Tuesday, March 22, 2016

EGMR: keine Verletzung des Art 8 EMRK durch Unterbleiben der Strafverfolgung nach Talkshow-"Witzen" auf Kosten eines TV-Moderators

Manuel Luís Sousa Goucha ist ein populärer portugiesischer Fernsehmoderator, seit fast 40 Jahren in den Medien aktiv. 2008 hat er öffentlich bekannt gegeben, homosexuell zu sein. Durch einen "Witz" in einer Comedy Talk Show, der als Anspielung auf seine Homosexualität verstanden werden konnte, sah er sich in seiner Ehre verletzt. Weil er die nationalen Gerichte nicht zur Strafverfolgung der Sendungsmacher bewegen konnte, wandte er sich mit einer auf Art 8 EMRK gestützten Beschwerde an den EGMR. Dieser hat mit seinem heute bekannt gegebenen Urteil Sousa Goucha gegen Portugal (Appl. no. 70434/12) aber gegen den Beschwerdeführer entschieden und festgestellt, dass keine Verletzung des Art 8 - Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - vorliegt.

Ausgangsfall
In einer nach-mitternächtlichen Comedy Talk-Show fragte der Moderator seine Gäste, wer die beste portugiesische TV-Moderatorin sei und gab dafür vier Namen zur Auswahl an, darunter drei Frauen und Herrn Sousa Goucha. Dieser erstattete Strafanzeige wegen Beleidigung, unter anderem gegen den Moderator und die Programmverantwortlichen. Sein Ruf und seine Würde seien dadurch geschädigt worden, dass sein Name in die Liste der möglichen Antworten aufgenommen worden war.

Das Strafverfahren wurde jedoch vom Staatsanwalt nicht fortgeführt, auch eine Art Subsidarantrag von Sousa Gouche blieb erfolglos und wurde vom Gericht verworfen. Dabei wurde festgestellt, dass die Sendungsmacher weder beabsichtigt hatten, die Ehre des Beschwerdeführers anzugreifen, noch es als möglich ansahen, dass seine Ehre dadurch beeinträchtigt würde; die subjektive Tatseite lasse sich damit nicht verifizieren. Weiters hielt das Gericht fest
It should be taken into account that we have before us a comedy show, and that the moment at which the defendant asked her guest a question, referring to Manuel Luís Goucha as ‘one of the best female Portuguese hosts’, was considered to be one of the many jokes said throughout the show, typical of such shows.
[Manuel Luís Goucha] is a public figure and so must be used to having his characteristics captured by comedians in order to promote humour; it being public knowledge that [the applicant’s characteristics] reflect behaviour that is attributed to the female gender, such as his way of expressing himself, his colourful [feminine] clothes, and the fact that he has always lived in a world of women (see, for example, the programmes he has always presented on television).
(Video mit Bildern von Sousa Goucha mit Co-Moderatorin)

Auch in der Instanz blieb der Beschwerdeführer erfolglos; das Berufungsgericht sah durch die Äußerungen in der Sendung noch nicht die Schwelle für den Schutz der Ehre erreicht:
...the expression used in a playful and irreverent context and in the normal style previously adopted by the television show under consideration, even though one may consider it as being in bad taste, does not reach the threshold required by law for the protection of honour and consideration.
Urteil des EGMR

- Hinweis auf EuGH-Rechtsprechung
Zunächst ist bemerkenswert, dass der EGMR das EuGH-Urteil in der Rechtssache C‑201/13, Deckmyn und Vrijheidsfonds zitiert (im Blog dazu hier); dabei ging es um die Frage der urheberrechtlichen Zulässigkeit einer Parodie. Der EGMR nimmt auf dieses Urteil dann auch ausdrücklich Bezug (in Abs 50), um zu begründen, dass für Parodie ein besonders weiter Beurteilungsspielraum im Kontext der Freiheit der Meinungsäußerung eingeräumt werden müsse.

- Zur Zulässigkeit/Anwendbarkeit des Art 8 EMRK
Der Beschwerdeführer wurde in der Talk Show in einer Reihe weiblicher Moderatorinnen genannt; nach seiner Ansicht wurde damit Geschlecht und sexuelle Orientierung vermischt. Der EGMR hält dazu fest, dass Geschlecht und sexuelle Identität "two distinctive and intimate characteristics" sind. Jede Vermengung dieser Charakteristika stellt einen Angriff auf den Ruf der Person dar; Art 8 EMRK kommt daher zur Anwendung.

- In der Sache
Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung des Art 8 EMRK resultiert nicht aus einem Urteil, sondern aus der Verweigerung der Strafverfolgung gegenüber den Sendungsmachern. Für den EGMR stellt sich daher die Frage, ob der Staat im Rahmen seiner positiven Verpflichtungen nach Art 8 EMRK einen angemessen Ausgleich zwischen dem Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens und dem Recht der anderen Parteien auf freie Meinungsäußerung erreicht hat.

Der EGMR berücksichtigt dabei, dass der Beschwerdeführer ein prominenter TV-Moderator und damit eine "public figure" im Sinne der Rechtsprechung war. Außerdem spielt Umfeld und Art der als ehrverletzend angesehenen Äußerung - der "Witz" wurde in einer Late-Night Comedy Show gemacht - eine wesentliche Rolle. Satire ist eine Form des künstlerischen Ausdrucks und zielt - mit ihren Eigenschaften der Übertreibung und Realitätsverzerrung - auch auf Provokation. Jeder Eingriff in das Recht von Künstlern, sich in satirischer Form auszudrücken, muss daher besonders sorgfältig geprüft werden (Hinweis ua auf das Urteil Vereinigung bildender Künstler [im Blog dazu hier]). Der EGMR habe, so heißt es in Abs 50 weiter, im Fall Nikowitz (im Blog dazu hier) das Kriterium des "verständigen Lesers ("reasonable reader") eingeführt, der bei satirischem Material zu berücksichtigen sei (tatsächlich kommt im Urteil Nikowitz das Kriterium des verständigen Lesers nicht vor, nur das Kriterium des durchschnittlichen Lesers ["average reader"] - eine doch überraschende Unschärfe in diesem Urteil).

Unter diesen Umständen könne eine Verpflichtung des Staates nach Art 8 EMRK zum Schutz des guten Rufs des Beschwerdeführers dann entstehen, wenn die Aussagen über das nach Art 10 EMRK akzeptable Maß hinausgingen. Das kann der EGMR hier aber nicht feststellen. Die nationalen Gerichte hatten den spielerischen und respektlosen Stil der Sendung und den dort üblichen Humor berücksichtigt und waren zum Ergebnis gekommen, dass eine verständige Person den "Witz" nicht als Beleidigung/üble Nachrede ansehen würden, weil er auf das Verhalten des Beschwerdeführers und seine Ausdrucksweise abgezielt habe. Eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz des Rufs des Beschwerdeführers wäre in diesem Fall unverhältnismäßig gewesen.

- Zu Artikel 14 EMRK
Auch das Verbot der Diskriminierung nach Art 14 EMRK wurde nicht verletzt: Der EGMR hielt dazu fest, dass sich die nationalen Gerichte mit der farbenfrohen Kleidung des Beschwerdeführers befasst hatten und mit den TV-Shows, die er moderierte und die vorwiegend von Frauen gesehen wurden. Es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gerichte zu einem anderen Ergebnis gekommen wären, wenn der Beschwerdeführer nicht homosexuell wäre (was an sich ein schwaches Argument ist, weil der Beschwerdeführer ja gerade der Auffassung war, dass ein derartiger "Witz" bei nicht homosexuellen Moderatoren nicht gemacht worden wäre). Der EGMR kommt jedenfalls zum Ergebnis, dass die Entscheidung, keine Strafverfolgung einzuleiten, durch das Ergebnis einer Abwägung zwischen den nach Art 8 und Art 10 EMRK geschützten Interessen bestimmt war und die Homosexualität des Beschwerdeführers dabei keine Rolle spielte.

Zusammengefasst:
Dass in Late-Night Shows respektlose Witzchen gemacht werden, muss man als Betroffener, wenn man eine "public figure" ist, schon aushalten - jedenfalls wenn es einen entsprechenden Anknüpfungspunkt gibt (wie hier den "femininen" Kleidungsstil des Betroffenen).

Update 03.04.2016: siehe nun auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.

Thursday, March 17, 2016

EGMR zum Streit um die Reputation eines Theaterdirektors "mit Hang zur etatüberschreitenden Geste" (nicht Hart- sondern Hoffmann)

Ein ehemaliger Theaterdirektor mit "Hang zur etatüberschreitenden Geste", der um seine Reputation kämpft - das könnte eine aktuelle Geschichte rund um das Burgtheater sein. Tatsächlich spielte die Sache aber in Magdeburg und war Ausgangspunkt eines langen gerichtlichen Streits, der nun vor dem EGMR sein Ende fand. Mit der heute veröffentlichten Entscheidung vom 23.02.2016 im Fall Max K. Hoffmann gegen Deutschland (Appl. nos. 66861/11 und 33478/12) wurde die Beschwerde des Theaterdirektors als offensichtlich unbegründet für unzulässig erklärt.

Max K. Hoffmann war mehr als zehn Jahre hindurch Generalintendant des Theaters der Landeshauptstadt Magdeburg. Nach Budgetkürzungen wurde der Etat des Theaters im Jahr 2002 um 386.000 € überzogen. Daraufhin löste der Stadtrat den Vertrag mit dem Generalintendanten wegen der Budgetüberschreitung und wegen dessen Verhaltens gegenüber Mitarbeitern und dem Bürgermeister, die er mit der Stasi verglichen hatte. In einem nachfolgenden Gerichtsverfahren mit der Stadt wurde ein Vergleich geschlossen, mit dem der Generalintendant eine Zahlung von € 215.000 erhielt.

Im Oktober 2003 brachte der MDR einen Bericht (der Ende 2003 auf 3sat wiederholt wurde), in dem es ua hieß: "knietief im Dispo nämlich ist das Theater der Landeshauptstadt, weil dessen ehemaliger Generalintendant Max K. Hoffmann einen Hang zur etatüberschreitenden Geste hat. Woraufhin er entlassen wurde". 2006 klagte der Ex-Generalintendant sowohl MDR als auch 3sat, weil seine Reputation durch den Bericht geschädigt worden sei. Das Gericht in Leipzig (Klage gegen den MDR) kam zum Ergebnis, dass Teile des Berichts faktisch unrichtig waren (die Entlassung sei wegen des Stasi-Vergleichs ausgesprochen worden, nicht wegen der Budgetüberschreitung), es liege aber keine schwere Beeinträchtigung des Rufs des Intendanten vor; nur materielle Schäden - die aber nicht nachgewiesen worden seien - wären zu ersetzten. Das Gericht in Hannover (Klage gegen 3sat) wies die Klage gänzlich ab, da es sich um Werturteile gehandelt habe, die auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhten.

Schließlich klagte der Ex-Intendant auch noch die Stadt Magdeburg, was wegen des geschlossenen Vergleichs erfolglos blieb. In allen drei Verfahren blieben auch die Rechtsmittel bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht erfolglos.

Vor dem EGMR machte der Ex-Intendant geltend, dass seine Ehre und sein guter Ruf durch die nationalen Gerichte nicht ausreichend geschützt wurden und er daher in seinen durch Art 8 EMRK garantierten Rechten verletzt worden sei.

Der EGMR beurteilte die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet. Die Abwägung ist kurz und klar, entsprechend den bekannten Kriterien der Abwägung im Fall widerstreitender Interessen nach Art 10 und Art 8 EMRK (zuletzt in Couderc et Hachette Filipacchi Associés, Abs 93; und Axel Springer AG, Abs. 90-95 [im Blog dazu hier], und Von Hannover (Nr 2), Abs. 109-113 [im Blog dazu hier]. Im Einzelnen:

1. Die Berichte betrafen den Wechsel des Managements in einem öffentlich finanzierten Theater. Insbesondere wegen der Budgetüberschreitung war die Debatte zu Budget und Management des Theaters von öffentlichem Interesse, jedenfalls in der betroffenen Region.
2. Der Beschwerdeführer war über mehr als zehn Jahre Generalintendant des Theaters gewesen und relativ bekannt. Außerdem war er nicht Gegenstand des Berichts gewesen, sondern wurde nur im Zusammenhang mit dem überraschenden Umstand erwähnt, dass bei der folgenden Fusion der Theater der Direktor des kleineren Hauses Generalintendant beider Häuser wurde.
3. Zum Verhalten des Beschwerdeführers hielt der EGMR fest, dass dieser nach der Entlassung weder einen Widerruf noch eine Berichtigung verlangt habe, sondern drei Jahre bis zur Klage gewartet habe. Er habe damit keine angemessenen Mittel eingesetzt, umd die Folgen der angeblichen Verletzung zu mindern.
4. Zum Wahrheitsgehalt der Veröffentlichung stellte der EGMR fest, dass nach den Urteilen der nationalen Gerichte die Information zur Beendigung des Dienstverhältnisses nicht "als solche" falsch war ("not incorrect as such"), wohl aber unpräzise. Das Gericht in Hannover habe aber festgehalten, dass das Format des Berichts und die verwendete Sprache nicht die Erwartung einer präzisen Darstellung er Ereignisse erweckt habe, sondern eines kurzen und künstlerischen Überblicks über die Theaterlandschaft in Magdeburg.
5. Zu den Folgen der Veröffentlichung schließlich habe der Beschwerdeführer zwar behauptet, dass der Umstand, dass er keine neue Beschäftigung habe finden können, mit dem falschen Ruf zusammenhingen, er habe eine Neigung zur Budgetüberschreitung. Der EGMR hielt dazu aber fest, dass der Beschwerdeführer dazu in den nationalen Gerichtsverfahren keine Beweise habe vorlegen können.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien kam der EGMR somit zum Ergebnis, dass die Abwägung durch die nationalen Gerichte deren Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat.

PS: Das ist wahrlich kein gewichtiger Fall in der Art 10/Art 8 EMRK-Rechtsprechung des EGMR. Spannender, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, war heute sicher das Urteil im Fall Kahn gegen Deutschland (Pressemitteilung), in dem es um die Veröffentlichung von Bildern der Kinder eines prominenten Fußballers ging. Das Privileg des Bloggers ist es aber, sich auch mal mit unwichtigeren Fällen zu beschäftigen - und mir lag angesichts der aktuellen Debatte um die Rechnungshof-Rohberichte zum Burgtheater - heute eben gerade diese Story näher.

Friday, March 04, 2016

Der ORF-Stiftungsrat und das Rechtsgutachten als Mediationsersatz

Der Österreichische Rundfunk hat nach § 4 Abs 2 ORF-G "ein differenziertes Gesamtprogramm von Information, Kultur, Unterhaltung und Sport für alle anzubieten." Diese Verpflichtung bezieht sich - Stichwort: Gesamtprogramm - eigentlich nicht auf die Tätigkeit der ORF-Organe, zumal diese ja eher nicht zum "Programm" gehört, das den HörerInnen und SeherInnen angeboten wird.

Nach den Berichten über die gestrige Sitzung des ORF-Stiftungsrats kann man aber zweifeln, ob das auch der Stiftungsrat selbst so sieht. Da war etwa ein großer Sportblock, in dem es um violette Krawatten, Austria Wien und Rapid ging, auch Information (zB über das vorläufige Jahresergebnis) und Kultur (Generalsanierung und Bundesdenkmalamt) waren vertreten. Und nicht zuletzt gab es auch Unterhaltung, wurde doch eine neue Runde in der reality soap "ORF's next Generaldirektor/in" eingeläutet. Um den Unterhaltungswert zu steigern, hat der Stiftungsrat sogar ein neues Spannungselement eingebaut: ein professorales Rechtsgutachten, fein austariert erstellt von zwei Professoren, denen der Stiftungsrat vertraut (wenn auch vielleicht der eine Freundeskreis dem einen Professor und der andere Stiftungsrat dem anderen Professor jeweils etwas mehr vertraut*).

Das Gutachten wird für den Fall erstellt, dass ein Kandidat/eine Kandidatin entweder entgegen der Ausschreibung die Bewerbung verspätet abgibt oder sich gar nicht erst bewirbt, sondern sonst ins Spiel gebracht - von Mitgliedern des Stiftungsrats "nachnominiert" - wird.

Die Rechtsfragen dazu sind seit langem bekannt, höchst überschaubar und vergleichsweise einfach. Bräuchte der Stiftungsrat - dem einige Mitglieder mit juristischem Hintergrund angehören - dazu wirklich inhaltliche (juristische) Unterstützung, so könnte das Gremienbüro des ORF oder die hauseigene Rechtsabteilung die entscheidenden Fragen aus dem Stand genauso "rechtssicher" beantworten wie das durch ein extern erstelltes professorales Rechtsgutachten möglich ist.

Warum wird also ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben? Wohl nicht allein zur Förderung des rundfunkrechtlichen Schrifttums (so nett ich das auch fände). Der Vorsitzende des Stiftungsrats meint, es gebe "ernst zu nehmende unterschiedliche Rechtsmeinungen", nach dem Vorsitzenden des anderen Freundeskreises geht es "um die Frage des Handlungsspielraums für das Gremium." Ja, eh. Bloß: wenn es jetzt ernst zu nehmende unterschiedliche Rechtsmeinungen gibt - warum sollten diese dann weniger ernst zu nehmen sein, nur weil es ein Gutachten zweier Verfassungsrechtler gibt? Fände, wer das wollte, nicht für eine jetzt ernst zu nehmende abweichende Rechtsansicht auch noch einen anderen Professor/eine andere Professorin für ein Gegengutachten?

Rechtssicherheit ist mit einem Rechtsgutachten nicht zu erreichen. Tatsächlich erfüllen solche Gutachten ja meist andere Zwecke, mit denen ich mich an anderer Stelle ("Das professorale Gutachten als juristische Allzweckwaffe") schon einmal näher befasst habe. Das vom Stiftungsrat nun beauftragte Gutachten lässt sich aber nicht so einfach in die von mir dort angesprochenen Kategorien (PR-, Alibi-, Tarnkappen-Gutachten) einordnen, weil es weder der PR-mäßigen Behübschung der eigenen Rechtsauffassung dient, noch der Rechtfertigung für ein Handeln in der rechtlichen Grauzone, und weil zudem auch offengelegt wird, dass die beauftragten Professoren das im Auftrag des ORF schreiben und nicht aus eigenem wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse.

Das Rechtsgutachten als ausgegliederte Konfliktlösung (oder statt einer Mediation)
Die "unterschiedlichen Rechtsanschauungen" bestehen - folgt man den einschlägigen Medienberichten - zwischen den sogenannten "Freundeskreisen". Ich kann mir den Auftrag für das Rechtsgutachten daher nur so erklären, dass damit ein gesichtswahrender Ausweg für die Auflösung dieses - weniger juristisch als (personal)politisch erklärbaren - Konflikts gefunden wurde: Weil sich rot und schwarz im Stiftungsrat nicht auf das Procedere einigen können (und weil ein "Nachgeben" einer Seite sofort, gerade auch von den Medien, als Niederlage für diese Seite gesehen würde), wird die Auflösung dieses Konflikts delegiert.

Die Situation ähnelt einem Schiedsverfahren: jede Seite benennt einen SchiedsrichterGutachter, diese würden sich üblicherweise auf einen Vorsitzenden/eine Vorsitzende einigen. Hier hat man auf diesen weiteren Schritt verzichtet (obwohl das dem zu unterhaltenden Publikum noch mehr Spannung hätte bieten können), die beiden Gutachter müssen sich eben so einigen (was freilich juristisch kein großes Problem darstellen sollte). Man kann das als stellvertretende Konfliktlösung sehen oder als Ersatz für ein Mediationsverfahren, in dem die Freundeskreise zu einem gemeinsamen Verständnis hätten kommen können, wie sie ihre Aufgabe (den/die am besten geeignete/n Generaldirektor/in zu bestellen) in prozeduraler Hinsicht abwickeln wollen.

Spannend wird natürlich, ob der mit dem Gutachten dann stellvertretend geschlossene Frieden zwischen den Konfliktparteien auch halten wird, oder ob (oder vielleicht besser: wann und wo) neue Konfliktlinien aufbrechen. In diesem Sinne: weiterhin gute Unterhaltung!

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*) Disclosure: ich kenne beide und vertraue natürlich beiden (werde aber mit ihnen sicher nicht über ihr Gutachten reden).

Friday, February 26, 2016

Off Topic: Scalia, der Hubertus-Orden und richterliche Berufsethik

Antonin Scalia, einer der "Celebrity Justices" des US Supreme Court, ist am 13. 2. 2016 während eines Jagdaufenthalts in Texas verstorben. Mit den Themen dieses Blogs hat das nicht viel zu tun - außer vielleicht, dass Scalia 1971/72 in der US-Regierung im Office of Telecommunications Policy gearbeitet hat ("I used to work in the field of telecommunications", hielt er einem Anwalt schon einmal in einer Verhandlung entgegen). Außerdem hat Scalia einige Entscheidungen im Telekom-Bereich verfasst (zB Verizon v. Trinko oder MCI v. AT&T), und er hat in einem Dissent immerhin das Internet mit einer Pizzeria verglichen (NCTA v. Brand X; lesenswert im Zusammenhang mit Netzneutralität, wie ein Bericht im Atlantic aufzeigt).

Aber darum geht es in diesem Beitrag gar nicht - sondern ganz off topic um eine Frage richterlicher Berufsethik, die mit einem überraschend zu Tage getretenen (entfernten) Österreich-Bezug von Scalia zusammenhängt: der Mitgliedschaft in diskriminierenden Organisationen.

Wie die Washington Post nämlich vor wenigen Tagen berichtete, war Scalia bei seinem Jagdausflug unter hochrangigen Mitgliedern des Internationalen St. Hubertus-Ordens, ein - nach Angaben der Washington Post - 1695 von Graf Franz Anton von Sporck in Böhmen gegründeter, österreichischer - und: ausschließlich männlicher - Orden. Die Washington Post ließ offen, ob Scalia Mitglied des Ordens war. Die Antwort darauf lieferte heute die österreichische Tageszeitung Kurier, wo es heißt:
Der verstorbene Richter Scalia war Mitglied. Der Großprior des internationalen St. Hubertus Ordens, Maternus Lackner, Forstdirektor der Flick’schen Gutsverwaltung in Rottenmann, wundert sich über die Aufmerksamkeit, die sein christlicher Jägerkonvent plötzlich hat. Der bekannteste Verfassungsrichter der USA, Antonin Scalia, war ein Ordensmitglied, sagt der Großprior und beendet damit Spekulationen der Washington Post.
Ich bin zwar nicht ganz sicher, wie weit dem zu trauen ist, denn nach der Website des Ordens ist Herr Lackner nur Großprior der "Ballei" (Ordensprovinz) Österreich, aber ich unterstelle einmal, dass er eine solche Aussage nicht leichtfertig trifft und der Kurier auch richtig berichtet.

Damit aber wäre Scalia Mitglied einer Vereinigung gewesen, die offen Geschlechterdiskriminierung praktiziert. Nach den Regularen des Ordens können nämlich nur Männer Mitglied werden (dass den Männern auch Frauen "gleichzusetzen" sind, die "als Souverän ein Land regieren", ändert nichts an der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei der Aufnahme):
Nun ist aber die Mitgliedschaft in "all boys clubs" mit der richterlichen Berufsethik, wie sie in den USA vor allem im "Code of Conduct for United States Judges" festgelegt ist, schwer vereinbar. Canon 2C des Code of Conduct lautet:
Nondiscriminatory Membership. A judge should not hold membership in any organization that practices invidious discrimination on the basis of race, sex, religion, or national origin.
Eine statutarisch festgelegte Beschränkung der Aufnahme auf ein bestimmtes Geschlecht ist wohl eine offene unfaire ("invidious") Diskriminierung ("An organization with a by-law explicitly denying membership to persons on the basis of race, sex, religion, or national origin obviously practices discrimination within the meaning of Canon 2C", heißt es schon in diesem Leitfaden aus 1996).

Hintergrund dieser Bestimmung ist natürlich, dass die Mitgliedschaft in einer Organisation, die (zB) bei der Aufnahme nach Geschlechtern diskriminiert, Anlass für Zweifel an der Unabhängigkeit geben kann: wenn ein Richter etwa Mitglied in einem "all boys"-Club ist, kann der Eindruck entstehen, dass er Frauen und Männer vielleicht nicht gleich behandeln würde. Dass das auch bei Supreme Court Justices so gesehen wird, zeigte sich zuletzt bei der Bestellung Sonia Sotomayors, die vor ihrer Ernennung Mitglied in einem elitären "women only"-Club war: Nach Kritik von Republikanern beendete sie noch vor den Confirmation Hearings im Senat diese Mitgliedschaft (Kritik kam damals unter anderem auch von Ed Whelan in der rechtskonservativen National Review, der freilich ein großer Scalia-Verehrer ist).

Scalia berührt das natürlich nicht mehr - und es hätte ihn, der auch sonst in Fragen der richterlichen Berufsethik nicht immer kleinlich war (und sich zB gern auf Reisen einladen ließ oder Befangenheitsfragen "großzügig" handhabte), wahrscheinlich schon zu Lebzeiten nicht besonders beeindruckt. In der Praxis legen die mit Fragen der richterlichen Berufsethik befassten Ausschüsse Canon 2C auch so aus, dass - wegen eines sonstigen Konflikts mit der Freiheit der Religionsausübung - religiöse Vereinigungen davon nicht betroffen sind; vielleicht könnte man den Hubertus-Orden in diesem Sinne auch als religiöse Vereinigung sehen.

Und bei uns?
In Österreich - und soweit ich das beurteilen kann auch in Deutschland - gibt es keine ausdrückliche Bestimmung, wonach die Mitgliedschaft in diskriminierenden Organisationen als Verstoß gegen die richterliche Berufsethik zu werten wäre. Die Ethikerklärung der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter ("Welser Erklärung") spricht in ihrem Art IX (Außerdienstliches Verhalten) zwar den Beitritt zu politischen Parteien an, nicht aber den Beitritt zB zu geschlechterdiskriminierenden Organisationen. 

Thursday, February 25, 2016

EGMR: Verbot der Veröffentlichung von Fotos eines gefolterten Entführungsopfers keine Verletzung des Art 10 EMRK

"Choc", der Name eines französischen Klatschmagazins, ist durchaus programmatisch zu verstehen: Im Juni 2009, während des Strafprozesses gegen Entführer, die einen jungen Mann entführt, gefoltert und später ermordet hatten, druckte das Magazin am Titelblatt ein Foto dieses Mannes, das von den Entführern gemacht worden war, die damit Lösegeld erpressen wollten. Es zeigte den Entführten gefesselt und mit sichtbaren Spuren der Folter. Das Foto wurde nicht nur am Cover, sondern noch vier weitere Male im Magazin gedruckt. Im Editorial schrieb das Magazin, dass man sich entschieden habe, "dieses schreckliche Foto" zu veröffentlichen, weil es mehr als alle Worte das Martyrium eines Menschen zeigt, der der Barbarei zum Opfer gefallen ist.

Die Mutter des Opfers und dessen zwei Schwestern klagten wegen Verletzung der Privatsphäre und erreichten zunächst die Einziehung (Vertriebsverbot) - in der Instanz umgewandelt in die Verpflichtung, die Zeitschrift nur mit geschwärzten Fotos zu vertreiben - und eine Entschädigung von 20.000 € für die Mutter und je 10.000 für die Schwestern des Opfers.

Die Medieninhaberin der Zeitschrift fühlte sich dadurch in ihren Rechten nach Art 10 EMRK ein und wandte sich an den EGMR. Dieser hat in seinem heutigen Urteil Société de Conception de Presse et d’Édition gegen Frankreich (Appl. no. 4683/11; Pressemitteilung) jedoch einstimmig festgehalten, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag. Die Entscheidung ist nicht überraschend und bringt rechtlich nichts Neues, zeigt aber wieder einmal, welche Praktiken des Boulevardjournalismus jedenfalls nicht mit der Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden können.

Der EGMR hielt fest, dass ein Eingriff in die freie Meinungsäußerung gegeben war, der durch das Gesetz gedeckt war und einem legitimen Ziel - dem Schutz der Privatsphäre der Mutter und der Schwestern des Opfers - diente.

Zur Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft verwies der EGMR auf seine mittlerweile ständige Rechtsprechung zur Abwägung des Rechts auf Schutz der Privatsphäre und des Rechts auf freie Meinungsäußerung (zuletzt in Couderc et Hachette Filipacchi Associés, mit weiteren Verweisen auf Von Hannover (Nr 2) - im Blog dazu hier - und Axel Springer AG - im Blog dazu hier). Zu den einzelnen Kriterien:

- Debatte von allgemeinem Interesse
Bei einer Gesamtbetrachtung hatte der Artikel eine Information zum Gegenstand, wie sie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen kann (der EGMR formuliert hier recht zurückhaltend: "l’article avait notamment pour objet une information de nature à contribuer à un débat d’intérêt général" - dass der konkrete Artikel wirklich zu einer solchen Debatte beigetragen hätte, stellt er damit gerade nicht fest).

- Bekanntheit der Person und Gegenstand der Reportage
Die von der Berichterstattung betroffene Person war eine Privatperson (dass man als Opfer eines in der Öffentlichkeit Aufsehen erregenden Verbrechens dadurch nicht zur "public figure" wird, hat der EGMR übrigens im Fall Krone Verlag GmbH & Co KG und Krone Multimedia GmbH & Co - im Blog dazu hier - ausgesprochen). Zum Gegenstand des Artikels hält der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte zwischen den Fotos und dem Rest des Berichts unterschieden haben.

- Art der Informationserlangung
Das Foto war von den Entführern gemacht worden und den Verwandten des Opfers zum Zweck der Lösegelderpressung übermittelt worden. Es war nicht zur Veröffentlichung bestimmt und gehörte den Verwandten bzw war es auch Teil der Ermittlungsakten; eine Genehmigung zur Veröffentlichung lag nicht vor. Der Umstand, dass das Foto auch es in einer Fernsehsendung (wie von den nationalen Gerichten festgestellt: "notwendigerweise flüchtig") gezeigt worden war, ändert nichts daran, dass es ohne Genehmigung der Angehörigen des Opfers nicht "öffentlich" war. (Woher die Zeitschrift das Foto hatte, geht aus dem Urteil nicht hervor; da das Foto aber in den Ermittlungsakten war, könnte es zB durch Verfahrensbeteiligte weitergegeben worden sein).

Inhalt, Art und Folgen des Berichts
Der EGMR stimmt den nationalen Gerichten zu, dass die Veröffentlichung des Fotos die Gefühle der Angehörigen tief verletzen konnte und eine schwere Beeinträchtigung der Menschenwürde des Opfers zeigte. Dass seit der Aufnahme des Fotos (zum Zeitpunkt der Entführung 2006) bereits längere Zeit vergangen war, ändert daran nichts, da das Foto nicht nur noch nie veröffentlicht worden war, sondern die Veröffentlichung auch gerade zu einer Zeit erfolgte, als das Strafverfahren gegen die Entführer im Gang war. Das hätte die Journalisten zu Zurückhaltung und Vorsicht veranlassen müssen, zumal der Tod unter besonders brutalen und traumatisierenden Umständen für die Angehörigen eintrat. Die Veröffentlichung der Fotografie, auf dem Titelblatt und vier weitere Male im Inneren der Zeitschrift, in einem Magazin mit sehr großer Auflage war daher geeignet, die Traumatisierung der Angehörigen zu verstärken.

- Schwere der Sanktion
Der EGMR hält dazu fest, dass das Berufungsgericht die Einziehung des Magazins abgeändert hatte in die Verpflichtung, die Fotos zu schwärzen. Das zeige, dass das nationale Gericht sein Augenmerk ausdrücklich nur auf die strittigen Fotos gelegt habe; unter den gegebenen Umständen sei dies eine angemessene Sanktion. Die Medieninhaberin habe auch nicht darlegen können, dass diese Sanktion unter den Umständen des Falles einen chilling effect ("effet dissuasif") gehabt habe. Auch die Höhe der Entschädigung (insgesamt 40.000 €) wird vom Gericht nicht als exzessiv beurteilt.

Damit kommt der EGMR zum Ergebnis, dass der Eingriff auch mit stichhaltigen und hinreichenden Gründen gerechtfertigt und verhältnismäßig war, sodass er insgesamt als "in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich" beurteilt wurde.

Wednesday, February 17, 2016

EuGH: "Schwarze Sekunden" zwischen Werbespots sind in die zulässige Höchstdauer der Fernsehwerbung einzurechnen

In seinem heutigen Urteil in der Rechtssache C-314/14, Sanoma Media Finland Oy, hatte der EuGH wieder einmal Bestimmungen zur Fernsehwerbung in der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL) auszulegen. Dabei ging es um die Abgrenzung von Werbung und sonstigem Programm bei der Split-Screen-Werbung, um die Einbeziehung von Sponsorhinweisen außerhalb gesponserter Sendungen in die zulässige Werbezeit und schließlich um die etwas esoterisch klingende Frage, ob auch "schwarze Sekunden" in die zulässige Werbezeit einzurechnen sind.

Split-Screen: der geteilte Bildschirm ist ein ausreichender Werbetrenner
Nach Art 19 Abs 1 AVMD-RL müssen Fernsehwerbung und Teleshopping "als solche leicht erkennbar und vom redaktionellen Inhalt unterscheidbar sein" (Satz 1). Außerdem müssen müssen Fernsehwerbung und Teleshopping "durch optische und/oder akustische und/oder räumliche Mittel eindeutig von anderen Sendungsteilen abgesetzt sein." (Satz 2)

Wird am Ende einer Sendung der Bildschirm in zwei Spalten geteilt, wobei in einer Spalte der Abspann zur Sendung gezeigt wird, in der anderen Spalte "eine Programmtafel mit der Präsentation der nachfolgenden Sendungen des Diensteanbieters" (wobei ich annehme, dass dieser Teil als Werbung anzusehen ist, sonst bleibt das Urteil nämlich unverständlich), so reicht die durch die Teilung des Bildschirms erzielte räumliche Trennung aus, um die Anforderungen des Art 19 Abs 1 zweiter Satz AVMD-RL zu erfüllen. Aus dem Urteil:
36   Wie insbesondere aus der doppelten Verwendung von „und/oder“ hervorgeht, lässt dieser zweite Satz den Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen, einige dieser Mittel auszuwählen und andere auszuschließen.
37   Folglich müssen Fernsehwerbung und Teleshopping zwar unter Anwendung der einzelnen in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste aufgezählten Mittel klar von den Fernsehsendungen getrennt werden. Diese Mittel müssen aber gemäß dieser Bestimmung nicht kumulativ angewendet werden. Wenn nämlich schon mit einem von ihnen, sei es optisch, akustisch oder räumlich, sichergestellt werden kann, dass die Anforderungen, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 dieser Richtlinie ergeben, in vollem Umfang eingehalten werden, brauchen die Mitgliedstaaten nicht den kombinierten Einsatz dieser Mittel vorzusehen.
Die Mitgliedstaaten dürfen gemäß Art 4 Abs 1 AVMD-RL strengere Regeln vorsehen; tun sie das aber nicht (wie zB auch der österreichische Gesetzgeber), so reicht also eine entweder optische oder akustische oder räumliche Trennung, um die Anforderungen des Art 19 Abs 1 zweiter Satz AVMD-RL zu erfüllen. Ob damit aber auch schon die Anforderungen des ersten Satzes erfüllt sind (leichte Erkennbarkeit als Werbung und Unterscheidbarkeit vom redaktionellen Inhalt), müssen die nationalen Gerichte beurteilen.

Generalanwalt Szpunar war in diesem Punkt in seinen Schlussanträgen noch zu einem anderen Ergebnis gekommen und hatte die Auffassung vertreten, "dass allein die Aufteilung des Bildschirms in verschiedene Teile, von denen einer für Werbung bestimmt ist, keine ausreichende Trennung dieser Werbung vom redaktionellen Inhalt darstellt."

[Allerdings lässt mich das Urteil des EuGH in diesem Punkt eher ratlos zurück, da es (in RNr 28) von einem geteilten Bildschirm spricht, "in dem der Programmabspann einer Fernsehsendung in einer Spalte und eine Programmtafel mit der Präsentation der nachfolgenden Sendungen des Diensteanbieters in einer anderen Spalte angezeigt werden, um die Sendung, die endet, von der Fernsehwerbeunterbrechung, die ihr nachfolgt, zu trennen". Da eine Programmtafel nicht zwingend Werbung sein muss, und das "Nachfolgen" zeitlich auch heißen kann, dass die Werbung erst nach Ende des Abspanns und der Programmtafel gesendet wird, könnte man das auch dahin verstehen, dass es um die Trennung von einer erst nach dem Split Screen mit Abspann/Vorschau gesendeten Werbung geht (ähnlich auch in RNr 38, wo neuerlich von der Fernsehwerbeunterbrechung die Rede ist, die einer Sendung "nachfolgt"). In den Schlussanträgen des Generalanwalts wird hingegen eindeutig auf eine Trennung zwischen Programmabspann auf der einen Seite des Split Screens und Fernsehwerbung auf der anderen Seite Bezug genommen, und nur wenn man dieses Verständnis des Sachverhalts auch dem EuGH-Urteil zugrundelegt, ergibt es Sinn.]

Sponsorzeichen außerhalb des gesponserten Programms: in Werbezeit einzurechnen
Nach Art 23 Abs 1 AVMD-RL darf der Anteil von Fernsehwerbespots und Teleshopping-Spots an der Sendezeit innerhalb einer vollen Stunde 20 % nicht überschreiten. Fraglich war , ob in die Werbezeit auch Sponsorenhinweise einzurechnen sind, die außerhalb der gesponserten Sendung gebracht werden. Solche Sponsorenhinweise wurden im Ausgangsfall etwa in den Programmhinweisen zur gesponserten Sendung oder in anderen Sendungen gebracht (eine Praxis, die auch in Österreich durchaus üblich ist).

Der EuGH ist hier knapp und argumentiert, dass nach Art 10 Abs 1 lit c der RL Sponsorenhinweise "zum Beginn, während und/oder zum Ende der Sendung" zu platzieren sind; werden sie außerhalb der Sendung gebracht und nicht in die zulässige Werbezeit eingerechnet, würden damit die Bestimmungen über die höchstzulässige Werbezeit umgangen. Solche Hinweise sind daher in diese maximal zulässige Sendezeit für Werbung innerhalb einer vollen Stunde einzuberechnen. Ohne weitere Argumentation vorausgesetzt wird dabei, dass es sich bei diesen Sponsorenhinweisen außerhalb der Sendungen um Fernsehwerbung handelt.

"Schwarze Sekunden" zwischen Werbespots sind Werbezeit
Zwischen redaktionellem Programm und Werbung sowie zwischen einzelnen Werbespots wird zur optischen Trennung häufig eine Schwarzblende eingesetzt. Im Ausgangsfall ließ der Fernsehveranstalter jedem "ausgestrahlten Werbespot schwarze Bilder mit einer Dauer von 0,4 bis 1 Sekunde vor- und nachfolgen, die als 'schwarze Sekunden' bezeichnet werden." Da unter Einrechnung dieser "schwarzen Sekunden" eine Gesamtwerbezeit von 12 Minuten und 7 (!) Sekunden in einer vollen Stunde erreicht wurde, hatte die Regulierungsbehörde eine Rechtsverletzung festgestellt.

Der EuGH hält fest, dass sich allein anhand des Wortlauts von Art 23 Abs 1 AVMD-RL nicht ermitteln lässt, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie vorschreibt, "schwarze Sekunden" in die Grenze von 20 % (einer Stunde) einzuberechnen. Daher ist der Status der "schwarzen Sekunde" im Hinblick auf die Zielsetzung von Art. 23 Abs. 1 AVMD-RL zu bestimmen. Die Bestimmung, so der EuGH, folgt der Absicht des Unionsgesetzgebers, das ordnungsgemäße Erreichen des wesentlichen Ziels dieser Richtlinie sicherzustellen, das darin besteht, die Verbraucher als Zuschauer gegen übermäßige Fernsehwerbung zu schützen. Daher erlaube sie den Mitgliedstaaten nicht, "die Mindestsendezeit, die für die Ausstrahlung von Sendungen oder anderen redaktionellen Inhalten bestimmt ist, zugunsten von Werbeelementen auf unter 80 % innerhalb einer vollen Stunde – die in diesem Artikel implizit bestätigte Grenze – herabzusetzen."

"Schwarze Sekunden" zwischen den einzelnen Spots als auch zwischen dem letzten Spot und der Sendung, die der Werbeunterbrechung nachfolgt (nicht aber die "schwarzen Sekunden" vor dem ersten Spot einer Werbeunterbrechung), sind daher als Sendezeit für die Ausstrahlung von Fernsehwerbung für die Zwecke des Art 23 Abs 1 AVMD-RL anzusehen.

Update 26.02.2016: nach einer Schrecksekunde, die immerhin mehr als eine Woche dauerte, melden sich jetzt überrascht die Fernsehveranstalter zu Wort: ORF-Generaldirektor Wrabetz meint, dass das "fast alle Sender seit gefühlten 60 Jahren" so machen (nämlich die schwarzen Sekunden nicht in die Werbezeit einrechnen; siehe Bericht auf DerStandard.at). ATV-Chef Martin Gastinger wird in Medienberichten die Idee einer Anfechtung der EuGH-Entscheidung zugeschrieben (Bericht auf DerStandard.at; mehr auf Horizont.at [mittlerweile richtiggestellt]); tatsächlich hat er aber nur gesagt, dass ATV versuchen werde, "gemeinsam mit anderen Sendern dagegen vorzugehen."

Update 08.04.2016: Die österreichische Rundfunkregulierungsbehörde KommAustria ist nach Analyse des EuGH-Urteils zum Ergebnis gekommen, "dass die bislang in Österreich bestehende Vollzugspraxis bzw. Rechtsprechung in einigen Punkten von der nunmehrigen Rechtsansicht des EuGH abweicht"; sie hat daher mit Schreiben vom 08.04.2016 alle österreichischen Rundfunkveranstalter über Auslegungsfragen nach dem EuGH-Urteil informiert.

Tuesday, February 16, 2016

EGMR: Ärztekammer Wien und Dorner / Österreich - Begriff "Heuschrecke" als unethische Herabsetzung eines Wettbewerbers

Darf die Wiener Ärztekammer - als gesetzliche Standesvertretung - in einem Rundschreiben an ihre Mitglieder eine Kapitalgesellschaft, die Radiologiepraxen übernehmen möchte, als "Heuschrecken-Unternehmen" bezeichnen? Wenn die Behauptung nicht im Kern wahr ist, nicht - so entschieden die österreichischen Gerichte (letztinstanzlich: Beschluss des OGH vom 22.01.2008, 4 Ob 236/07w im EV-Verfahren, Beschluss vom 14.07.2009, 4 Ob 22/09b im Hauptsacheverfahren). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat darin in seinem heute ergangenen Urteil im Fall Ärztekammer für Wien und Dorner gegen Österreich (Appl. no. 8895/10) keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art 10 EMRK gesehen.

Zum Ausgangsfall
Der Präsident der Ärztekammer Wien hatte in einem Rundschreiben der Ärztekammer und auf deren Website die Tätigkeit von Kapitalgesellschaften im ambulanten Bereich kritisiert. Zwei namentlich genannte Unternehmen bezeichnete er (mittelbar) als "Heuschrecken-Unternehmen", deren Ziel die "Herrschaft über den ärztlichen Berufsstand" sei. Die Standesvertretung werde mit allen rechtlichen und politischen Mitteln gegen diese "desaströse Entwicklung" vorgehen. Denn dadurch würde die Qualität der Behandlung nicht mehr vom Arzt bestimmt, sondern von "Managern und Controllern".

Auf Antrag eines der namentlich genannten Unternehmen wurde der Ärztekammer und ihrem Präsidenten (unter anderem) die Behauptung untersagt, das Unternehmen sei ein "Heuschrecken-Unternehmen", eine Heuschrecke und/oder ein „Heuschrecken-Fonds".

Der OGH bestätigte die unterinstanzlichen Entscheidungen. Zwar würden die Beklagten an einer Debatte teilnehmen, die öffentliche Interessen betraf, allerdings sei auch ihre Absicht deutlich hervorgetreten, den Wettbewerb freiberuflich tätiger Ärzte gegenüber zwei auf den Markt drängenden Kapitalgesellschaften zu fördern.

Der Begriff "Heuschrecke" sei im gegebenen Zusammenhang als Tatsachenbehauptung zu verstehen; er bezeichne im jüngeren politisch-ökonomischen Sprachgebrauch nicht bloß expandierende Kapitalgesellschaften, an denen (auch) institutionelle Anleger beteiligt seien. Vielmehr würden die angesprochenen Kreise darunter Unternehmen verstehen, die nur den kurzfristigen, durch alsbaldige Weiterveräußerung zu realisierenden Profit anstreben und die Belange der Mitarbeiter, Geschäftspartner und Kunden diesem Interesse unterordnen ("abfressen und weiterziehen"). Wörtlich hieß es im OGH-Beschluss (im EV-Verfahren):
Wird - wie hier - ein bestimmtes Unternehmen, das bereits im umkämpften Geschäftsfeld tätig ist, als "Heuschrecke" bezeichnet, so enthält das den Vorwurf eines solchen Verhaltens. Daher muss diese Äußerung, um erlaubt zu sein, auch unter Berücksichtigung der Meinungsäußerungsfreiheit einen sachlich richtigen Kern haben. Diesen Beweis haben die Beklagten nicht erbracht. [...]
Zwar besteht zweifellos ein öffentliches Interesse an der Debatte über die Zukunft des Gesundheitswesens. Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit schlösse es daher aus, eine entferntere, bloß mögliche Deutung der beanstandeten Formulierungen zur Ermittlung des für ihre rechtliche Beurteilung relevanten Tatsachenkerns heranzuziehen [...]. Hier geht es aber nicht um eine solche entferntere Deutung, sondern gerade um den Kern des von den Beklagten verwendeten Begriffs. Die damit konkludent aufgestellten Tatsachenbehauptungen, die das Unternehmen der Klägerin - nach zumindest vertretbarer Ansicht - herabsetzen und nicht erweislich wahr sind, können mit dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung nicht gerechtfertigt werden [...].
Eine gewisse Distanz zeigte der OGH im Beschluss, mit dem die außerordentliche Revision der Beklagten im Hauptsacheverfahren zurückgewiesen wurde:
Unter den besonderen Umständen des Einzelfalls ist die Entscheidung der Vorinstanzen trotz der Teilnahme der Beklagten an einer Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses nicht unvertretbar. Denn auch in solchen Debatten müssen es konkret genannte Unternehmen [...] nicht hinnehmen, dass über sie unwahre kreditschädigende Tatsachenbehauptungenaufgestellt werden. Die von den Beklagten beabsichtigte Warnung vor den Gefahren des Auftretens von Kapitalgesellschaften auf dem Markt für ärztliche Dienstleistungen wird durch das Verbot nicht unmöglich; die Beklagten haben es lediglich zu unterlassen, über konkrete Mitbewerber der von der Erstbeklagten vertretenen Ärzte unwahre Tatsachenbehauptungen aufzustellen

Das Verfahren vor dem EGMR
Sowohl die Ärztekammer Wien als auch deren Präsident - beiden waren die Behauptungen untersagt worden - erhoben Beschwerde an den EGMR.

- Ärztekammer ist keine nicht-staatliche Organisation
Die Beschwerde der Ärztekammer wurde vom EGMR ratione personae (aus in der Person gelegenen Gründen) als unzulässig erklärt: Der EGMR kann nach Art 34 EMRK "von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe" angerufen werden. Die Ärztekammer ist durch Gesetz und nicht durch Privatrechtsakt eingerichtet, es besteht Zwangsmitgliedschaft und die Beziehung zwischen Mitgliedern und den Verwaltungsorganen ist öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Die Kammer nimmt auch hoheitliche Aufgaben wahr und untersteht dabei der staatlichen Aufsicht. Zudem wird sie durch Pflichtbeiträge aller Ärzte finanziert. Der EGMR sah auch die verfahrensgegenständliche Äußerung nicht als Ausübung der öffentlichen Aufgabe der Kammer an ("exercising the chambers public function"), sodass die Ärztekammer nicht als nichtstaatliche Organisation beurteilt wurde (der EGMR verweist dazu auf eine frühere Entscheidung der Menschenrechtskommisison zur Wirtschaftskammer und auf die abweichende Beurteilung für den ORF; siehe im Blog dazu hier).

Die Beschwerde des Präsidenten der Ärztekammer Wien ist hingegen zulässig, da er eine natürliche Person ist und ihm persönlich von den Gerichten bestimmte Behauptungen untersagt worden waren.

- Eingriff, vom Gesetz vorgesehen, legitimes Ziel
Unstrittig war, dass die Untersagung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, und dass der Eingriff ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer verfolgte. Bestritten wurde hingegen, dass der Eingriff im Sinne der Rechtsprechung des EGMR "vom Gesetz vorgesehen" war, da § 7 UWG (Herabsetzung eines Unternehmens), auf den sich die nationalen Gerichte stützten, nicht ausreichend klar sei. Der EGMR teilte diese Ansicht nicht; § 7 UWG sei ausreichend präzise, auch die Rechtsfolgen seien darin klar genannt.

- unentbehrlich in einer demokratischen Gesellschaft
Damit blieb zu beurteilen, ob der Eingriff im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft [...] unentbehrlich" war. Der EGMR verweist dabei zunächst auf die Kriterien zur Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Art 8 und Art 10 EMRK, die er in Von Hannover (Nr 2) (im Blog dazu hier) und zuletzt etwa in Couderc entwickelt hat. Weiters weist er darauf hin, dass die Grenzen zulässiger Kritik bei "large public companies" zwar weiter seien, dem öffentlichen Interesse an einer offenen Debatte über Geschäftspraktiken allerdings auch das damit in Widerstreit stehende Interesse am Schutz des wirtschaftlichen Erfolges und der Lebensfähigkeit von Unternehmen gegenüberstehe. Die Konventionsstaaten hätten daher einen Beurteilungsspielraum. der allerdings wieder eingeschränkt sei, wenn es nicht nur um ein rein "wirtschaftliches" Statement gehe, sondern um die Teilnahme an einer Debatte von allgemeinem Interesse, wie zum Beispiel im Bereich des Gesundheitswesens.

Im konkreten Fall hält der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte die Aussagen in ihrer Gesamtheit beurteilt haben und zum Ergebnis gekommen sind, dass sie in einem klar wirtschaftlichen Kontext gefallen seien, in dem Arztpraxen mit Kapitalgesellschaften, die dieselben Dienste anbieten, in Wettbewerb stehen. Die nationalen Gerichte hatten auch berücksichtigt, dass in einer Debatte von öffentlichem Interesse der Freiheit der Meinungsäußerung höheres Gewicht zukomme, dass aber der Begriff "Heuschrecke" praktisch ausschließlich negativ besetzt sei und zu einer unethischen allgemeinen Herabsetzung ("unethical general vilification") des Wettbewerbers geführt habe. Der Begriff hätte beim Leser den Eindruck erweckt, dass die betroffene Kapitalgesellschaft bereits ein unethisches Verhalten gesetzt habe, das die Interessen von Ärzten und Patienten geschädigt habe. Dies habe die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens schädigen können und sei auch nicht als wahr nachgewiesen worden.

Für den EGMR ist daher auch keine abschließende Klärung erforderlich, ob die Aussage (wie von den österreichischen Gerichten gesehen) eine Tatsachenbehauptung war oder doch eher ein Werturteil, da auch im Fall eines Werturteils eine ausreichende Tatsachengrundlage erforderlich wäre. Die Untersagung der Behauptungen gegenüber dem Präsidenten der Wiener Ärztekammer sei daher auf relevante und ausreichende Gründe gestützt. Auch Art und Schwere der Sanktion (Untersagung, Veröffentlichung) sei moderat geblieben, Der Eingriff sei daher im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK festzustellen war.

Anmerkungen

- Zur Beschwerdelegitimation
Zunächst wirkt die Sache insofern etwas merkwürdig, als die Ärztekammer selbst vor dem EGMR nicht beschwerdeberechtigt ist, der Präsident der Ärztekammer - der die Aussagen wohl ausschließlich in seiner Funktion getätigt hat und nicht als Privatperson oder als selbständiger Arzt unabhängig von seiner Kammerfunktion - hingegen schon. Das ist aber die Konsequenz der in Art 34 EMRK vorgesehenen Einschränkung des Beschwerderechts, die staatlichen Organisationen das Beschwerderecht versagt, dieses Recht allerdings natürlichen Personen unbeschränkt einräumt, auch wenn es um ihre Rolle als Funktionäre einer staatlichen Organisation geht. Voraussetzung ist natürlich immer, dass man als natürliche Person Opfer des Eingriffs wurde - was hier aber klar auf der Hand lag, da vor den nationalen Gerichten ausdrücklich auch der Präsident der Ärztekammer Beklagter war und zur Unterlassung verurteilt wurde (eine Konsequenz der weiten Passivlegitimation nach dem UWG).

- "margin call"
Der wohl wesentlichste Begriff im Urteil des EGMR ist "margin of appreciation", der gleich fünfmal im entscheidenden Teil des Urteils strapaziert wird. Wenn der EGMR so laut und deutlich auf den Beurteilungsspielraum hinweist, dann mag das auch ein Zeichen dafür sein, dass er selbst in seiner Beurteilung vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen könnte - aber eben den nationalen Spielraum akzeptiert. Hier verweist der EGMR - nach eher allgemeinen Ausführungen zum "margin" in Abs 63 - zunächst auf den Spielraum, den die Mitgliedstaaten dabei haben, inwieweit sie Unternehmen Rechte einräumen, gegen Vorwürfe vorzugehen, die ihren Ruf schädigen könnten:
the State enjoys a margin of appreciation as to the means it provides under domestic law by which a company can challenge the truth and limit the damage of allegations which risk harming its reputation
Dieser Beurteilungsspielraum ist noch größer, wenn es um Angelegenheiten des unlauteren Wettbewerbs geht:
Furthermore, the Court emphasises that a wider margin of appreciation entrusted to the States is essential in the complex and fluctuating area of unfair competition
Er wird aber wieder kleiner, wenn es nicht nur um eine wirtschaftliche Auseinandersetzung geht, sondern um eine Debatte von allgemeinem Interesse:
it is necessary to reduce the extent of the margin of appreciation when what is at stake is not an individual’s purely "commercial" statement, but his participation in a debate of general interest,
Und dann besteht noch ein Beurteilungsspielraum, ob eine Aussage als Tatsache oder Werturteil qualifiziert wird:
The classification of a statement as one of fact or as a value judgment is a matter which, in the first place, falls within the margin of appreciation of the national authorities – in particular, the courts
Österreich hat den Beurteilungsspielraum genützt: auch der Ruf von Unternehmen ist gesetzlich geschützt, besonders umfangreich im Bereich des UWG (wo eben der Spielraum der Konventionsstaaten noch größer ist). Und die Gerichte haben dem EGMR keinen Ansatzpunkt geboten, korrigierend einzugreifen, weil sie - was im Urteil deutlich zum Ausdruck kommt - die notwendigen Abwägungen nachvollziehbar vorgenommen haben; insbesondere haben sich die Gerichte das Art 10 EMRK-Problem gestellt und ausargumentiert, weshalb sie trotz Debatte von öffentlichem Interesse - was den Beurteilungsspielraum wieder einschränkt - zum Ergebnis gekommen sind, dass die Behauptungen zu unterlassen sind. Ich hätte "Heuschrecke" ja eher als Werturteil gesehen, aber hier hilft nicht nur der Beurteilungsspielraum, sondern auch die Rechtsprechung, die für Werturteile eine Tatsachengrundlage verlangt, die - von den Gerichten festgestellt - nicht gegeben war.

- ein Grenzfall, der die Bedeutung des "margin of appreciation" anschaulich macht
Zusammenfassend: es war sicher ein Grenzfall, in dem sich aber zeigt, dass der EGMR nicht immer, wie ihm oft vorgeworfen wird, als "weiteres Instanzgericht" tätig wird, sondern den Mitgliedstaaten echte Beurteilungsspielräume einräumt.

Es ist wohl zulässig, in einem kleinen Gedankenexperiment zu überlegen, wie die Sache ausgegangen wäre, wären die österreichischen Gerichte zu einem anderen Ergebnis gekommen (dass sich eine Kapitalgesellschaft, die in den Gesundheitsmarkt einsteigen will, eine Bezeichnung als Heuschrecke gefallen lassen müsse), und hätte sich das Unternehmen dann unter Berufung auf Art 8 EMRK an den EGMR gewandt. In diesem Fall müsste die Beurteilung ja grundsätzlich zum selben Ergebnis kommen, wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung betont, auch im heutigen Urteil in Abs 62:
The Court has reiterated many times, that in cases which require the right to respect for private life to be balanced against the right to freedom of expression, the outcome of the application should not, in theory, vary according to whether it has been lodged with the Court under Article 8 of the Convention by the person who was the subject of the statement, or under Article 10 by the person who made the statement.
Dennoch ist gut vorstellbar, dass hier auch das gegenteilige Ergebnis vor dem EGMR hätte bestehen können: "Heuschrecke" wäre auch als Werturteil zu argumentieren gewesen, mit einem Faktenkern, der bloß auf Kapitalgesellschaften abstellt, an denen (wie hier) institutionelle Anleger beteiligt sind, die in neue Geschäftsfelder drängen. Hätten die nationalen Gericht dies ausargumentiert und zusätzlich noch die Bedeutung der Debatte über das Gesundheitssystem unterstrichen und dies wiederum unter Heranziehung der EGMR-Rechtsprechung abgewogen, so wäre durchaus denkbar, dass der EGMR dies als im Beurteilungsspielraum gelegen akzeptiert hätte, ohne eine Verletzung des Art 8 EMRK festzustellen.

Update 23.02.2016: siehe zu diesem Urteil auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.

Monday, December 21, 2015

EGMR: Rechtsanwalt muss es aushalten, auf einem Bewertungsportal als inkompetent bezeichnet zu werden

Vergangene Woche hat der EGMR seine Entscheidung vom 24. November 2015 im Fall Włodzimierz Kucharczyk gegen Polen (Appl. no 72966/13) bekanntgegeben. Darin hat er die Beschwerde eines polnischen Anwalts, der sich durch ein Posting auf einem Bewertungsportal in seiner Ehre verletzt fühlte, als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Die Entscheidung zieht recht weite Grenzen für die Kritik an anwaltlichen Fähigkeiten und kommt überdies zum Ergebnis, dass Art 8 EMRK nicht dazu zwingt, anonyme (oder pseudonyme) Postings generell zu untersagen.

Kommentar auf dem Bewertungsportal
Auf der Website www.znanyprawnik.eu war zum beschwerdeführenden Rechtsanwalt ein Eintrag, in dem 15 von 18 Kommentaren zu seiner Person sehr positiv für ihn waren. Das erste Posting allerdings bewertete seine Leistung als "very poor"; weiters hieß es darin (in der Übersetzung des EGMR): "I advise against [using] this attorney. [He] is utterly ignorant of his job. [He is] disorganised and incompetent." Der Kommentar war unter Pseudonym verfasst worden.

Ausgangsverfahren
Da sich Portalbetreiber weigerte, den Eintrag zu löschen, erstattete der Anwalt Strafanzeige wegen Verleumdung gegen den (unbekannten) Verfasser. Dieses Verfahren wurde eingestellt, weil der Portalbetreiber mitteilte, dass er die IP-Adresse der registrierten Nutzer nicht speichern konnte und so der Verfasser nicht ermittelt werden konnte. In der Folge ging der Anwalt gegen den Portalbetreiber zivilgerichtlich vor, weil dieser durch die Weigerung, das Posting zu löschen, seinen beruflichen Ruf ruiniert und in seine Persönlichkeitsrechte eingegriffen habe. Dabei blieb der Anwalt in allen Instanzen erfolglos (unter anderem im Hinblick darauf, dass das Posting selbst nicht rechtswidrig war und der Portalbetreiber daher auch nach E-Commerce-Recht nicht zur Entfernung verpflichtet war). Der Oberste Gerichtshof führte auch eine Abwägung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung durch und hielt fest, dass der Anwalt einen Beruf mit öffentlichem Vertrauen ausübe und daher öffentliche Bewertung und Meinungen akzeptieren müsse. Das Posting sei auch nicht besonders herabwürdigend noch sei es im Tonfall aggressiv und es habe auch nicht darauf abgezielt, den Anwalt lächerlich zu machen oder seinen Ruf als Anwalt zu zerstören.

Der Anwalt wandte sich an den EGMR, wobei sein Beschwerdevorbringen - er stützte sich nämlich auf Art 6 und Art 10 EMRK - auch nicht gerade für eine besonders positive Beurteilung in der Anwaltsbewertung sprechen. Der EGMR bog das missglückte Vorbringen aber um und prüfte es richtig unter Art 8 EMRK.

Entscheidung des EGMR
Da der Anwalt sich nicht gegen eine staatliche Aktion wandte, war zu prüfen, ob der Staat die sich aus Art 8 EMRK ergebenden positiven Verpflichtungen zum adäquaten Schutz des beruflichen Rufs verletzt habe. Der EGMR verweist dazu gleich auf den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen auf Schutz des guten Rufs und auf freie Meinungsäußerung. Ein Faktor, der bei dieser Abwägung zu berücksichtigen ist, ist die Position der von einer Veröffentlichung betroffenen Person.

- Anwaltsberuf als "profession ob public trust"
Die nationalen Gerichte hatten nicht festgestellt, ob der Anwalt etwa "public figures" vertreten hat oder sonst in aufsehenerregenden Fällen tätig war. Das hindert den EGMR aber nicht, da auch ein Anwalt ein unverzichtbares Element des Justizsystems ist und er einen Beruf öffentlichen Vertrauens ausübt. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse an Kommentaren über die beruflichen Fähigkeiten eines Anwalts - und Anwälte müssen damit leben, dass sie von jedermann, mit dem sie beruflichen Kontakt hatten, beurteilt werden. Wörtlich heißt es in der Entscheidung:
[...]it can readily be accepted that although an attorney has a different status to that of a judge or a prosecutor, his profession is nevertheless one of public trust. As such, he is an indispensable element of the justice system. Whether hired privately or assigned to represent someone under the legal-aid scheme, the role of an attorney is not merely to advise a client on the material aspects of a case or to ensure that a client’s economic interests are well represented vis-à-vis the adversary. His role goes well beyond this private aspect of an attorney-client relationship because that role is primarily to ensure that a person’s right to a fair trial is respected, whether in the determination of such person’s civil rights and obligations or in respect of any criminal charge against him. It is within this context that comments on a lawyer’s professional skills constitute matters in which the community at large has an interest. It follows that, as rightly pointed out by the domestic courts in the instant case, the applicant, as a practising lawyer, should have accepted that he might be subjected to evaluation by anyone with whom he had ever had any professional dealings. [Hervorhebung hinzugefügt]
- Werturteil
Der EGMR teilt auch die Ansicht der polnischen Gerichte, wonach es sich beim Posting um ein Werturteil gehandelt hat, das nicht mehr transportiert habe als den kritischen Eindruck, den der Verfasser von den juristsichen Fähigkeiten des Anwalts hatte ("conveying no more than the author’s critical impressions of the applicant’s legal skills"). Das Posting war nicht beleidigend oder vulgär, enthielt keine Drohungen und keine herabwürdigenden Anschuldigungen, etwa dass der Anwalt ein Disziplinarvergehen oder ein strafrechtliches Delikt begangen habe. Obwohl die Kritik also den Ruf des Anwalts berührt hat, war sie nicht verletzend, schockierend oder verstörend, und sie hat den Ruf des Anwalts auch nicht so sehr beschädigt, dass sie über die Grenzen zulässiger Kritik hinausgegangen wäre. Eine Beschränkung der Äußerungsfreiheit des Posters wäre daher nach Art 10 EMRK unverhältnismäßig gewesen.

- Art 8 EMRK verlangt keine Klarnamenpflicht für Postings
Eine interessante Frage streift der EGMR mehr, als dass er sie abschließend löst (was in einer Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht zu erwarten ist): Müsste der Staat dafür vorsorgen, dass der Verfasser des Postings ausfindig gemacht werden kann? Der EGMR verweist dazu auf den Fall K.U. gegen Finnland (im Blog dazu hier); die Umstände im vorliegenden Fall seien aber nicht einmal entfernt so schwerwiegend wie in jenem Fall ("grooming" von Minderjährigen). Nach den polnischen Rechtsvorschriften hätte der Anwalt zudem, wenn das Posting rechtswidrig gewesen wäre, eine Verfügung gegen den Portalbetreiber sowie allenfalls eine Entschädigung (und als polnische Spezialiät auch eine Entschuldigung) erreichen können; der Portalbetreiber hätte das Posting in diesem Fall auch entfernen müssen, um nicht selbst haftbar zu werden. Dieses System, das (abgesehen von der Entschuldigung) im Wesentlichen auf Basis der E-Commerce-Richtlinie in allen EU-Staaten umgesetzt sein sollte, genügt den Anforderungen des Art 8 EMRK.

Anmerkung
Nach österreichischem Recht besteht ein extrem weitgehendes (begründungsloses) Widerspruchsrecht gegen jede "nicht gesetzlich angeordnete Aufnahme in eine öffentlich zugängliche Datenanwendung" (§ 28 Abs 2 DSG). Wer also nicht in einem Bewertungsportal genannt werden möchte, könnte dies ohne weitere Begründung vom Betreiber verlangen. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Bestimmung allerdings vor kurzem (Erkenntnis vom 08.10.2015, G 264/15) wegen Widerspruchs zu Art 10 EMRK aufgehoben. Ausgangsfall beim VfGH war ein Ärztebewertungsportal, also eine durchaus vergleichbare "Datenanwendung" wie in dem vom EGMR entschiedenen Fall (auch der EGMR vergleicht Anwälte und Ärzte und verweist in seiner Entscheidung auf den Fall Bergens Tidende, in dem er festhielt, dass Vorwürfe von Patientinnen gegen einen Schönheitschirurgen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses betreffen - der VfGH bezieht sich in seinem Erkenntnis auch auf dieses Urteil des EGMR). Der VfGH hat allerdings für das Außerkrafttreten des § 28 Abs 2 DSG eine sehr lange Frist - bis zum 31.12.2016 - gesetzt. Dennoch wird, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist (was im Bereich des E-Commerce-Rechts der Fall wäre), die Aufhebungsfrist wohl dann nicht zu berücksichtigen sein, wenn dies in Widerstreit mit Art 11 GRC steht.

Tuesday, December 01, 2015

Ein Grundrecht auf YouTube-Zugang? EGMR verurteilt Türkei wegen YouTube-Sperre

Das wird Google - als Eigentümer von YouTube - freuen: der EGMR hat im heute verkündeten Urteil Cengiz ua gegen Türkei (Pressemitteilung) YouTube nicht nur als sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs bezeichnet, sondern diesem Dienst auch zugebilligt, das Entstehen eines Bürgerjournalismus ermöglicht zu haben, der oft Dinge ans Licht bringe, die von traditionellen Medien ignoriert würden. Die in der Türkei im Jahr 2008 gerichtlich angeordnete pauschale YouTube-Sperre hat, so der EGMR in seinem Urteil, die Beschwerdeführer in ihrem durch Art 10 EMRK geschützten Recht auf freien Empfang von Informationen und Ideen verletzt.

- Opferstatus
Hat der EGMR damit ein Menschenrecht auf YouTube-Zugang anerkannt, wie es die Süddeutsche zusammenfasst? Das ist vielleicht doch etwas zu verknappt dargestellt. Der EGMR hat in diesem Urteil anerkannt, dass YouTube-Nutzer - unter bestimmten Voraussetzungen - durch eine nicht an sie, sondern an Internet Access Provider gerichtete Sperrverfügung in ihren Rechten verletzt sein können (und damit "Opferstatus" nach der EMRK haben). Das impliziert, dass den Nutzern in solchen Fällen ein Rechtsweg offen stehen muss, um den dadurch bewirkten Eingriff in ihre Rechtsstellung bekämpfen zu können. [Dies erinnert sehr an das Urteil UPC Telekabel Wien des EuGH (im Blog dazu hier), in dem der EuGH zum Ergebnis gekommen ist, dass es bei Sperrverfügungen erforderlich ist, "dass die nationalen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit für die Internetnutzer vorsehen, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen, sobald die vom Anbieter von Internetzugangsdiensten getroffenen Durchführungsmaßnahmen bekannt sind."]

  ... aber nicht für alle
Der EGMR sieht aber nicht undifferenziert alle Nutzer als "Opfer" einer Sperre, sondern betont die notwendige Abwägung der Umstände des Einzelfalls, denn immerhin hat er schon einmal einen last.fm-Nutzer nicht als "Opfer" einer gegen diesen Dienst gerichteten Sperre beurteilt, obwohl dies prima facie vergleichbar scheint. Dass YouTube nicht bloß passiven Musikgenuss ermöglicht, sondern im aktuellen Fall aktive YouTube-Nutzer, die den Dienst auch beruflich/wissenschaftlich nutzten, die Beschwerde erhoben haben, war für die Zuerkennung des Opferstatus im vorliegenden Fall ebenso hilfreich wie der Umstand, dass YouTube eine Plattform für nicht-traditionelle Medien bietet. Und dass der EGMR selbst YouTube-Videos - zB zu den Voraussetzungen der Beschwerdeerhebung - bereitstellt, war der Bedeutung, die der EGMR dem Dienst zubilligt, jedenfalls auch nicht abträglich (wer weiß, wie der Fall mit last.fm ausgegangen wäre, hätte der EGMR seine Verhandlungen über diesen Dienst gestreamt!).

- keine Aussage zur Verhältnismäßigkeit von Sperren
Dass der EMRK im heute entschiedenen Fall den Opferstatus anerkennt, heißt aber nicht zwangsläufig, dass jede Sperre bereits eine Verletzung des Art 10 EMRK bedeuten muss. Im heute entschiedenen Fall lag die Verletzung des Art 10 EMRK darin, dass keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Sperranordnung bestand, sodass der EGMR seine Prüfung schon bei diesem Kriterium beenden konnte. Nach dem klassischen Prüfschema überprüft der EGMR ja zunächst, ob überhaupt ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt (das war hier gegeben) und danach, ob der Eingriff eine gesetzliche Grundlage hatte. Ist der Eingriff gesetzlich gedeckt, folgt die Prüfung, ob der Eingriff einem legitimen Ziel (im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK) diente und schließlich, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist. Zu diesen Kriterien hat sich der EGMR im vorliegenden Fall nicht geäußert (auch wenn dies der Kammerpräsident, wie er in einem Sondervotum schreibt, als sinnvoll angesehen hätte).

Ich gehe davon aus, dass der EGMR bei Vorliegen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage zum Ergebnis kommen könnte, dass eine Sperre legitimen Zielen dient (zB der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung); als wenig wahrscheinlich halte ich es aber, dass er eine derartig großflächige Sperranordnung wie die nicht näher differenzierte YouTube-Sperre als verhältnismäßig ansehen würde. Spannend scheint mir die Frage, wie die Sachlage zu beurteilen ist, wenn die Sperranordnung - wie dies nach der aktuellen türkischen Rechtslage der Fall ist - erst erfolgt, wenn der Diensteanbieter (also zB YouTube, nicht der Internet Access Provider) von den nationalen Behörden beanstandete Videos nicht entfernt, also gewissermaßen erst als Eskalationsstufe. Auf diese Fragen gibt das Urteil leider keine Antwort - und insofern kann man also auch nicht von einem unbedingten "Menschenrecht auf YouTube-Zugang" ausgehen.

- Bedeutung des Internet und von nicht-traditionellen Medien
Das Urteil schreibt die Rechtsprechung des EGMR fort, wonach das Internet "eines der wichtigsten Mittel des Einzelnen für die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit ist", und es zeigt, dass der EGMR den Bürgerjournalismus als Korrektiv für partielles Versagen der traditionellen Medien ansieht (im Englischen würde der Gerichtshof wohl den Begriff "mainstream media" verwenden), der gerade deshalb von Bedeutung ist.

Im Detail zum heutigen Urteil:

Zum Ausgangsfall
Am 5. Mai 2008 ordnete das erstinstanzliche Strafgericht von Ankara, gestützt auf das türkische Gesetz Nr. 5651, die Sperre des Zugangs zur Website http://www.youtube.com und zu einer näher spezifizierten IP-Range an. Grund dafür waren zehn auf YouTube verfügbare Videos, die nach Ansicht des Gerichts das Ansehen Atatürks beleidigten - nach türkischem Recht eine Straftat. Die YouTube-Sperre dauerte bis 30.10.2010.

Drei Rechtswissenschafter - Serkan Cengiz, Yaman Akdeniz und Kerem Altıparmak - wollten sich damit nicht abfinden und beantragten die Aufhebung der Sperre. Sie blieben vor den nationalen Gerichten erfolglos, zum einen weil die Gerichte zum Ergebnis kamen, dass die Sperre rechtmäßig war, und zum anderen, weil den Beschwerdeführern keine Parteistellung und damit kein Rechtsmittelrecht im Verfahren über die YouTube-Sperre zukomme.

Eingriff in die Meinungsfreiheit der YouTube-Nutzer?
Vor dem EGMR war vor allem strittig, ob die Beschwerdeführer überhaupt geltend machen konnten, durch die - nicht gegen sie gerichtete - Sperranordnung in ihrem durch Art 10 EMRK geschützten Rechte im Sinne des Art 34 EMRK verletzt zu sein. Die EMRK kennt nämlich keine Popularklage, die Beschwerdeführer müssen geltend machen, selbst direkt oder indirekt Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, die von einem staatlichen Akt (oder einem dem Staat zurechenbaren Akt) ausgeht.

In der Entscheidung Tanrıkulu ua gegen Türkei hatte der EGMR die Leser einer Tageszeitung, deren Vertrieb untersagt worden war, nicht als "Opfer" anerkannt; ebenso in der Entscheidung Akdeniz gegen Türkei einen Nutzer von myspace und last.fm (der damalige Beschwerdeführer Yaman Akdeniz ist auch Beschwerdeführer im nun entschiedenen Fall).

Unter Hinweis auf diese beiden Entscheidungen hält der EGMR fest, dass die Frage, ob jemand Opfer einer Zugangssperre zu einer Website ist, eine Einzelfallbeurteilung verlangt. Die Antwort hängt vor allem davon ab, wie der Betroffene die Seite nutzt wie schwer die Folgen der Sperre für ihn sind. Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass das Internet heute eines der wichtigsten Mittel des Einzelnen für die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit ist, wie der EGMR dies bereits im Urteil Yıldırım (dazu im Blog hier) festgestellt hat:
[...] la réponse à la question de savoir si un requérant peut se prétendre victime d’une mesure de blocage d’accès à un site internet dépend donc d’une appréciation des circonstances de chaque affaire, en particulier de la manière dont celui-ci utilise le site internet et de l’ampleur des conséquences de pareille mesure qui peuvent se produire pour lui. Entre également en ligne de compte le fait que l’Internet est aujourd’hui devenu l’un des principaux moyens d’exercice par les individus de leur droit à la liberté de recevoir ou de communiquer des informations ou des idées: on y trouve des outils essentiels de participation aux activités et débats relatifs à des questions politiques ou d’intérêt public (Ahmet Yıldırım, précité, § 54).
Im konkreten Fall hatten die Beschwerdeführer YouTube aktiv genutzt und auch dargelegt, dass sich die Sperre von YouTube auf ihre berufliche Tätigkeit auswirke; sie nutzten die Plattform nicht nur zum Ansehen von berufsbezogenen Videos, sondern luden auch selbst Videos hoch und teilten sie. Zwei der Beschwerdeführer nutzten YouTube auch zur Veröffentlichung von wissenschaftlichen Aktivitäten.

Der EGMR sieht den Fall daher näher am Fall Yıldırım (wo einem Wissenschafter der Zugang zu Google Pages - auf denen er Arbeiten veröffentlichte - verwehrt worden war) als am Fall Akdeniz, wo es um einen bloßen Nutzer von Musik-Diensten ging. Zudem verbreite Youtube nicht nur Musik- und künstlerische Werke, sondern sei eine sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs sowie für politische und soziale Aktivitäten. Die Sperre von YouTube habe zB den Zugang zu einer Seite gesperrt, die besondere Informationen für Beschwerdeführer vor dem EGMR enthielt, welche auf andere Art nicht leicht zugänglich seien (siehe zB das Video, wie man eine Beschwerde einbringt).

Der EGMR betont dann neuerlich die Wichtigkeit des Internets für die freie Meinungsäußerung (Hinweise auf Times Newspapers (Nr 1 und 2), Abs 27; und Delfi, Abs 110). YouTube sei zweifelsfrei ein bedeutendes Instrument zur Ausübung der freien Meinungsäußerung und zum Empfang von Informationen. Im Besonderen sei politische Information, die von traditionellen Medien ignoriert worden sei, oft über YouTube bekannt gemacht worden, und YouTube habe auch die Entwicklung eines Bürgerjournalismus ermöglicht. Unter diesem Gesichtspunkt sei YouTube einzigartig im Hinblick auf seine Eigenschaften, seine Zugänglichkeit und seine möglichen Wirkungen. Für die Beschwerdeführer habe es kein Äquivalent zu YouTube gegeben:
En particulier, comme les requérants l’ont noté à juste titre, les informations politiques ignorées par les médias traditionnels ont souvent été divulguées par le biais de YouTube, ce qui a permis l’émergence d’un journalisme citoyen. Dans cette optique, la Cour admet que cette plateforme était unique compte tenu de ses caractéristiques, de son niveau d’accessibilité et surtout de son impact potentiel, et qu’il n’existait, pour les requérants, aucun équivalent.
Der türkische Verfassungsgerichtshof habe dies in zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2014 betreffend Twitter und YouTube ebenfalls so gesehen und den Opferstatus der Beschwerdeführer anerkannt. Der EGMR teilt diese Beurteilung ausdrücklich und kommt zum Ergebnis, dass im konkreten Fall der Opferstatus der Beschwerdeführer gegeben ist. Der EGMR formuliert dabei vorsichtig; er betont die Notwendigkeit einer flexiblen Handhabung der Kriterien für den Opferstatus und des Abstellens auf die Umstände des Einzelfalls. Die Beschwerdeführer waren aber als aktive YouTube-Nutzer durch die gerichtlich angeordnete Sperre für lange Zeit vom Zugang zu YouTube ausgeschlossen und damit durch eine dem Staat zurechenbare Maßnahme in ihrem Recht auf Empfang von Informationen und Ideen betroffen - der EGMR bejaht damit das Vorliegen eines Eingriffs in die durch Art 10 EMRK geschützten Rechte.

Keine gesetzliche Grundlage für den Eingriff
Vergleichsweise kurz fällt die Beurteilung des EGMR zur Rechtfertigung des Eingriffs aus: wie schon im Fall Yıldırım (dazu im Blog hier) ausgeführt, reichte die von den türkischen Gerichten herangezogene gesetzliche Grundlage nach Ansicht des EGMR nicht aus, um den Eingriff zu legitimieren (siehe dazu noch unten zum Sondervotum von Richter Lemmens).

Der EGMR kam daher - einstimmig - zum Ergebnis, dass eine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag.

Rechtsmittelrecht?
Ein Beschwerdeführer machte vor dem EGMR auch geltend, dass ihm kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Sperre zur Verfügung stand und er dadurch in seinen Rechten nach Art 6 EMRK verletzt worden sei. Der EGMR sah es - auf Grund der Entscheidung über die Verletzung nach Art 10 EMRK - als nicht mehr erforderlich, auch über diese Frage zu entscheiden.

Strukturelle Probleme in der Türkei?
Schließlich beantragten die Beschwerdeführer noch, dass der EGMR der Türkei nach Art 46 EMRK mitteile, welche allgemeinen Maßnahmen zu treffen seien, um das Problem zu beheben. Dazu hielt der EGMR fest, dass der Fall auf strukturelle Probleme in der Türkei hinweise, dass aber das Gesetz - das den Anforderungen des EGMR nicht entspach - mittlerweile geändert wurde und es nicht Aufgabe des EGMR sei, abstrakt über die Vereinbarkeit der nationalen Rechtslage mit der EMRK zu urteilen (legt man die in diesem Urteil zum Ausdruck kommenden Maßstäbe an, dürfte aber wohl auch die neue Rechtslage - die nun ausdrücklich die Sperre des Zugangs zu einer gesamten Website ermöglicht - den Anforderungen des EGMR nicht genügen),

Sondervotum von Richter Lemmens
Paul Lemmens, der Präsident der entscheidenden Kammer, verfasste ein zustimmendes Sondervotum, in dem er darauf hinweist, dass die Begründung im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage unklar sei. Seiner Ansicht nach lag eine gesetzliche Grundlage vor, die konkrete Maßnahme habe aber nicht wirksam auf diese Grundlage gestützt werden können. Außerdem habe der EGMR die Gelegenheit versäumt, auch darauf einzugehen, ob die Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgt habe und verhältnismäßig gewesen sei. Wäre der EGMR darauf eingegangen, wenn auch nur als obiter dictum, hätte dies den Bürgern und den Behörden der Türkei Aufschluss über die Prinzipien geben können, die bei der Anwendung auch des geänderten Gesetzes über Internetsperren zu berücksichtigen sind.

PS (update 02.12.2015): wer mehr zum türkischen Gesetz Nr. 5651 wissen will, kann das (in englsicher Sprache) in einem von zwei der drei Beschwerdeführer verfassten Buch nachlesen, das online kostenlos verfügbar ist: Dr. Yaman AKDENIZ & Dr. Kerem ALTIPARMAK, Internet: Restricted Access A Critical Assessment of Internet Content Regulation and Censorship in Turkey (November 2008).

Friday, November 20, 2015

"With respect": Court of Appeal hat Zweifel an Reichweite des EuGH-Urteils zur Vorratsdatenspeicherung - neues Vorabentscheidungsersuchen

Der Court of Appeal für England und Wales (Civil Division) hat in einem heute bekanntgegebenen Urteil entschieden, dem EuGH Fragen zur Vorratsdatenspeicherung vorzulegen ([2015] EWCA Civ 1185).

Die Entscheidung wurde in einem Verfahren getroffen, das (ua) von zwei Parlamentariern (dem konservativen David Davis und Tom Watson von Labour) initiiert worden war. Es geht dabei um den Data Retention and Investigatory Powers Act 2014 ("DRIPA"), der es - vereinfacht gesagt - ermöglicht, Telekom-Betreiber zur Speicherung von Vorratsdaten für höchstens zwölf Monate zu verpflichten und der den Zugang zu diesen Daten, unter anderem aus Gründen der nationalen Sicherheit, aber auch des wirtschaftlichen Wohlergehens des UK, regelt. Der (in erster Instanz entscheidende) High Court hatte darin einen Widerspruch zum Unionsrecht gesehen und section 1 von DRIPA ab 1. März 2016 als (teilweise) unanwendbar erklärt (Urteil: [2015] EWHC 2092 (Admin)).

Für den Court of Appeal ist die Sache nicht so eindeutig, er tendiert eher dazu, DRIPA als mit Unionsrecht vereinbar zu beurteilen. Zugleich hat der Court of Appeal erhebliche Zweifel, was denn der EuGH mit dem Urteil zur Vorratsdaten-RL (C-293/12 Digital Rights Ireland und C-594/12 Seitlinger ua) genau festlegen wollte. Höflich, wie es ein englisches Gericht eben sein muss, formuliert der Court of Appeal:
Although the CJEU has pronounced in Digital Rights Ireland, there is, with respect, considerable doubt as to the effect of its decision. On this, we have the misfortune to have come to a provisional view which differs from that of the Divisional Court.
Das "Unglück" des Instanzgerichts, zu einem anderen Ergebnis als das erstinstanzliche Gericht zu kommen, verbunden mit den Zweifeln über die Reichweite des VDS-Urteils, führt also zu einem neuen Vorabentscheidungsersuchen.

Anforderungen an VDS-Richtlinie nicht dieselben wie an nationale VDS-Regeln?
Der Court of Appeal streicht heraus, dass der EuGH die Vereinbarkeit einer EU-Richtlinie mit der Grundrechtecharta zu beurteilen hatte. Was der EuGH als Mindestanforderungen an eine EU-Richtlinie beurteilte, müsse nicht notwendigerweise automatisch auch für nationale Rechtsvorschriften gelten. Die vom EuGH in den RNr 57-59 und 60-62 seines Urteils vorgenommene Aufzählung sei bloß deskriptiv, ein "catalogue of failings and omissions". Da der EuGH die Richtlinie zu beurteilen gehabt habe, habe er nicht auf "safeguards" eingehen können, die auf nationaler Ebene bestehen. Zudem seien nicht alle kritischen Anmerkungen des EuGH als zwingende Anforderungen (für Unionsrecht oder nationales Recht) zu verstehen, dazu seien sie zu allgemein. Der EuGH habe schlicht die Fehler der Richtlinie beschrieben und keine zwingenden Anforderungen festgelegt. Die Entscheidung des EuGH, dass die Vorratsdaten-RL ungültig ist, sei eine Folge des kumulativen Effekts von allem gewesen, was die Richtlinie nicht beinhaltet habe:
It is therefore our provisional view that the Court of Justice in Digital Rights Ireland was not laying down specific mandatory requirements of EU law but was simply identifying and describing protections that were entirely absent from the harmonised EU regime. The Court’s conclusion that the Data Retention Directive was unlawful was compelled by the cumulative effect of what was not in the Data Retention Directive.
Das betrifft zunächst die Beschränkung des Zugangs auf Fälle schwerwiegender Straftaten. Der Court of Appeal akzeptiert zwar, dass grundsätzlich die Rechtfertigung für den Datenzugang umso gewichtiger sein muss, je gewichtiger der Eingriff in Grundrechte ist, glaubt aber nicht, dass der EuGH vorgegeben habe, dass ein Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten nur zum Zweck der Verhinderung, Aufklärung oder Verfolgung schwerer Straftaten zulässig sein sollte. Ähnlich sieht er das im Hinblick auf das Erfordernis vorheriger richterlicher oder sonst unabhängiger Genehmigung (zumal der EuGH dabei - in RNr 62 seines Urteils - weder auf Rechtsprechung verwiesen habe noch auf gegenläufige Argumente eingegangen sei). Auch dass Daten zwingend innerhalb der Union zu speichern seien, sei nicht als Mindestanforderung an nationale Rechtsvorschriften zu verstehen.

Anwendungsbereich des Unionsrechts
Interessant sind die Ausführungen zur Reichweite der Grundrechtecharta. Unstrittig sei, dass die Rechtsvorschriften zur Speicherung der Daten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und daher den Anforderungen des Art 15 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation entsprechen müssen. Das teilt auch der Court of Appeals, der sowohl Speicherverpflichtung als auch Speicherung im Anwendungsbereich des Unionsrechts sieht. Unklarer sei das beim Zugang zu den gespeicherten Daten: Der EuGH habe festgehalten, dass bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Systems der Vorratsdatenspeicherung die Regeln für den Zugang zu diesen Daten notwendigerweise mit zu berücksichtigen sind. Der EuGH habe dies aber im Zusammenhang mit der Prüfung einer EU-Richtlinie ausgesprochen, und es wäre "überraschend", hätte er damit beabsichtigt, zwingende Anforderungen für ein nationales Regelwerk festzulegen, das außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liege, außer insoweit, als es beiläufig für das System der Datenspeicherung relevant sei:
Nevertheless, the CJEU was here concerned with a Directive which established a regime for retention. Having regard to this context it would, in our view, be surprising if the CJEU had intended to lay down definitive mandatory requirements for an access regime which lies outside the scope of EU law save to the extent that it is incidentally relevant to the retention regime. [...] It seems to us more likely, therefore, that the CJEU was simply pointing to the failure of the Data Retention Directive to provide any safeguards in this regard.
Der EuGH, so meint der Court of Appeals daher, habe sich mit der Frage von zwingenden Anforderungen an nationale Regeln für den Zugang zu Vorratsdaten gar nicht befasst.

Ging der EuGH über die Anforderungen der EGMR-Rechtsprechung zu Art 8 EMRK hinaus?
Der Court of Appeal ist sich auch nicht sicher, ob der EuGH in seinem Urteil weiter gehen wollte als der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art 8 EMRK. Er bezieht sich dabei vor allem auf das Urteil Kennedy des EGMR, in dem dieser keine vorhergehende richterliche Genehmigung für den Zugang zu gespeicherten Daten (hier sogar zu Inhaltsdaten) verlangt hatte. Der EuGH habe dagegen in RNr 62 seines Urteils auffallend genau ("with a striking degree of particularity") darauf verwiesen, dass "der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den auf Vorrat gespeicherten Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle [unterliegt], deren Entscheidung den Zugang zu den Daten und ihre Nutzung auf das zur Erreichung des verfolgten Ziels absolut Notwendige beschränken soll und im Anschluss an einen mit Gründen versehenen Antrag der genannten Behörden im Rahmen von Verfahren zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung von Straftaten ergeht." Wenn der EuGH damit - was der Court of Appeal nicht glaubt - weiter gehen wollte als der EGMR, so habe er dafür keine Gründe angegeben und auch die Rechtsprechung des EGMR nicht zitiert.

Vorlagefragen
Der Court of Appeal, der die Rechtsansicht des Erstgerichts demnach überwiegend nicht teilt, sieht sich veranlasst, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Dies auch vor dem ausdrücklich angesprochenen Hintergrund, dass sechs nationale Gerichte, darunter fünf Höchstgerichte, im Gefolge des EuGH-Urteils zur Vorratsdaten-RL nationale Rechtsvorschriften aufgehoben haben (darunter natürlich auch der österreichische Verfassungsgerichtshof). Zudem sei der "true effect" des Vorratsdaten-Urteils des EuGH für die Gültigkeit jeder zukünftigen Regelung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich von zentraler Bedeutung.

Der Court of Appeal formuliert die folgenden zwei Fragen, die er dem EuGH vorlegen möchte.
(1) Did the CJEU in Digital Rights Ireland intend to lay down mandatory requirements of EU law with which the national legislation of Member States must comply?
(2) Did the CJEU in Digital Rights Ireland intend to expand the effect of Articles 7 and/or 8, EU Charter beyond the effect of Article 8 as established in the jurisprudence of the ECtHR?
Zu den endgültigen Fragen werden, dem englischen Prozessrecht folgend, noch die Parteien gehört; die tatsächlich gestellten Fragen können also noch abweichen. Meines Erachtens wären die Fragen, so wie sie jetzt vorliegen, jedenfalls nicht geeignet, vom EuGH ohne großzügige Umdeutung (die der EuGH freilich oft vornimmt) beantwortet zu werden.

Der Court of Appeal wird ein beschleunigtes Verfahren beantragen und schlägt auch vor, die Rechtssache mit dem bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des Kammarrätten i Stockholm, das sich mit der Vereinbarkeit nationaler Vorratsdaten-Regelungen mit Art 15 Abs 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation befasst, zu verbinden.

Update 17.01.2016: Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 28.12.2015 beim EuGH eingelangt und zu C-698/15 Davis ua anhängig; die konkreten Vorlagefragen hat der EuGH noch nicht veröffentlicht (siehe zum Vorabentscheidungsersuchen auch den Beitrag auf EU Law Radar).

Update 17.03.2016: Die tatsächlichen Vorlagefragen wurden nun vom EuGH veröffentlicht. Sie lauten:
1. Legt das Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 und C-594/12, Digital Rights Ireland und Seitlinger u. a., ECLI:EU:C:2014:238 (im Folgenden: Digital Rights Ireland) (einschließlich insbesondere der Rn. 60 bis 62) verbindliche, für die nationale Regelung eines Mitgliedstaats über den Zugang zu gemäß den nationalen Rechtsvorschriften auf Vorrat gespeicherten Daten geltende Voraussetzungen für die Vereinbarkeit mit den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) fest? 
2. Erweitert das Urteil Digital Rights Ireland des Gerichtshofs den Anwendungsbereich von Art. 7 und/oder Art. 8 der Charta über den Anwendungsbereich von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wie er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) festgestellt ist, hinaus?
Der EuGH hat die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens beschlossen (Beschluss vom 01.02.2016), am 12.04.2016 findet die Verhandlung vor dem EuGH statt.

Update 26.07.2016: zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in dieser Rechtssache siehe im Blog hier,