Wednesday, June 06, 2012

Staatsratsvorsitzender als "Mafiapate"? EGMR zur Abgeordnetenimmunität und Art 10 EMRK

Ivan Kristan war nicht irgendwer im früheren Jugoslawien: als Verfassungsrechtsprofessor (und Dekan der juristischen Fakultät der Universität Ljubljana, später auch Rektor dieser Universität) war er Spezialist für Fragen des Föderalismus und diente der "Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien" als Mitglied des Verfassungsgerichtshofes. Aus dieser Zeit stammt eine Reihe einschlägiger Veröffentlichungen Kristans auch in deutschsprachigen Werken, zB "Föderalismus und Verfassungsgerichtsbarkeit in Jugoslawien" in der 1983 erschienen Festschrift für den früheren österreichischen VfGH-Präsidenten Erwin Melichar.

Der Zerfall Jugoslawiens tat der Karriere Kristans kaum Abbruch. Fast nahtlos wurde er 1992 Präsident des slowenischen Staatsrates (Državni Svet), einer Art zweiten Kammer des slowenischen Parlaments zur Vertretung regionaler und sozialer Interessen. In dieser Funktion hatte er auch mitzuentscheiden über die Aufhebung der Immunität des damaligen Staatsratsmitglieds Danilo Kovačič, der CEO eines Hotel-, Restaurant- und Glücksspielunternehmens war (er wurde später verurteilt, dann aber von Präsident Drnovšek wieder begnadigt; Artikel dazu in Mladina).

Nach Ansicht des Abgeordneten zur Nationalversammlung Ivo Hvalica (laut Wikipedia-Eintrag übrigens bekannt als "neumoren govornik" - unermüdlicher Redner) hatte Ivan Kristan in seiner Funktion als Vorsitzender des Staatsrates die Einleitung des Strafverfahrens gegen Danilo Kovačič verzögert bzw behindert. Nachdem Hvalica erfuhr, dass sich Ivan Kristan der Wahl für das slowenische Mitglied des EGMR stellte, hielt er am 04.12.1997 eine Rede in der Nationalversammlung, in der er unter anderem sagte, dass er entsetzt gewesen sei, den Namen Ivan Kristans, "Beschützer des größten Mafiabosses" (gemeint war Kovačič), auf der Liste der zur Wahl stehenden Richter zu lesen; weiter sagte er: "Wie kann der Name eines solchen Mafiapaten auf so einer Liste aufscheinen?!"

Ivan Kristan strengte daraufhin ein zivilrechtliches Verfahren gegen den Abgeordneten wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte an und beantragte umgerechnet knapp 21.000 € Entschädigung für immaterielle Schäden. Das erstinstanzlich erkennende Gericht kam zum Ergebnis, die Aussagen des Abgeordneten hätten eine Beteiligung Ivan Kristans an einer kriminellen Organisation impliziert. Ein Ausschluss von der zivilrechtlichen Verantwortung bestehe nicht, da die parlamentarische Immunität auf Strafverfahren beschränkt sei. Der Abgeordnete wurde zu einer Entschädigung von umgerechnet knapp 2.100 € und zur Kostentragung verurteilt.

In seiner Berufung gegen dieses Urteil beschränkte sich der Abgeordnete Hvalica auf die Frage des Umfangs der parlamentarischen Immunität. Mit diesem Vorbringen blieb er in der Instanz erfolglos. Erst in seiner Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof brachte Hvalica erstmals vor, dass sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei, weil das Erstgericht keine ordnungsgemäße Abwägung zwischen seinem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte Ivan Kristans vorgenommen habe. Der Verfassungsgerichtshof wies die Beschwerde, soweit sie auf diesen Grund gestützt wurde, wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurück.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, an den sich Ivo Hvalica daraufhin wandte, hat die auf Art 10 EMRK gestützte Beschwerde mit der heute veröffentlichten Entscheidung vom 22.05.2012, Hvalica gegen Slowenien (Appl. no 25256/05), als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen (im Hinblick auf den Beschwerdegrund des überlangen Verfahrens wurde die Beschwerde aufgrund einer Einigung zwischen dem Beschwerdeführer und Slowenien aus dem Register gestrichen).

Der EGMR verwarf das erste Argument des Beschwerdeführers, er hätte durch seine parlamentarische Immunität auch im zivilgerichtlichen Verfahren geschützt werden müssen: dieses Argument, so der EGMR, beziehe sich auf eine Frage der Auslegung des nationalen Rechts; darüber haben die nationalen Gerichte volle Jurisdiktion.

Die zweite Argumentationslinie des Beschwerdeführers - dass der Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung nicht notwendig und zudem unverhältnismäßig gewesen sei - konnte im vorliegenden Fall schon deshalb nicht zum Erfolg der Beschwerde führen, weil er sich im nationalen Gerichtsverfahren in der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil auf den Umfang der parlamentarischen Immunität beschränkt und die Frage der Notwendigkeit des Eingriffs nicht bekämpft hatte. Damit ist auch dem EGMR die Überprüfung dieser Frage verwehrt (Nichterschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel).

Die Entscheidung des EGMR sollte man nicht missverstehen: die Frage des Umfangs der parlamentarischen Immunität ist natürlich allein Angelegenheit des nationalen Rechts (für Österreich siehe insbesondere Art 57 B-VG und dazu OGH 29.03.2000, 6 Ob 79/00m). Dass eine Äußerung eines Abgeordneten nicht den Schutz der nationalen parlamentarischen Immunität genießt, bedeutet aber keineswegs, dass bei einem (zivil- oder strafrechtlichen) Vorgehen einer durch die Äußerung beleidigten Person die Abwägung der berührten Interessen entfallen könnte.

Gerade bei Auseinandersetzungen von Abgeordneten mit Personen des öffentlichen politischen Lebens sind auch harte Bandagen durchaus vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. So hat der EGMR Verurteilungen wegen der Bezeichnung eines früheren türkischen Staatspräsidenten durch einen Abgeordneten als Lügner und Verleumder und wegen des - ebenfalls von einem Abgeordneten erhobenen - Vorwurfs an den spanischen König, er schütze Folterer, als Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung beurteilt (Fälle Pakdemirli und Otegi Mondragon, siehe dazu hier). Im nun entschiedenen Fall hatte der Beschwerdeführer aber das nationale Verfahren nicht ausreichend umsichtig geführt, sodass dem EGMR die Auseinandersetzung mit der Frage erspart blieb, ob sich ein Politiker (und fachlich angesehener Rechtswissenschafter) angesichts der konkreten Umstände des Fallles auch die Bezeichnung als "Mafiapate" hätte gefallen lassen müssen.

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PS: Hier noch die wörtliche Wiedergabe der Äußerungen von Ivo Hvalica (zitiert nach einer Diplomarbeit von  Jelisaveta Marković):
"In kje smo danes, spoštovani kolegi, spoštovane kolegice? Včeraj me je republike pozval na skupni razgovor z vodjo poslanskih skupin v zvezi z imenovanjem novih članov ustavnega sodišča in evropskega sodišča za človekove pravice. Moram povedati, da sem se zgrozil, ko sem tam videl ime prof. dr. Ivana Kristana, zaščitnika največjega mafijskega bossa, ki se mu sedaj izteka mandat v državnem svetu! To dokazuje. da nekateri še niso razumeli pravzaprav, da je komunizma konec. Kako se lahko eno takšno ime takega mafijskega botra pojavi na takšnem seznamu?!"

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