that the access to the information contained therein must be protected by sufficient and adequate safeguards against abuse. In the present case, although the investigating judge’s involvement in an immediate post factum review was provided for in the law, the Court finds that the investigating judge failed to establish that the interests of the investigation in securing evidence were sufficient to override the public interest in the protection of the journalist’s freedom of expression, including source protection and protection against the handover of the research material. The scarce reasoning of the President of the court as to the perishable nature of evidence linked to cybercrimes in general, as the Ombudsman rightly concluded, cannot be considered sufficient in the present case, given the investigating authorities’ delay in carrying out the search and the lack of any indication of impending destruction of evidence. Nor was there any suggestion that the applicant was responsible for disseminating personal data or was implicated in the events other than in her capacity as a journalist; she remained “a witness” for the purposes of these criminal proceedings. If the case materials did include any indication in that regard, it was the investigating judge’s responsibility to carry out the necessary assessment of the conflicting interests, which was not done.

102. The foregoing considerations are sufficient to enable the Court to conclude that “relevant and sufficient” reasons for the interference complained of were not given. There has therefore been a violation of Article 10 of the Convention.

Thursday, July 11, 2013

EuGH-Generalanwalt: Kennzeichnungspflicht entgeltlicher Veröffentlichungen mit "Anzeige" verstößt gegen UGP-Richtlinie

Generalanwalt Wathelet hat heute die Schlussanträge zu dem vom deutschen Bundesgerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-391/12 RLvS erstattet. Es geht dabei - ausgehend von einem Streit zwischen Zeitschriftenverlagen nach dem deutschen UWG - um die Frage, ob die Regelung im Landespressegesetz Baden-Württemberg, wonach entgeltliche Veröffentlichungen mit dem Wort "Anzeige" zu kennzeichnen sind, mit der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29/EG, "UGP-RL") vereinbar ist.

Die UGP-Richtlinie beurteilt "als Information getarnte Werbung" zwar als irreführende Geschäftspraktik, verlangt aber keine Kennzeichnung entgeltlicher Inhalte mit einem ganz bestimmten Wort, sondern geht von einer Einzelfallbeurteilung aus: es reicht demnach, dass die Entgeltlichkeit "aus dem Inhalt oder aus für den Verbraucher klar erkennbaren Bildern und Tönen eindeutig" hervorgeht.

Der heikle Punkt in der vom EuGH zu entscheidenden Rechtssache ist daher, ob die Regelung im LPresseG BW (vergleichbare Regeln gibt es auch in anderen Landespressegesetzen) in den Anwendungsbereich der UGP-RL fällt. Da die RL grundsätzlich eine Vollharmonisierung bewirkt, sind in ihrem Anwendungsbereich strengere nationale Regelungen - wie es § 10 LPresseG BW jedenfalls schon deshalb ist, weil ein ganz bestimmtes Wort ("Anzeige") verwendet werden muss - nicht zulässig.

Generalanwalt Wathelet kommt zum Ergebnis, dass § 10 LPresseG BW, weil diese Bestimmung dem BGH zufolge "zumindest teilweise auch den Schutz der Verbraucher bezweckt", in den Anwendungsbereich der UGP-RL fällt - aber nicht in allen Fällen:
"Soweit § 10 LPresseG BW weder voraussetzt, dass die Veröffentlichung zu einem kommerziellen Zweck erfolgt, noch, dass sie geeignet ist, den Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung im Sinne des Art. 5 der Richtlinie zu veranlassen, erfasst er Umstände, die nicht systematisch in den materiellen Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Dies gilt etwa für Veröffentlichungen, die von politischen Parteien, gemeinnützigen Vereinigungen oder ähnlichen Organisationen, die keinen kommerziellen Zweck verfolgen, finanziert werden. Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken gilt für diese Fälle nicht, und der nationale Gesetzgeber behält insoweit seinen Handlungsspielraum." (RNr 37 der Schlussanträge)
Der Generalanwalt schlägt daher vor, die Vorlagefrage des BGH so zu beantworten:
Die [UGP-RL] ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die – soweit sie auf Veröffentlichungen Anwendung findet, die unlautere Praktiken im Sinne des Art. 5 dieser Richtlinie darstellen – bestimmt, dass der Verleger eines periodischen Druckwerks, der für eine kommerzielle Veröffentlichung ein Entgelt erhalten, gefordert oder sich versprechen lassen hat, diese Veröffentlichung, soweit sie nicht schon durch Anordnung und Gestaltung allgemein als Anzeige zu erkennen ist, deutlich mit dem Wort „Anzeige“ zu bezeichnen hat, und die nicht nur die Verbraucher schützen soll, sondern noch weitere Zwecke verfolgt.

Ich habe zu diesem Vorabentscheidungsverfahren schon anlässlich des Vorlagebeschlusses des BGH einen eher ausführlichen Blogbeitrag verfasst, auf den ich hier nochmals verweisen möchte.

Die heutigen Ausführungen des Generalanwalts überzeugen mich in einem Punkt nicht:
Die UGP-RL erfasst nur Handlungen von Gewerbetreibenden gegenüber Verbrauchern. Die Kennzeichnungspflicht trifft aber das Medienunternehmen und stellt meines Erachtens - auch wenn sie (sei es bloß reflexmäßig oder auch primär) dem Verbraucherschutz dient - keine Regelung dar, die sich, was nach der UGP-RL erforderlich wäre, auf eine Geschäftspraktik "zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts" bezieht. Bestraft - oder im Ausgangsfall: von einem Konkurrenten nach dem UWG in Anspruch genommen - wird der Medienunternehmer, nicht der "ungekennzeichnet" Werbende. Es wird auch nicht dem Werbenden verboten, ohne Kennzeichnung mit "Anzeige" zu werben (für den Werbenden gilt freilich auch in Deutschland eine die UGP-RL berücksichtigende Regelung in § 3 Abs 3 (dt) UWG iVm Nr 11 des Anhangs zu dieser Bestimmung).

Folgt man allerdings de Ansicht des Generalanwalts, wonach die Regeln über die Kennzeichnung entgeltlicher Veröffentlichungen in den Landespressegesetzen irreführende Geschäftspraktiken (der Medienunternehmen!) gegenüber Verbrauchern regeln wollten, dann sind solche über die UGP-RL hinausgehende Regeln jedenfalls zu streng und müssten wohl im Wesentlichen an den Wortlaut der Richtlinie angepasst werden, sofern sie nicht ohnehin in den bereits bestehenden, den Anforderungen der UGP-RL Rechnung tragenden Bestimmungen des UWG (in Östererich übrigens Z 11 des Anhangs zum UWG) aufgehen. Für strengere medienrechtliche Kennzeichnungspflichten bliebe in diesem Fall - wenn also der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts folgen sollte - damit nur noch der Bereich jener Medien, die nicht im geschäftlichen Verkehr von Unternehmern an Verbraucher verkauft werden. Ob es sich für dieses schmale Segment aber auszahlt, weiter gehende Kennzeichnungsvorschriften in den Presse- oder Mediengesetzen vorzusehen?

In Östereich sieht § 26 Mediengesetz ohnehin keine strenge Kennzeichnungspflicht mit einem bestimmten Wort vor, sondern es reicht, wenn "Zweifel über die Entgeltlichkeit durch Gestaltung oder Anordnung ausgeschlossen werden können" - auch hier könnte man freilich die Auffassung vertreten, dass dies eine strengere Regelung ist, da die RL lediglich darauf abstellt, dass "aus dem Inhalt oder aus für den Verbraucher klar erkennbaren Bildern und Tönen eindeutig" die Entgeltlichkeit der Veröffentlichung hervorgeht.

Für audiovisuelle Mediendienste hat der Unionsgesetzgeber selbst Sondervorschriften geschaffen und in der UGP-RL auch festgehalten, dass diese Regeln (nunmehr: RL 2010/13/EU über audiovisuelle Mediendienste) von der UGP-RL unberührt bleiben. Von der RL über audiovisuelle Mediendienste nicht erfasst ist aber der Hörfunk, für den - folgte man der Ansicht des Generalanwalts - ebenfalls keine über die UGP-RL hinausgehenden Kennzeichnunsgvorschriften für entgeltliche Veröffentlichungen festgelegt werden dürften.

Ich bin jedenfalls gespannt, ob der EuGH den Schlussanträgen, die leider nicht allzu sehr in die Tiefe gehen, auch in diesem Fall folgen wird.

Update (26.11.2013): der EuGH ist in seinem Urteil vom 17.10.2013 dem Generalanwalt diesmal nicht gefolgt und hat damit meine Bedenken hier und vor allem in meinem ersten Blogpost dazu bestätigt.
Update 09.02.2014/11.08.2014: Zum Urteil des BGH im fortgesetzten Verfahren siehe dessen Pressemitteilung vom 06.02.2014; zum Urteil im Volltext siehe auch Thomas Stadler auf Internet-Law