Thursday, November 23, 2017

EGMR: Standard gegen Österreich - "Spiritus Rector einer Bespitzelungsaktion" ist Tatsachenbehauptung, nicht Werturteil

In der Kärntner Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft (KABEG) ist es nicht immer ruhig zugegangen, gerade in Personalangelegenheiten. Vor allem die Ära der KABEG-Vorständin Manegold (2010 bis 2013) beschäftigte vielfach Zivil- und Strafgerichte (nur ein paar beispielhafte Medienberichte: hier, hier, hier, hier, hier, hier; ein Ende ist noch immer nicht absehbar).

KABEG-"Spitzelaffäre"
Nur ein kleiner Nebenstrang all dieser Konflikte landete jetzt vor dem EGMR: die KABEG-Vorständin soll - so stand das in einem Vorstandsprotokoll - "vorsorglich einen Informanten" in eine Betriebsversammlung von Ärzten einer KABEG-Krankenanstalt entsandt haben. Über diese Spitzelaffäre wurde in den Medien berichtet (zB Presse, orf.at); im Artikel des Standard stand zusätzlich noch, dass "als Spiritus Rector der Spitzelaktion KABEG-Aufsichtsratschef Kurt S. [damals Fraktionsführer der Freiheitlichen Partei in Kärnten] vermutet" werde; dieser habe auch auf Journalisten im Zusammenhang mit kritischen Berichten über die KABEG Druck ausgeübt (der - um diese Passagen bereinigte - Standard-Artikel ist hier zu finden).

Nationales Verfahren
Kurt S. zog vor Gericht und hatte Erfolg: das OLG Wien sah im Vorwurf, "Spiritus Rector" - im Sinn von Ideengeber - einer Bespitzelungsaktion gewesen zu sein, einen konkreten (und rufschädigenden) Verhaltensvorwurf, nicht aber eine politische Bewertung. Da der Standard keinen Wahrheitsbeweis für den Vorwurf angeboten hatte, und daher eine unwahre ehrverletzende Tatsachenbehauptung vorlag, wurde Kurt S. eine Entschädigung von jeweils 1.500 € (für die Print- bzw. Online-Veröffentlichung) zugesprochen (Urteilsveröffentlichung des erstinstanzlichen Urteils auf derstandard.at). Ein dagegen erhobener Erneuerungsantrag an den OGH blieb erfolglos (OGH 26.06.2013, 15 Os 34/13h).

Im zivilgerichtlichen Verfahren drang Kurt S. mit seinem auf § 1330 ABGB gestützten Unterlassungsbegehren ebenfalls durch. Die Entscheidung des Strafgerichts im Verfahren nach dem Mediengesetz wurde nach der ständigen Rechtsprechung des OGH als für das Zivilverfahren bindend erachtet; das OLG Wien ließ daher auch die Revision an den OGH nicht zu.

EGMR-Urteil
Die Medieninhaberin des Standard erhob gegen beide Entscheidungen Beschwerde an den EGMR; dieser hat mit dem heute verkündeten Urteil Standard Verlagsgesellschaft mbH gegen Österreich (Appl. nos. 19068/13 und 73322/13) darüber entschieden. Das Urteil erging in einem nach Art. 28 EMRK gebildeten Ausschuss, d. h. in einem aus drei RichterInnen gebildeten Senat auf der Grundlage gefestigter Rechtsprechung des EGMR.

- Zulässigkeit
Der Einwand der österreichischen Regierung, im zivilgerichtlichen Verfahren sei der innerstaatliche Instanzenzug nicht ausgeschöpft worden, verfing nicht: der EGMR akzeptierte, dass nach der ständigen Rechtsprechung des OGH im Zivilverfahren die Frage der Bedeutung der hier strittigen Aussage nicht mehr überprüft werden hätte können (OGH 23.11.2000, 6 Ob 265/00i), sodass keine Verpflichtung zur Erhebung einer (diesbezüglich jedenfalls aussichtslosen) außerordentlichen Revision bestand.

Damit liegt hier der irgendwie doch bemerkenswerte Fall vor, dass im Strafverfahren ein Rechtsbehelf, den es hier nach dem Wortlaut des Gesetzes gar nicht gibt (Erneuerungsantrag nach § 363a StPO) als wirksames Rechtsmittel angesehen wird, das zur Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges ergriffen werden muss (siehe die Entscheidung ATV Privatfernseh-GmbH gegen Österreich). Demgegenüber muss im Zivilverfahren ein nach dem Gesetz bestehendes Rechtsmittel (außerordentliche Revision) - weil nach der Rechtsprechung hier aussichtslos - nicht ergriffen werden.

- Prüfung nach Art. 10 EMRK
Unstrittig lagen Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung vor, die gesetzlich vorgesehen waren (§ 111 StGB, § 6 Mediengesetz, § 1330 ABGB) und einem legitimen Ziel - dem Schutz der Rechte und des guten Rufs anderer - dienten. Strittig war, ob die Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig waren, wobei es vor allem darum ging, ob der Begriff "Spiritus Rector" hier als Tatsachenbehauptung oder als Werturteil anzusehen war.

Der EGMR verweist zunächst wieder auf die in seiner Rechtsprechung (insbesondere Axel Springer AG [im Blog hier], Von Hannover (Nr. 2) [im Blog hier] und Couderc und Hachette Filipacchi) aufgestellten Kriterien für die Abwägung zwischen den nach Art. 8 und nach Art. 10 EMRK jeweils geschützten Rechten, handelt diese aber dann nur sehr kursorisch ab, zumal es hier letztlich doch nur um die Qualifikation der konkreten Aussage geht. Der EGMR stellt aber außer Frage, dass die Rolle eines Politikers im Zusammenhang mit einer Bespitzelungsaktion im öffentlichen Gesundheitswesen eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist. Außerdem sind die Grenzen der hinzunehmenden Kritik bei einer public figure, wie hier Kurt S., im Allgemeinen weiter als bei einer Privatperson. Dies gilt allerdings nicht bei unwahren ehrverletzenden (Tatsachen-)Behauptungen ohne Tatsachengrundlage.

Der EGMR sieht keinen Anlass, im vorliegenden Fall nicht den nationalen Gerichten zu folgen, wonach die "Spiritus Rector"-Behauptung von den Lesern dahin verstanden werden musste, dass Kurt S. eine aktive Rolle in dieser Bespitzelungsaktion gespielt habe. Dies sei eine Tatsachenbehauptung, die einem Wahrheitsbeweis zugänglich sei. Dass Kurt S. mit anderen Bespitzelungsaktionen in Zusammenhang gebracht worden sei, könne nicht als Beweis einer Verwicklung im konkreten Fall gesehen werden.

Der EGMR beurteilt den Eingriff auch als verhältnismäßig, sowohl im Hinblick auf die vergleichsweise niedrige Entschädigung als auch auf die Unterlassungsverpflichtung. Auch dass das Zivilgericht an die strafgerichtliche Entscheidung gebunden war, stört den EGMR nicht:
In the Court’s view this issue does not raise concerns because the two sets of proceedings related to the very same factual basis and parties, and the subject matter of the injunction proceedings did not require any assessment of facts or law beyond the subject matter of the proceedings under the Media Act.
[Update: siehe nun auch den Beitrag von Emma Foubister auf Inforrm's Blog]