Tuesday, June 21, 2011

EGMR: Recht auf Leben - staatliche Schutzpflichten für "embedded journalists"

Wenn ich hier über Urteile und Entscheidungen des EGMR berichte, dann geht es in der Regel um das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK, oft auch in Verbindung mit dem Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK. Doch auch die reichhaltige Rechtsprechung des EGMR zum "Recht auf Leben" nach Art 2 EMRK hat gelegentlich Bezug zu rundfunk- bzw medienrechtlichen Themenstellungen. Denn das Recht auf Leben wird auch verletzt, wenn staatliche Behörden nicht ausreichend Schutz gegen potentiell tödliche Angriffe gewähren - und manchmal können Journalisten buchstäblich "in die Schusslinie" geraten.

So auch im Fall Trévalec gegen Belgien (Appl no. 30812/07), in dem der EGMR mit Urteil vom 14.06.2011 eine Verletzung des Rechts auf Leben durch Belgien feststellte. Ein französicher Journalist hatte von der Polizei in Liège die Erlaubnis bekommen, die Arbeit einer "Anti-Banden-Einheit" zu filmen. Während eines Einsatzes gegen vermummte und bewaffnete Bandenmitglieder (später stellte sich heraus, dass es Jugendliche mit nachgemachten Waffen waren), kam der Journalist in die Schusslinie einer anderen Polizeieinheit: zwei Polizisten hatten die Kamera des Journalisten mit einer Waffe verwechselt und sieben Schüsse auf ihn abgegeben und am Bein verletzt.

Die umgehend durchgeführte Untersuchung des Zwischenfalls wurde auch vom EGMR als effektiv anerkannt (und daher diesbezüglich keine Verletzung des Art 2 EMRK festgestellt). Was sich aber bei der Untersuchung herausstellte war, dass die anderen Polizeieinheiten, die auch zu dem Einsatz gerufen wurden, nicht über die Anwesenheit des Filmteams informiert gewesen waren. Zwar hatte es eine allgemeine Information auch in der Funkzentrale gegeben, dass "vom 9. bis 13. Jänner" gefilmt würde, aber die Details, wann und wo der Journalist die Einsatzeinheit begleiten würde, war weder der Funkzentrale noch den andreren Polizeieinheiten bekannt. Auch wenn dem Journalisten die Gefahr bewusst sein musste, wenn er bei einem Einsatz gegen möglicherweise gefährliche Personen dabei sein wollte, und auch wenn er selbst nicht vorsichtig genug war, so kam der EGMR doch zum Schluss, dass die belgischen Behörden nicht ausreichend für seinen Schutz vorgesorgt und damit sein Recht auf Leben verletzt hatten.

Den beiden Polizisten, die auf den Journalisten geschossen hatten, war übrigens kein Vorwurf zu machen; die belgische Untersuchung - die vom EGMR nicht beanstandet wurde - war zum Ergebnis gekommen, dass sie in Notwehr gehandelt hatten, weil sie die Kamera mit einer auf sie gerichteten Waffe verwechselt hatten. Vielleicht nicht zu unrecht, denn wie sagt schon Ani DiFranco: "Every tool is a weapon, if you hold it right"

Für Polizeieinheiten, die Journalisten auf ihre Einsätze mitnehmen wollen, ist das Leben mit diesem Urteil allerdings nicht gerade einfacher geworden.

Update 25.06.2013: Mit Urteil vom 25.06.2013 hat der EGMR nun dem Beschwerdeführer Schadenersatz  (Satisfaction équitable) in der Höhe von € 50.000 zugesprochen.

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