Tuesday, April 03, 2012

EGMR: Berufsverbot für Journalisten wegen Nichtveröffentlichung einer Gegendarstellung ist unverhältnismäßig

Im Fall Kaperzyński gegen Polen (Appl. no 43206/07) hat der EGMR (Vierte Kammer) heute eine Verletzung des Art 10 EMRK wegen der Verurteilung eines polnischen Journalisten festgestellt:

Ausgangsfall
Przemysław Kaperzyński war Chefredakteur einer lokalen Wochenzeitung in Polen. Im Oktober 2005 veröffentlichte diese Zeitung einen - von Kaperzyński mitverfassten - Artikel über Probleme mit der örtlichen Kläranlage. Es bestünden bedeutende Gesundheitsrisken, Investitionen seien notwendig, die Stadt verfüge aber nicht über ausreichende Mittel und die Stadtverwaltung agiere langsam und sei inkompetent.

Der Bürgermeister der Stadt beschwerte sich in einem - teilweise ironischen - Brief über den Artikel. In diesem Brief zog er zwar in Zweifel, dass die Zeitung überhaupt Leser habe, verlangte aber dann doch eine Berichtigung im Sinne des polnischen Pressegesetzes. Der Chefredakteur reagierte auf den Brief nicht und veröffentlichte keine Berichtigung/Gegendarstellung.

Die Stadt erhob Privatanklage gegen den Chefredakteur. Im gerichtlichen Verfahren machte dieser im Wesentlichen geltend, dass es sich bei dem Brief nicht um eine Berichtigung im Sinne des Pressegesetzes gehandelt habe. Das Gericht verurteilte ihn zu einer - bedingt nachgesehenen - Freiheitsbeschränkung von 20 Stunden gemeinnützigem Dienst pro Monat über vier Monate. Darüber hinaus sprach das Gericht aus, dass er für zwei Jahre das Recht zur Berufausübung als Journalist verloren habe. Die - dem Beschwerdeführer zumutbaren - Rechtsmittel (dazu im Detail Abs. 34 - 40 des Urteils) blieben erfolglos, der Beschwerdeführer wandte sich an den EGMR.

EGMR-Urteil
Unstrittig war, dass die Verurteilung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte. Der Eingriff war zum damaligen Zeitpunkt gesetzlich vorgesehen (die Rechtsgrundlage wurde allerdings später vom polnischen Verfassungsgerichtshof aufgehoben) und diente einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer.

Zur Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sei, hielt der EGMR zunächst fest, dass der Artikel einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistete, dass er keine unnötigen persönlichen Angriffe enthielt und nicht beleidigend war, und dass er auf einer soliden Tatsachengrundlage aufbaute (was vom polnischen Gericht nicht berücksichtigt worden war).

Die Verpflichtung, eine Berichtigung (Gegendarstellung) zu drucken, kann als solche nicht als exzessiv oder unverhältnismäßig beurteilt werden; das Gleiche gilt auch für die Verpflichtung, den Betroffenen zu informieren, wenn eine Berichtigung nicht abgedruckt wird:
66. The Court is of the view that a legal obligation to publish a rectification or a reply may be seen as a normal element of the legal framework governing the exercise of the freedom of expression by the print media. It cannot, as such, be regarded as excessive or unreasonable. Indeed, the Court has already held that the right of reply, as an important element of freedom of expression, falls within the scope of Article 10 of the Convention. This flows from the need not only to be able to contest untruthful information, but also to ensure a plurality of opinions, especially on matters of general interest such as literary and political debate [...]. Likewise, an obligation to inform the party concerned in writing about the reasons for a refusal to publish a reply or rectification is not, in the Court’s opinion, of itself open to criticism. Such an obligation makes it possible, for example, for the person who feels aggrieved by a press article to present his reply in a manner compatible with the editorial practice of the newspaper concerned. 
Da der Beschwerdeführer weder die Berichtigung gedruckt, noch den Betroffenen verständigt hat, dass sie nicht gedruckt wird, hat er auch nach Ansicht des EGMR seine Berufspflichten verletzt. Allerdings sei im Beschwerdefall auch die verhängte strafrechtliche Sanktion zu berücksichtigen. Ähnlich wie im Fall Wizerkaniuk gegen Polen (dazu hier) sei über den Beschwerdeführer wegen eines im Wesentlichen nur prozeduralen Vergehens, ohne Bezug zum Inhalt eines Artikels, eine strafrechtliche Sanktion verhängt worden. Unter den anzuwendenden Strafbestimmungen seien die polnischen Gerichte dabei daran gehindert gewesen, Fragen der Meinungsäußerungsfreiheit zu berücksichtigen. Die verhängte Strafe - zweijähriges Berufsausübungsverbot - sei zudem unverhältnismäßig:
74. The Court is of the view that a criminal sentence depriving a media professional of the right to exercise his or her profession must be seen as very harsh. Moreover, it heightens the above mentioned danger of creating a chilling effect on the exercise of public debate. Such a conviction imposed on a journalist can only be said to have, potentially, an enormous dissuasive effect for an open and unhindered public debate on matters of public interest [...].
Zudem habe auch der polnische Verfassungsgerichtshof (in einem späteren Urteil) erkannt, dass es die Bestimmungen des Pressegesetzes für Personen in der Situation des Beschwerdeführers schwer gemacht hätten, die Entscheidung zu treffen, ob eine Berichtigung zu veröffentlichen oder nicht. Einstimmig stellte der EGMR daher eine Verletzung des Art 10 EMRK fest.

Sondervotum Björgvinsson
In einem zustimmenden Sondervotum setzt sich Kammerpräsident Björgvinsson mit der Frage des Rechts der Stadt auf Berichtigung auseinander und kritisiert dabei insbesondere den oben wiedergegebenen Absatz 66. Auch wenn der Brief mit dem Begehren auf Berichtigung vom Bürgermeister geschrieben worden sei, so müsse er doch - da die Privatanklage von der Stadt erhoben wurde - nicht dem Bürgermeister persönlich, sondern der Stadt zugeschrieben werden. Diese habe aber als "public authority" kein Recht nach Art 10 EMRK:
I consider that the right to reply and the duty to publish the reply under Article 10 of the Convention must first and foremost be assessed in light of the fact that the municipality is a public authority, not in the light of the personal right of the mayor to defend his allegedly damaged reputation. In my view, this is a very important consideration in the context of the present case when viewing the compatibility of the right to reply and the duty to publish such a reply against the background of the right to freedom of expression under Article 10 of the Convention.
It is for this reason that I have reservations as to the relevance of the principles set out in paragraph 66 of the judgment, where the right to reply is accepted as a normal element of the legal framework governing the freedom of expression and as such falls within the scope of Article 10 of the Convention. By using this approach the majority implies that the municipality’s right to reply and the applicant’s duty to publish it has some basis in Article 10 of the Convention. I disagree. Clearly a public authority, like the municipality of Iława, cannot invoke rights under Article 10 of the Convention to impose on private parties a duty to publish a reply to criticism of its activities. It follows that recourse to national law for this purpose is contrary to Article 10 of the Convention and is another ground for finding a violation in the present case.

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