Monday, December 21, 2015

EGMR: Rechtsanwalt muss es aushalten, auf einem Bewertungsportal als inkompetent bezeichnet zu werden

Vergangene Woche hat der EGMR seine Entscheidung vom 24. November 2015 im Fall Włodzimierz Kucharczyk gegen Polen (Appl. no 72966/13) bekanntgegeben. Darin hat er die Beschwerde eines polnischen Anwalts, der sich durch ein Posting auf einem Bewertungsportal in seiner Ehre verletzt fühlte, als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Die Entscheidung zieht recht weite Grenzen für die Kritik an anwaltlichen Fähigkeiten und kommt überdies zum Ergebnis, dass Art 8 EMRK nicht dazu zwingt, anonyme (oder pseudonyme) Postings generell zu untersagen.

Kommentar auf dem Bewertungsportal
Auf der Website www.znanyprawnik.eu war zum beschwerdeführenden Rechtsanwalt ein Eintrag, in dem 15 von 18 Kommentaren zu seiner Person sehr positiv für ihn waren. Das erste Posting allerdings bewertete seine Leistung als "very poor"; weiters hieß es darin (in der Übersetzung des EGMR): "I advise against [using] this attorney. [He] is utterly ignorant of his job. [He is] disorganised and incompetent." Der Kommentar war unter Pseudonym verfasst worden.

Ausgangsverfahren
Da sich Portalbetreiber weigerte, den Eintrag zu löschen, erstattete der Anwalt Strafanzeige wegen Verleumdung gegen den (unbekannten) Verfasser. Dieses Verfahren wurde eingestellt, weil der Portalbetreiber mitteilte, dass er die IP-Adresse der registrierten Nutzer nicht speichern konnte und so der Verfasser nicht ermittelt werden konnte. In der Folge ging der Anwalt gegen den Portalbetreiber zivilgerichtlich vor, weil dieser durch die Weigerung, das Posting zu löschen, seinen beruflichen Ruf ruiniert und in seine Persönlichkeitsrechte eingegriffen habe. Dabei blieb der Anwalt in allen Instanzen erfolglos (unter anderem im Hinblick darauf, dass das Posting selbst nicht rechtswidrig war und der Portalbetreiber daher auch nach E-Commerce-Recht nicht zur Entfernung verpflichtet war). Der Oberste Gerichtshof führte auch eine Abwägung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung durch und hielt fest, dass der Anwalt einen Beruf mit öffentlichem Vertrauen ausübe und daher öffentliche Bewertung und Meinungen akzeptieren müsse. Das Posting sei auch nicht besonders herabwürdigend noch sei es im Tonfall aggressiv und es habe auch nicht darauf abgezielt, den Anwalt lächerlich zu machen oder seinen Ruf als Anwalt zu zerstören.

Der Anwalt wandte sich an den EGMR, wobei sein Beschwerdevorbringen - er stützte sich nämlich auf Art 6 und Art 10 EMRK - auch nicht gerade für eine besonders positive Beurteilung in der Anwaltsbewertung sprechen. Der EGMR bog das missglückte Vorbringen aber um und prüfte es richtig unter Art 8 EMRK.

Entscheidung des EGMR
Da der Anwalt sich nicht gegen eine staatliche Aktion wandte, war zu prüfen, ob der Staat die sich aus Art 8 EMRK ergebenden positiven Verpflichtungen zum adäquaten Schutz des beruflichen Rufs verletzt habe. Der EGMR verweist dazu gleich auf den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen auf Schutz des guten Rufs und auf freie Meinungsäußerung. Ein Faktor, der bei dieser Abwägung zu berücksichtigen ist, ist die Position der von einer Veröffentlichung betroffenen Person.

- Anwaltsberuf als "profession ob public trust"
Die nationalen Gerichte hatten nicht festgestellt, ob der Anwalt etwa "public figures" vertreten hat oder sonst in aufsehenerregenden Fällen tätig war. Das hindert den EGMR aber nicht, da auch ein Anwalt ein unverzichtbares Element des Justizsystems ist und er einen Beruf öffentlichen Vertrauens ausübt. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse an Kommentaren über die beruflichen Fähigkeiten eines Anwalts - und Anwälte müssen damit leben, dass sie von jedermann, mit dem sie beruflichen Kontakt hatten, beurteilt werden. Wörtlich heißt es in der Entscheidung:
[...]it can readily be accepted that although an attorney has a different status to that of a judge or a prosecutor, his profession is nevertheless one of public trust. As such, he is an indispensable element of the justice system. Whether hired privately or assigned to represent someone under the legal-aid scheme, the role of an attorney is not merely to advise a client on the material aspects of a case or to ensure that a client’s economic interests are well represented vis-à-vis the adversary. His role goes well beyond this private aspect of an attorney-client relationship because that role is primarily to ensure that a person’s right to a fair trial is respected, whether in the determination of such person’s civil rights and obligations or in respect of any criminal charge against him. It is within this context that comments on a lawyer’s professional skills constitute matters in which the community at large has an interest. It follows that, as rightly pointed out by the domestic courts in the instant case, the applicant, as a practising lawyer, should have accepted that he might be subjected to evaluation by anyone with whom he had ever had any professional dealings. [Hervorhebung hinzugefügt]
- Werturteil
Der EGMR teilt auch die Ansicht der polnischen Gerichte, wonach es sich beim Posting um ein Werturteil gehandelt hat, das nicht mehr transportiert habe als den kritischen Eindruck, den der Verfasser von den juristsichen Fähigkeiten des Anwalts hatte ("conveying no more than the author’s critical impressions of the applicant’s legal skills"). Das Posting war nicht beleidigend oder vulgär, enthielt keine Drohungen und keine herabwürdigenden Anschuldigungen, etwa dass der Anwalt ein Disziplinarvergehen oder ein strafrechtliches Delikt begangen habe. Obwohl die Kritik also den Ruf des Anwalts berührt hat, war sie nicht verletzend, schockierend oder verstörend, und sie hat den Ruf des Anwalts auch nicht so sehr beschädigt, dass sie über die Grenzen zulässiger Kritik hinausgegangen wäre. Eine Beschränkung der Äußerungsfreiheit des Posters wäre daher nach Art 10 EMRK unverhältnismäßig gewesen.

- Art 8 EMRK verlangt keine Klarnamenpflicht für Postings
Eine interessante Frage streift der EGMR mehr, als dass er sie abschließend löst (was in einer Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht zu erwarten ist): Müsste der Staat dafür vorsorgen, dass der Verfasser des Postings ausfindig gemacht werden kann? Der EGMR verweist dazu auf den Fall K.U. gegen Finnland (im Blog dazu hier); die Umstände im vorliegenden Fall seien aber nicht einmal entfernt so schwerwiegend wie in jenem Fall ("grooming" von Minderjährigen). Nach den polnischen Rechtsvorschriften hätte der Anwalt zudem, wenn das Posting rechtswidrig gewesen wäre, eine Verfügung gegen den Portalbetreiber sowie allenfalls eine Entschädigung (und als polnische Spezialiät auch eine Entschuldigung) erreichen können; der Portalbetreiber hätte das Posting in diesem Fall auch entfernen müssen, um nicht selbst haftbar zu werden. Dieses System, das (abgesehen von der Entschuldigung) im Wesentlichen auf Basis der E-Commerce-Richtlinie in allen EU-Staaten umgesetzt sein sollte, genügt den Anforderungen des Art 8 EMRK.

Anmerkung
Nach österreichischem Recht besteht ein extrem weitgehendes (begründungsloses) Widerspruchsrecht gegen jede "nicht gesetzlich angeordnete Aufnahme in eine öffentlich zugängliche Datenanwendung" (§ 28 Abs 2 DSG). Wer also nicht in einem Bewertungsportal genannt werden möchte, könnte dies ohne weitere Begründung vom Betreiber verlangen. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Bestimmung allerdings vor kurzem (Erkenntnis vom 08.10.2015, G 264/15) wegen Widerspruchs zu Art 10 EMRK aufgehoben. Ausgangsfall beim VfGH war ein Ärztebewertungsportal, also eine durchaus vergleichbare "Datenanwendung" wie in dem vom EGMR entschiedenen Fall (auch der EGMR vergleicht Anwälte und Ärzte und verweist in seiner Entscheidung auf den Fall Bergens Tidende, in dem er festhielt, dass Vorwürfe von Patientinnen gegen einen Schönheitschirurgen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses betreffen - der VfGH bezieht sich in seinem Erkenntnis auch auf dieses Urteil des EGMR). Der VfGH hat allerdings für das Außerkrafttreten des § 28 Abs 2 DSG eine sehr lange Frist - bis zum 31.12.2016 - gesetzt. Dennoch wird, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist (was im Bereich des E-Commerce-Rechts der Fall wäre), die Aufhebungsfrist wohl dann nicht zu berücksichtigen sein, wenn dies in Widerstreit mit Art 11 GRC steht.

Tuesday, December 01, 2015

Ein Grundrecht auf YouTube-Zugang? EGMR verurteilt Türkei wegen YouTube-Sperre

Das wird Google - als Eigentümer von YouTube - freuen: der EGMR hat im heute verkündeten Urteil Cengiz ua gegen Türkei (Pressemitteilung) YouTube nicht nur als sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs bezeichnet, sondern diesem Dienst auch zugebilligt, das Entstehen eines Bürgerjournalismus ermöglicht zu haben, der oft Dinge ans Licht bringe, die von traditionellen Medien ignoriert würden. Die in der Türkei im Jahr 2008 gerichtlich angeordnete pauschale YouTube-Sperre hat, so der EGMR in seinem Urteil, die Beschwerdeführer in ihrem durch Art 10 EMRK geschützten Recht auf freien Empfang von Informationen und Ideen verletzt.

- Opferstatus
Hat der EGMR damit ein Menschenrecht auf YouTube-Zugang anerkannt, wie es die Süddeutsche zusammenfasst? Das ist vielleicht doch etwas zu verknappt dargestellt. Der EGMR hat in diesem Urteil anerkannt, dass YouTube-Nutzer - unter bestimmten Voraussetzungen - durch eine nicht an sie, sondern an Internet Access Provider gerichtete Sperrverfügung in ihren Rechten verletzt sein können (und damit "Opferstatus" nach der EMRK haben). Das impliziert, dass den Nutzern in solchen Fällen ein Rechtsweg offen stehen muss, um den dadurch bewirkten Eingriff in ihre Rechtsstellung bekämpfen zu können. [Dies erinnert sehr an das Urteil UPC Telekabel Wien des EuGH (im Blog dazu hier), in dem der EuGH zum Ergebnis gekommen ist, dass es bei Sperrverfügungen erforderlich ist, "dass die nationalen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit für die Internetnutzer vorsehen, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen, sobald die vom Anbieter von Internetzugangsdiensten getroffenen Durchführungsmaßnahmen bekannt sind."]

  ... aber nicht für alle
Der EGMR sieht aber nicht undifferenziert alle Nutzer als "Opfer" einer Sperre, sondern betont die notwendige Abwägung der Umstände des Einzelfalls, denn immerhin hat er schon einmal einen last.fm-Nutzer nicht als "Opfer" einer gegen diesen Dienst gerichteten Sperre beurteilt, obwohl dies prima facie vergleichbar scheint. Dass YouTube nicht bloß passiven Musikgenuss ermöglicht, sondern im aktuellen Fall aktive YouTube-Nutzer, die den Dienst auch beruflich/wissenschaftlich nutzten, die Beschwerde erhoben haben, war für die Zuerkennung des Opferstatus im vorliegenden Fall ebenso hilfreich wie der Umstand, dass YouTube eine Plattform für nicht-traditionelle Medien bietet. Und dass der EGMR selbst YouTube-Videos - zB zu den Voraussetzungen der Beschwerdeerhebung - bereitstellt, war der Bedeutung, die der EGMR dem Dienst zubilligt, jedenfalls auch nicht abträglich (wer weiß, wie der Fall mit last.fm ausgegangen wäre, hätte der EGMR seine Verhandlungen über diesen Dienst gestreamt!).

- keine Aussage zur Verhältnismäßigkeit von Sperren
Dass der EMRK im heute entschiedenen Fall den Opferstatus anerkennt, heißt aber nicht zwangsläufig, dass jede Sperre bereits eine Verletzung des Art 10 EMRK bedeuten muss. Im heute entschiedenen Fall lag die Verletzung des Art 10 EMRK darin, dass keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Sperranordnung bestand, sodass der EGMR seine Prüfung schon bei diesem Kriterium beenden konnte. Nach dem klassischen Prüfschema überprüft der EGMR ja zunächst, ob überhaupt ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt (das war hier gegeben) und danach, ob der Eingriff eine gesetzliche Grundlage hatte. Ist der Eingriff gesetzlich gedeckt, folgt die Prüfung, ob der Eingriff einem legitimen Ziel (im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK) diente und schließlich, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist. Zu diesen Kriterien hat sich der EGMR im vorliegenden Fall nicht geäußert (auch wenn dies der Kammerpräsident, wie er in einem Sondervotum schreibt, als sinnvoll angesehen hätte).

Ich gehe davon aus, dass der EGMR bei Vorliegen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage zum Ergebnis kommen könnte, dass eine Sperre legitimen Zielen dient (zB der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung); als wenig wahrscheinlich halte ich es aber, dass er eine derartig großflächige Sperranordnung wie die nicht näher differenzierte YouTube-Sperre als verhältnismäßig ansehen würde. Spannend scheint mir die Frage, wie die Sachlage zu beurteilen ist, wenn die Sperranordnung - wie dies nach der aktuellen türkischen Rechtslage der Fall ist - erst erfolgt, wenn der Diensteanbieter (also zB YouTube, nicht der Internet Access Provider) von den nationalen Behörden beanstandete Videos nicht entfernt, also gewissermaßen erst als Eskalationsstufe. Auf diese Fragen gibt das Urteil leider keine Antwort - und insofern kann man also auch nicht von einem unbedingten "Menschenrecht auf YouTube-Zugang" ausgehen.

- Bedeutung des Internet und von nicht-traditionellen Medien
Das Urteil schreibt die Rechtsprechung des EGMR fort, wonach das Internet "eines der wichtigsten Mittel des Einzelnen für die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit ist", und es zeigt, dass der EGMR den Bürgerjournalismus als Korrektiv für partielles Versagen der traditionellen Medien ansieht (im Englischen würde der Gerichtshof wohl den Begriff "mainstream media" verwenden), der gerade deshalb von Bedeutung ist.

Im Detail zum heutigen Urteil:

Zum Ausgangsfall
Am 5. Mai 2008 ordnete das erstinstanzliche Strafgericht von Ankara, gestützt auf das türkische Gesetz Nr. 5651, die Sperre des Zugangs zur Website http://www.youtube.com und zu einer näher spezifizierten IP-Range an. Grund dafür waren zehn auf YouTube verfügbare Videos, die nach Ansicht des Gerichts das Ansehen Atatürks beleidigten - nach türkischem Recht eine Straftat. Die YouTube-Sperre dauerte bis 30.10.2010.

Drei Rechtswissenschafter - Serkan Cengiz, Yaman Akdeniz und Kerem Altıparmak - wollten sich damit nicht abfinden und beantragten die Aufhebung der Sperre. Sie blieben vor den nationalen Gerichten erfolglos, zum einen weil die Gerichte zum Ergebnis kamen, dass die Sperre rechtmäßig war, und zum anderen, weil den Beschwerdeführern keine Parteistellung und damit kein Rechtsmittelrecht im Verfahren über die YouTube-Sperre zukomme.

Eingriff in die Meinungsfreiheit der YouTube-Nutzer?
Vor dem EGMR war vor allem strittig, ob die Beschwerdeführer überhaupt geltend machen konnten, durch die - nicht gegen sie gerichtete - Sperranordnung in ihrem durch Art 10 EMRK geschützten Rechte im Sinne des Art 34 EMRK verletzt zu sein. Die EMRK kennt nämlich keine Popularklage, die Beschwerdeführer müssen geltend machen, selbst direkt oder indirekt Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, die von einem staatlichen Akt (oder einem dem Staat zurechenbaren Akt) ausgeht.

In der Entscheidung Tanrıkulu ua gegen Türkei hatte der EGMR die Leser einer Tageszeitung, deren Vertrieb untersagt worden war, nicht als "Opfer" anerkannt; ebenso in der Entscheidung Akdeniz gegen Türkei einen Nutzer von myspace und last.fm (der damalige Beschwerdeführer Yaman Akdeniz ist auch Beschwerdeführer im nun entschiedenen Fall).

Unter Hinweis auf diese beiden Entscheidungen hält der EGMR fest, dass die Frage, ob jemand Opfer einer Zugangssperre zu einer Website ist, eine Einzelfallbeurteilung verlangt. Die Antwort hängt vor allem davon ab, wie der Betroffene die Seite nutzt wie schwer die Folgen der Sperre für ihn sind. Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass das Internet heute eines der wichtigsten Mittel des Einzelnen für die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit ist, wie der EGMR dies bereits im Urteil Yıldırım (dazu im Blog hier) festgestellt hat:
[...] la réponse à la question de savoir si un requérant peut se prétendre victime d’une mesure de blocage d’accès à un site internet dépend donc d’une appréciation des circonstances de chaque affaire, en particulier de la manière dont celui-ci utilise le site internet et de l’ampleur des conséquences de pareille mesure qui peuvent se produire pour lui. Entre également en ligne de compte le fait que l’Internet est aujourd’hui devenu l’un des principaux moyens d’exercice par les individus de leur droit à la liberté de recevoir ou de communiquer des informations ou des idées: on y trouve des outils essentiels de participation aux activités et débats relatifs à des questions politiques ou d’intérêt public (Ahmet Yıldırım, précité, § 54).
Im konkreten Fall hatten die Beschwerdeführer YouTube aktiv genutzt und auch dargelegt, dass sich die Sperre von YouTube auf ihre berufliche Tätigkeit auswirke; sie nutzten die Plattform nicht nur zum Ansehen von berufsbezogenen Videos, sondern luden auch selbst Videos hoch und teilten sie. Zwei der Beschwerdeführer nutzten YouTube auch zur Veröffentlichung von wissenschaftlichen Aktivitäten.

Der EGMR sieht den Fall daher näher am Fall Yıldırım (wo einem Wissenschafter der Zugang zu Google Pages - auf denen er Arbeiten veröffentlichte - verwehrt worden war) als am Fall Akdeniz, wo es um einen bloßen Nutzer von Musik-Diensten ging. Zudem verbreite Youtube nicht nur Musik- und künstlerische Werke, sondern sei eine sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs sowie für politische und soziale Aktivitäten. Die Sperre von YouTube habe zB den Zugang zu einer Seite gesperrt, die besondere Informationen für Beschwerdeführer vor dem EGMR enthielt, welche auf andere Art nicht leicht zugänglich seien (siehe zB das Video, wie man eine Beschwerde einbringt).

Der EGMR betont dann neuerlich die Wichtigkeit des Internets für die freie Meinungsäußerung (Hinweise auf Times Newspapers (Nr 1 und 2), Abs 27; und Delfi, Abs 110). YouTube sei zweifelsfrei ein bedeutendes Instrument zur Ausübung der freien Meinungsäußerung und zum Empfang von Informationen. Im Besonderen sei politische Information, die von traditionellen Medien ignoriert worden sei, oft über YouTube bekannt gemacht worden, und YouTube habe auch die Entwicklung eines Bürgerjournalismus ermöglicht. Unter diesem Gesichtspunkt sei YouTube einzigartig im Hinblick auf seine Eigenschaften, seine Zugänglichkeit und seine möglichen Wirkungen. Für die Beschwerdeführer habe es kein Äquivalent zu YouTube gegeben:
En particulier, comme les requérants l’ont noté à juste titre, les informations politiques ignorées par les médias traditionnels ont souvent été divulguées par le biais de YouTube, ce qui a permis l’émergence d’un journalisme citoyen. Dans cette optique, la Cour admet que cette plateforme était unique compte tenu de ses caractéristiques, de son niveau d’accessibilité et surtout de son impact potentiel, et qu’il n’existait, pour les requérants, aucun équivalent.
Der türkische Verfassungsgerichtshof habe dies in zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2014 betreffend Twitter und YouTube ebenfalls so gesehen und den Opferstatus der Beschwerdeführer anerkannt. Der EGMR teilt diese Beurteilung ausdrücklich und kommt zum Ergebnis, dass im konkreten Fall der Opferstatus der Beschwerdeführer gegeben ist. Der EGMR formuliert dabei vorsichtig; er betont die Notwendigkeit einer flexiblen Handhabung der Kriterien für den Opferstatus und des Abstellens auf die Umstände des Einzelfalls. Die Beschwerdeführer waren aber als aktive YouTube-Nutzer durch die gerichtlich angeordnete Sperre für lange Zeit vom Zugang zu YouTube ausgeschlossen und damit durch eine dem Staat zurechenbare Maßnahme in ihrem Recht auf Empfang von Informationen und Ideen betroffen - der EGMR bejaht damit das Vorliegen eines Eingriffs in die durch Art 10 EMRK geschützten Rechte.

Keine gesetzliche Grundlage für den Eingriff
Vergleichsweise kurz fällt die Beurteilung des EGMR zur Rechtfertigung des Eingriffs aus: wie schon im Fall Yıldırım (dazu im Blog hier) ausgeführt, reichte die von den türkischen Gerichten herangezogene gesetzliche Grundlage nach Ansicht des EGMR nicht aus, um den Eingriff zu legitimieren (siehe dazu noch unten zum Sondervotum von Richter Lemmens).

Der EGMR kam daher - einstimmig - zum Ergebnis, dass eine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag.

Rechtsmittelrecht?
Ein Beschwerdeführer machte vor dem EGMR auch geltend, dass ihm kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Sperre zur Verfügung stand und er dadurch in seinen Rechten nach Art 6 EMRK verletzt worden sei. Der EGMR sah es - auf Grund der Entscheidung über die Verletzung nach Art 10 EMRK - als nicht mehr erforderlich, auch über diese Frage zu entscheiden.

Strukturelle Probleme in der Türkei?
Schließlich beantragten die Beschwerdeführer noch, dass der EGMR der Türkei nach Art 46 EMRK mitteile, welche allgemeinen Maßnahmen zu treffen seien, um das Problem zu beheben. Dazu hielt der EGMR fest, dass der Fall auf strukturelle Probleme in der Türkei hinweise, dass aber das Gesetz - das den Anforderungen des EGMR nicht entspach - mittlerweile geändert wurde und es nicht Aufgabe des EGMR sei, abstrakt über die Vereinbarkeit der nationalen Rechtslage mit der EMRK zu urteilen (legt man die in diesem Urteil zum Ausdruck kommenden Maßstäbe an, dürfte aber wohl auch die neue Rechtslage - die nun ausdrücklich die Sperre des Zugangs zu einer gesamten Website ermöglicht - den Anforderungen des EGMR nicht genügen),

Sondervotum von Richter Lemmens
Paul Lemmens, der Präsident der entscheidenden Kammer, verfasste ein zustimmendes Sondervotum, in dem er darauf hinweist, dass die Begründung im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage unklar sei. Seiner Ansicht nach lag eine gesetzliche Grundlage vor, die konkrete Maßnahme habe aber nicht wirksam auf diese Grundlage gestützt werden können. Außerdem habe der EGMR die Gelegenheit versäumt, auch darauf einzugehen, ob die Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgt habe und verhältnismäßig gewesen sei. Wäre der EGMR darauf eingegangen, wenn auch nur als obiter dictum, hätte dies den Bürgern und den Behörden der Türkei Aufschluss über die Prinzipien geben können, die bei der Anwendung auch des geänderten Gesetzes über Internetsperren zu berücksichtigen sind.

PS (update 02.12.2015): wer mehr zum türkischen Gesetz Nr. 5651 wissen will, kann das (in englsicher Sprache) in einem von zwei der drei Beschwerdeführer verfassten Buch nachlesen, das online kostenlos verfügbar ist: Dr. Yaman AKDENIZ & Dr. Kerem ALTIPARMAK, Internet: Restricted Access A Critical Assessment of Internet Content Regulation and Censorship in Turkey (November 2008).