Tuesday, February 11, 2014

EGMR: Fall Tešić - falsche Kritik an Anwalt im öffentlichen Interesse?

Ist wirklich jede Kritik an einem Anwalt, auch wenn sie keine Faktengrundlage hat, im öffentlichen Interesse? Nach dem vom EGMR heute verkündeten Urteil im Fall Tešić gegen Serbien muss man im Zweifel wohl davon ausgehen. Das Urteil bietet aber auch sonst Grund für kritische Anmerkungen - die in der abweichenden Meinung des ungarischen Richters András Sajó deutlich zum Ausdruck kommen.

Ausgangsfall
Die Angelegenheit nahm ihren Ausgang mit einem Artikel in der Tageszeitung Dnevnik; darin wurde berichtet, dass ein namentlich genannter Anwalt die Beschwerdeführerin vor dem EGMR, Frau Tešić, in einem Zivilverfahren absichtlich schlecht vertreten habe, was von der Polizei bestätigt worden sei.

Strafverfahren: In einem gegen die Beschwerdeführerin angestrengten strafgerichtlichen Verfahren hielt das Gericht in Novi Sad fest, dass für diese Behauptungen jegliche Tatsachengrundlage fehlten und sie nur darauf gerichtet gewesen seien, die Ehre und den guten Ruf des Anwalts (und früheren Richters) zu verletzen. Das Strafurteil wurde in der Instanz bestätigt, dann auf Antrag der Beschwerdeführerin wieder aufgenommen und schließlich neuerlich bestätigt; ein Rechtsmittel vor dem serbischen Verfassungsgericht ist noch anhängig. Das erstinstanzliche Gericht hatte allerdings festgehalten, dass die Polizei die Strafverfolgung des Anwalts beantragt hatte ("criminal complaint"), was aber von der Staatsanwaltschaft wegen Verjährung abglehnt wurde.

Zivilverfahren: Außerdem wurde die Beschwerdeführerin vom Anwalt zivilrechtlich verklagt und zu einer Entschädigung sowie Kosten von insgesamt umgerechnet rund 4.900 € verurteilt. Auch das Zivilgericht kam zum Ergebnis, dass die Anschuldigungen keinerlei Tatsachengrundlage gehabt hätten. Das Urteil wurde in der Instanz bestätigt; eine Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.

Vollstreckung: Der Anwalt betrieb die Hereinbringung der ihm zugesprochenen Entschädigung; das Gericht bewilligte die Überweisung von zwei Dritteln der Pension der (1934 geborenen und an diversen Krankheiten leidenden) Beschwerdeführerin, sodass dieser nur mehr 60 € im Monat verblieben.

Verfahren gegen die Redakteurin und die Zeitung: in gesonderten Verfahren waren auch die Journalistin, die den Artikel verfasst hatte, die Zeitung und die Gründerin der Zeitung zu einer Entschädigung in der selben Höhe wie die Beschwerdeführerin verurteilt worden.

Das Urteil des EGMR:
Zunächst weist der EGMR die Beschwerde insoweit zurück, als sie sich gegen die strafgerichtliche Verurteilung richtet, da diesbezüglich das Verfahren vor dem Verfassungsgericht noch anhängig ist und damit vor Beschwerdeerhebung nicht alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Auch die Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer wurden als offensichtlich unzulässig beurteilt.

Der EGMR behandelt dann die Beschwerde gegen das Urteil im Zivilverfahren und gegen die Vollstreckungsmaßnahmen zusammen: Beides sei ein Eingriff in das das Recht auf freie Meinungsäußerung, der auf gesetzlicher Grundlage beruhe und einem legitimen Ziel diene.

Bei der Prüfung, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei, hält der EGMR zunächst fest, dass die zugesprochene Entschädigung (inklusive der Kosten) mehr als das Sechzigfache der monatlichen Pension der Beschwerdeführerin ausmache und zudem etwa jener Entschädigung entspreche, zu der auch die Zeitung und deren Gründerin - zwei finanziell wesentlich bessergestellte juristische Personen - verurteilt wurden.

Dann hält der Gerichtshof fest, dass es zwar wahr sei, dass die von der Polizei angestrengte Strafverfolgung des Anwalts von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden sei, dass aber nicht gesagt werden könne, dass es sich bei der Aussage der Beschwerdeführerin um einen bloß grundlosen persönlichen Angriff ("gratuitous personal attack") gehandelt habe. Immerhin habe die Polizei eine gewisse Berechtigung in den Vorwürfen gesehen und eine von der Beschwerdeführerin angestrengte Subsidiaranklage sei erst fast zwei Jahre nach Veröffentlichung des Artikels vom Gericht abgelehnt worden. Dann sagt der der Gerichtshof (Abs 66):
Moreover, the Government’s proposition that a discussion of a practising lawyer’s professional conduct is clearly a matter of no public interest is in itself a dubious one, particularly bearing in mind the role of lawyers in the proper administration of justice.
Und dann kommt noch die niedrige Pension ins Spiel (Abs 67):
Finally but most strikingly, on 14 July 2009 the Novi Sad Municipal Court issued an enforcement order whereby two thirds of the applicant’s pension were to be transferred to Mr NB’s bank account each month, until the sums awarded to him have been paid in full [...], all this notwithstanding that Article 156 § 1 of the Enforcement Procedure Act 2004 had provided that up to two thirds of a debtor’s pension might be withheld, thus clearly leaving room for a more nuanced approach [...] In May 2012 the applicant’s monthly pension was some EUR 170. After deductions, she was hence left with approximately EUR 60 on which to live and buy her monthly medication [...]. Since the latter would cost her approximately EUR 44, she maintained, and the Government never contested this assertion, that she can no longer afford to buy it [...]. This is in the Court’s opinion a particularly precarious situation for an elderly person suffering from a number of serious diseases [...].
Das war es dann auch schon: kein grundloser persönlicher Angriff (aber falsche Anschuldigung), öffentliches Interesse am Verhalten von Anwälten und eine Forderungsexekution, die nur einen sehr geringen Pensionsanteil frei lässt - darauf gründet sich das Mehrheitsvotum, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen sei.

Anmerkung: Leider enthält das Urteil keine näheren Informationen darüber, welches konkrete Verhalten dem Anwalt vorgeworfen worden war, und es setzt sich auch nicht damit auseinander, ob die Beurteilung der nationalen Gerichte, dass die Anschuldigungen keine Tatsachengrundlage hatten, als zutreffend angesehen wurde - stattdessen reicht es offenbar, dass die Polizei zunächst etwas untersuchte und das Gericht einige Zeit brauchte, um den Subsidiarantrag abzulehnen, um zum Ergebnis zu kommen, dass kein grundloser persönlicher Angriff vorlag - ohne dass damit klargestellt würde, ob eine ausreichende Tatsachengrundlage gegeben war. Das lässt einen etwas ratlos zurück: kann es wirklich sein, dass es zwar keinerlei Tatsachengrundlage für die Anschuldigungen gab, es sich aber dennoch nicht um einen grundlosen persönlichen Angriff handelte und sich der Anwalt das gefallen lassen muss, weil sein Handeln immer von öffentlichem Interesse ist?
Das Urteil ist nicht endgültig, binnen drei Monaten kann die Verweisung an die Große Kammer beantragt werden - da auch das Abstellen auf die Einkommensverhältnisse der Beschwerdeführerin höchst ungewöhnlich*) ist, würde es mich nicht wundern, wenn Serbien einen entsprechenden Antrag stellt.

Dissenting opinion
Richter András Sajó kann dem Mehrheitsvotum auch nichts abgewinnen. Er teilt zwar das methodische Herangehen der Mehrheit, das Vorliegen einer Verletzung des Art 10 EMRK nur anhand dieses Artikels im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen, weist allerdings darauf hin, dass die Große Kammer des EGMR insbesondere im Fall Axel Springer AG (siehe dazu im Blog hier) dazu übergegangen ist, bei Konflikten zwischen dem Schutz des Privatlebens (und des guten Rufs) und der freien Meinungsäußerung eine Abwägung ("balancing exercise") zu verlangen. Egal welche Methode (Abwägung oder Verhältnismäßigkeitsprüfung) man verwende, es seien jedenfalls bestimmte Elemente zu berücksichtigen, wie zB ob der von der üblen Nachrede Betroffene eine "public figure" sei, welche Funktion die übel nachredende Person ausübe ("social watchdog"?), ob es um eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses gehe, ob die Anschuldigungen wahr oder zumindest in gutem Glauben gemacht worden seien. Nichts davon liege im Beschwerdefall vor:
here, the applicant willingly and actively brought to the knowledge of the general public a factually untrue, defamatory statement which was likely to have severe consequences for the defamed person (that is, debarment).
Dass es eine Untersuchung gegeben habe, sei kein Hinweis auf den Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen, denn wenn etwas gemeldet werde, müssten die Behörden dem ernsthaft nachgehen. Das private Interesse, persönliche Unzufriedenheit dadurch auszudrücken, dass öffentlich falsche Anschuldigungen erhoben werden, werde durch die EMRK nicht geschützt.

Auch mit dem zweiten Argument der Mehrheit, dass eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse - "given the role of lawyers in the proper administration of justice" - betroffen sei, hat Richter Sajó Schwierigkeiten:
This uncontroversial truth cannot be seen to be relevant here, as the statement related to a personal grievance. In the present case the activities of the lawyer cannot be attributed to the State; the lawyer acted within the traditional client-lawyer relationship without any impact on the public interest in the administration of justice.
Und schließlich dürfe die auf das Schadenersatzrecht gestützte Entschädigung, so lange sie nicht im Hinblick auf das Unrecht unverhältnismäßig sei, mit Rücksicht auf die finanziellen Probleme der zum Ersatz Verpflichteten ausgemessen werden:
Freedom of expression entails responsibilities, and these responsibilities cannot be different on the grounds of existential difficulties affecting the speaker. Poverty cannot be an excuse for irresponsible private injury. [...]
Furthermore, the approach applied in this case seems to tip the balance between the rights in question to the detriment of reputation and private life. An individual will receive fair compensation only if there is a deep pocket to compensate that individual. This logic is hard to reconcile with the fundamentals of modern tort law, which is based on the assumption that the damage caused has to be undone, irrespective of the status of the parties involved. People are entitled on an equal footing to the protection of their reputation.
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*) (Update 01.05.2014): Franz Zeller (BAKOM / Universität Bern) hat mich darauf hingewiesen, dass die Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse durchaus eine gewisse Tradition hat, beginnend beim Urteil Steel und Morris gegen Vereinigtes Königreich, wo es zB heißt: "The Court notes on the one hand that the sums eventually awarded in the present case [...], although relatively moderate by contemporary standards in defamation cases in England and Wales, were very substantial when compared to the modest incomes and resources of the two applicants." Auch in den Fällen Kasabova gegen Bulgarien und Koprivica gegen Montenegro wurde die Höhe des Einkommens bzw der Pension berücksichtigt.

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