Monday, February 06, 2023

Wo wächst das Geld, wenn nicht auf den Bäumen? Kurze Anmerkungen zur Finanzierung des österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Sich zu österreichischer Medienpolitik aus rechtlicher Sicht zu äußern ist ein ziemlich undankbares und weitgehend sinnloses Unterfangen (vielleicht gibt es auch deshalb so wenige einschlägige rechtswissenschaftliche Arbeiten). Das gilt auch für die Frage der zukünftigen ORF-Finanzierung, und bei manchen der jüngst bekannt gewordenen politischen Äußerungen dazu frage ich mich, ob denn der Wahlkampf (im Häupl'schen Sinne) schon begonnen hat (wobei ich mir nicht sicher bin, dass "fokussiert" hier wirklich das richtige Adjektiv wäre). Dennoch folgen hier ein paar kurze Anmerkungen zur aktuellen ORF-Finanzierungsdebatte, beginnend mit den Basics:

1. Gesetzlicher Auftrag: Der Österreichische Rundfunk (ORF) hat einen gesetzlich festgelegten öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen. Den Umfang dieses Auftrags kann man im ORF-Gesetz (dort insbesondere in den §§ 3 bis 5a) und in den auf der Grundlage des ORF-Gesetzes erstellten - von der Regulierungsbehörde geprüften - Angebotskonzepten nachlesen.

 2. Gesetzlich geregelte Finanzierung: Auch die Finanzierung des ORF ist im ORF-Gesetz geregelt, das diesbezüglich im Wesentlichen zwei Anforderungen gerecht werden muss: einerseits muss die Finanzierung die verfassungsrechtlich vorgegebene Unabhängigkeit des Rundfunks gewährleisten (der Verfassungsgerichtshof spricht von einer aus dem BVG Rundfunk folgenden "Funktions- und Finanzierungsverantwortung des Gesetzgebers  für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk", siehe VfGH 30.6.2022, G 226/2021, Rn. 45). Andererseits muss das Finanzierungssystem auch den Anforderungen des EU-Beihilfenrechts entsprechen, die sich vor allem aus der sogenannten "Rundfunkmitteilung" der Kommission und spezifisch für Österreich aus der Entscheidung der Kommission vom 28.10.2009, Staatliche Beihilfe E 2/2008 –Finanzierung des ORF, ergeben. 

3. Fast zwei Drittel aus Programmentgelt: Das aktuelle Finanzierungssystem beruht einem Gutteil auf Einnahmen aus dem Programmentgelt (fälschlich oft als "GIS-Gebühr" bezeichnet). Von den Umsatzerlösen von ziemlich genau 1 Mrd. € im Jahr 2021 machten die Erlöse aus dem Programmentgelt ca. 645 Mio. € aus, weitere 228 Mio. €  waren Werbeerlöse und 127 Mio. € sonstige Erlöse, etwa Lizenzeinnahmen (siehe den Anhang zum Jahresabschluss 2021). 

4. Der ORF legt das Programmentgelt selbst fest: zur Beschlussfassung über das Programmentgelt stellt der Generaldirektor einen Antrag an den Stiftungsrat (der Publikumsrat darf - mit einem "suspensiven Veto" - auch ein wenig mitreden), und zuletzt prüft die Regulierungsbehörde, ob der Beschluss den gesetzlichen Vorgaben entspricht (wenn nicht, hat sie den Beschluss des Stiftungsrates aufzuheben). Das alles ist in § 31 ORF-Gesetz geregelt.

5. Die Grenzen des Programmentgelts: Der ORF darf freilich das Programmentgelt nicht beliebig hoch (aber auch nicht beliebig tief) festsetzen: das Gesetz schreibt vor, dass die Höhe des Programmentgelts so festzulegen ist, "dass unter Zugrundelegung einer sparsamen, wirtschaftlichen und zweckmäßigen Verwaltung der öffentlich-rechtliche Auftrag erfüllt werden kann". Die Höhe des Programmentgelts ist zudem "mit jenem Betrag begrenzt, der erforderlich ist, um die voraussichtlichen Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags angesichts der zu erwartenden Zahl der zur Entrichtung des Programmentgelts Verpflichteten in einem Zeitraum von fünf Jahren ab Festlegung des Programmentgelts (Finanzierungsperiode) decken zu können."

6. Der ORF muss sparsam wirtschaften: so verlangt es das Gesetz. Aber wer legt fest, was das im Detail bedeutet und wie wird das überprüft? Nun: der Generaldirektor führt die Geschäfte des ORF, er wird dabei durch den Stiftungsrat überwacht. Der Stiftungsrat hat auch die langfristigen Pläne für Technik und Finanzen und die "Stellenpläne" zu genehmigen und damit die wesentlichen Weichenstellungen zu treffen. 

7. Gebarungskontrolle: Die Gebarung des ORF unterliegt nicht nur der Kontrolle des Rechnungshofs, sondern das ORF-Gesetz sieht eine besondere Finanzkontrolle durch eine "Prüfungskommission", bestehend aus zwei Wirtschaftstreuhandgesellschaften, vor. Diese kann sich der ORF allerdings nicht frei aussuchen, sondern sie werden von der Regulierungsbehörde bestellt. 

8. Die Medienministerin kann die Sparsamkeit des ORF nicht überprüfen (Stichwort "Kassasturz"): das ORF-Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass sich die Aufsicht des Bundes über den ORF "auf eine Aufsicht nach Maßgabe dieses Bundesgesetzes, unbeschadet der Prüfung durch den Rechnungshof", beschränkt. Eine Aufsicht der Medienministerin, die im ORF-Gesetz nicht vorgesehen ist, gibt es daher nicht. Das hindert eine Politikerin natürlich nicht, beliebig irgendetwas zu fordern, egal ob Kassasturz beim ORF, Schönwetter in den Alpen oder warme Eislutscher für alle, um beliebige Beispiele zu nennen.

9. "ORF-Rabatt": Was soll ein "ORF-Rabatt für die Österreicherinnen und Österreicher" sein, den die Medienministerin zuletzt gefordert hat? Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Die Medienministerin will, so lässt sie verlauten, "dass die Menschen in Zukunft weniger als jetzt für den ORF zahlen müssen." Sofern das Ziel durch Einsparungen beim ORF erreicht werden soll (good luck!), wäre das Aufgabe des Generaldirektors und des Stiftungsrates, die entsprechende Sparpläne vorlegen/genehmigen müssten. Allerdings ist der ORF dabei dadurch begrenzt, was der öffentlich-rechtliche Auftrag ihm abverlangt. Einfach Radio Niederösterreich (oder Wien oder Vorarlberg) einzustellen zum Beispiel ist dem ORF ohne gesetzliche Änderung des Auftrags nicht möglich. 

10. Auftragsänderung durch Gesetzesänderung: Das führt zur nächsten Überlegung: wenn die Medienministerin Einsparungen vom ORF verlangt, dann hat sie einen wesentlichen Hebel: sie kann gesetzliche Änderungen vorbereiten und, wenn ihre Regierungskolleg:innen zustimmen, eine Regierungsvorlage auf den Weg bringen, die den öffentlich-rechtlichen Auftrag des ORF einschränkt. Das könnte ein Wegfall eines Kanals genauso sein wie der Verzicht auf ein Online- Angebot, was auch immer ihr (bzw. ihrer politischen Gemeinschaft) im Weg ist. Gegen eine gesetzliche Änderung des öffentlich-rechtlichen Auftrags wäre der ORF machtlos - das ist eben die Aufgabenverteilung: der Gesetzgeber legt den Auftrag fest, der ORF hat ihn zu erfüllen (den Rahmen für den einfachen Gesetzgeber steckt auch hier das BVG Rundfunk ab, aber der Spielraum des Gesetzgebers bei der Definition des Auftrags ist da ziemlich hoch). Die unionsrechtlichen (beihilfenrechtlichen) Grenzen wären aber jedenfalls zu beachten.

11. Politischer Hebel: Der Hebel der Medienministerin ist derzeit besonders groß: der Verfassungsgerichtshof hat mit dem schon zitierten Erkenntnis Bestimmungen des ORF-Gesetzes aufgehoben und eine "Reparaturfrist" bis 31.12.2023 gesetzt. Dabei ging es, grob vereinfachend, um die Beschränkung der Pflicht zur Zahlung des Programmentgelts auf jene Haushalte, die "klassische" Rundfunkgeräte betreiben, während jene, die bloß streamen, das Programmentgelt nicht zahlen müssen - das hat der VfGH als verfassungswidrig beurteilt. Rechtstechnisch wäre das Problem leicht zu lösen, politisch ist es natürlich extrem heikel, weil es eine möglicherweise auch wachsende Zahl von Fundamental-Gegner:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gibt. Die Zeit, um eine vernünftige Reparatur vorzubereiten, ist mittlerweile sehr knapp geworden. Die Medienministerin hat sich noch nicht ernsthaft zu ihren bevorzugten Optionen geäußert, sondern verlangt gewissermaßen als Vorleistung vom ORF Einsparungen ("Erst wenn dies geklärt ist, kann über eine neue ORF-Finanzierungsform diskutiert werden."). Es ist ein politisches Geschäft: sie macht ihr weiteres politisches Handeln, das in ihren Verantwortungsbereich als Medienministerin fällt, von Handlungen des ORF abhängig, die sie ohne diesen "Hebel" nicht durchsetzen könnte, oder mehr noch: wo ihr jeglicher Einfluss durch den Gesetzgeber bewusst genommen wurde, um die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sichern.

12. Ein Gespräch unter Fremden: In ihren medialen Äußerungen hat die Medienministerin auch angekündigt, mit dem ORF-Generaldirektor über Einsparungen zu sprechen. Das kann sie natürlich tun, aber es wird - wenn man von gesetzeskonformem Verhalten aller Beteiligten ausgeht - ein wahrscheinlich nicht sehr ergiebiges Gespräch: der Generaldirektor darf keine Interna bekanntgeben, die über das hinausgehen, was der ORF schon bekannt gemacht hat, und das - insbesondere die Jahresabschlüsse und die Jahresberichte - wird die Medienministerin wohl schon gesehen haben. Sämtliche Mitglieder der Stiftungsorgane (dazu gehören etwa der Generaldirektor, aber auch die Mitglieder des Stiftungsrates) sind nämlich nach § 19 Abs. 4 ORF-Gesetz, "soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, zur Verschwiegenheit über alle ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit bekannt werdenden Umstände der Stiftung und der mit ihr verbundenen Unternehmen verpflichtet." Die Medienministerin ist da genauso eine Außenstehende wie zum Beispiel ich: was der Generaldirektor an ORF-Interna mir nicht erzählen dürfte, darf er auch der Medienministerin nicht erzählen.

13. Nochmals zum "Rabatt": Woher kommt jetzt der merkwürdige "Rabatt"-Begriff, den die Medienministerin in diesem Zusammenhang verwendet? Ich habe dafür nur eine halbwegs schlüssige Erklärung: wenn man davon ausgeht, dass derzeit noch nur Haushalte mit "klassischen" Rundfunkgeräten Programmentgelt zahlen, nach einer Neuordnung der Finanzierung im Sinne des VfGH-Erkenntnisses aber die Programmentgeltpflicht entweder auf alle Haushalte ("Haushaltsabgabe", wie zB in Deutschland oder der Schweiz) oder aber auf alle "internetfähigen" Geräte erstreckt wird, dann würden in Hinkunft mehr Personen als heute Programmentgelt zahlen müssen. Da aber die Höhe der gesamten eingenommenen Programmentgelte nicht über das hinausgehen darf, was zur Deckung der Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags erforderlich ist, würde auf die einzelnen Zahler:innen ein geringerer Betrag als heute entfallen. Das könnte man als "Rabatt" für die bestehenden "Gebührenzahler:innen" ansehen, und vielleicht war das auch einmal die Idee hinter dem Begriff. 

14. Automatische Inflationsabgeltung geht nicht: Ob eine Haushaltsabgabe, eine Geräteabgabe oder eine Budgetfinanzierung kommen soll, ist derzeit offenbar noch in Diskussion. Eine Budgetfinanzierung ist sicher unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit kritischer zu beurteilen, wenngleich es auch dabei theoretisch bessere Absicherungen gegen tagespolitische Einflussnahmen geben könnte. Eine gelegentlich geforderte automatische Inflationsabgeltung zählt da allerdings nicht dazu, denn diese wäre jedenfalls unionsrechtswidrig, weil sie nicht sicherstellen kann, dass nicht mehr (aber auch nicht weniger) an Beihilfe geleistet wird, als zur Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags notwendig wäre.

15. Realpolitik: Dass auch die theoretisch unabhängige Festlegung des Programmentgelts durch den ORF selbst (unter Kontrolle der unabhängigen Regulierungsbehörde) vor Versuchen der politischen Einflussnahme nicht schützt, zeigt die aktuelle Diskussion. Es entsteht der Eindruck, dass die Medienministerin einen politischen Wunsch nicht dadurch durchzusetzen versucht, dass sie den ihr offenstehenden Weg über die zuständigen demokratischen Entscheidungsorgane - hier den Nationalrat als Gesetzgeber des ORF-Gesetzes - einschlägt, etwa indem sie einen Gesetzesentwurf vorbereitet, der eine Einschränkung des öffentlich-rechtlichen Auftrags beinhaltet. Statt dessen richtet sie zunächst "Forderungen" an den ORF, der von Verfassungs wegen unabhängig von der Politik zu agieren hat, aber faktisch und realpolitisch wohl kaum daran vorbeikommen wird, auf diese Forderungen irgendwie einzugehen, will er nicht riskieren, dass es nicht zur notwendigen Reparatur des ORF-Gesetzes kommt. 

16. Eine historische Anmerkung: die Verknüpfung von Sparvorgaben mit der Finanzierung des ORF ist nicht neu: in den Jahren 2010 bis 2013 hat der Bund Sonderzuschüsse ("Gebührenrefundierung") an den ORF geleistet, als Gegenleistung musste der ORF einerseits bestimmte Bedingungen (Mehrleistungen) erfüllen (§ 31 Abs. 11 und 12 ORF-G), aber andererseits auch "Strukturmaßnahmen zur mittelfristigen substantiellen Reduktion der Kostenbasis" setzen (§ 31 Abs. 13 ORF-G). Das war allerdings gesetzlich festgelegt und die Einhaltung dieser Bedingungen wurde auch nicht vom Bundeskanzler oder der Medienministerin kontrolliert, sondern von der unabhängigen Regulierungsbehörde (§ 31 Abs. 14 und 15 ORF-G). 

tl;dr: Das Geld für den ORF wächst tatsächlich nicht - worauf die Medienministerin nicht müde wird, hinzuweisen - auf den Bäumen. Der Finanzierungsbedarf wird von den Gremien des ORF festgelegt, von der Regulierungsbehörde überprüft und auch die sparsame, wirtschaftliche und zweckmäßige  Verwendung unterliegt der Kontrolle der ORF-Gremien sowie des Rechnungshofes, der Prüfungskommission und der Regulierungsbehörde. Der Medienministerin kommt dabei keine Rolle zu - sie sollte sich um die politische Aufgabe kümmern, die nach dem VfGH-Erkenntnis zur ORF-Finanzierung notwendige Reparatur des ORF-Gesetzes in Angriff zu nehmen. 

PS: die Diskussion zur Haushaltsabgabe ist alles andere als neu - falls das jemanden interessiert, hier und hier habe ich vor gut zehn Jahren schon mal darüber geschrieben. 

Monday, January 30, 2023

Weiteres Update zu den EU-Sanktionen gegen russische Staatsmedien

Ab 1. Februar 2023 treffen die Sanktionen gegen russische Staatsmedien auch NTV/NTV Mir, Rossiya 1, REN TV und Pervyi Kanal. 

"Sendeverbot" für RT und Sputnik

Am 1. März 2022 hat der Rat der Europäischen Union restriktive Maßnahmen ("Sanktionen") gegen bestimmte Medienunternehmen verhängt, die vom russischen Staat kontrolliert werden. Diese Sanktionen gingen über das bis dahin übliche Sanktionsregime deutlich hinaus, und umfassten ein de facto Sende- und Verbreitungsverbot der von diesen Medien hergestellten Inhalte im Raum der EU. Mit der Reichweite dieser - ihrer Art nach vollkommen neuen - restriktiven Maßnahmen habe ich mich noch im März letzten Jahres hier im Blog (und hier auf dem Verfassungsblog) eingehend beschäftigt (siehe auch ein ausführliches Gespräch, das Prof. Nikolaus Forgó mit mir zu diesem Thema führte, als Folge 279 des Ars Boni Video-Podcast auf YouTube). 

Erste Erweiterung der Sanktionen 

Die - befristet verhängten - Sanktionen wurden inzwischen mehrfach verlängert, zuletzt bis 31. Juli 2023. Vor allem aber wurden die gegen die Verbreitung bestimmter Medieninhalte gerichteten Sanktionen auch inhaltlich erweitert und auf weitere Medienkanäle ausgedehnt; siehe dazu diesen Beitrag im Blog.

Gerichtsverfahren

Daneben sind die Sanktionen auch Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen: die Nichtigkeitsklage von RT France wurde vom EuG bereits abgewiesen, das Rechtsmittel von RT France ist zu C-620/22 P beim EuGH anhängig (zum EuG-Urteil siehe im Blog näher hier). Eine weitere Nichtigkeitsklage, die von niederländischen ISPs initiiert wurde, ist noch beim EuG anhängig (T-307/22, A2B Connect u.a./Rat,).  

Zweite Erweiterung der Sanktionen

Mit dem neunten Sanktionspaket wurde im Dezember 2022 auch eine weitere Ausdehnung der Sanktionen gegen die Verbreitung von Inhalten staatlich kontrollierter russischer Medien beschlossen. Demnach sollten auch 

  • NTV/NTV Mir 
  • Rossiya 1 
  • REN TV 
  • Pervyi Kanal 

von den Sanktionen betroffen sein. Rechtlich erfolgte die Ausweitung der Sanktionen durch den Beschluss (GASP) 2022/2478 des Rates vom 16. Dezember 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 322 I/614 vom 16. Dezember 2022) und die Verordnung (EU) 2022/2474 des Rates vom 16. Dezember 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 322 I/1 vom 16. Dezember 2022). In beiden Rechtsakten wurde festgehalten, dass die Änderungen des jeweiligen Anhangs, in dem die betroffenen Medien aufgelistet sind, erst ab dem 1. Februar 2023 gelten, "sofern der Rat nach Prüfung der betreffenden Fälle dies im Wege eines Durchführungsrechtsakts einstimmig beschließt" (Beschluss (GASP) 2022/2478) bzw. "vorausgesetzt der Rat beschließt dies nach Prüfung der betreffenden Fälle im Wege eines Durchführungsrechtsakts" (VO (EU) 2022/2474). 

Diese Durchführungsrechtsakte wurden nunmehr beschlossen und heute, am 30. Jänner 2023 kundgemacht: 

  • Beschluss (GASP) 2023/190 des Rates vom 27. Januar 2023 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 26/43 vom 30. Jänner 2023
  • Durchführungsverordnung (EU) 2023/180 des Rates vom 27. Januar 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2022/2474 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 26/1 vom 30. Jänner 2023)

Update (09.03.2023):

Mit dem zehnten Sanktionspaket wurden die Sanktionen gegen staatlich kontrollierte russische Medien neuerlich erweitert und auf "RT Arabic" und "Sputnik Arabic" ausgeweitet. Rechtlich erfolgte die Ausweitung der Sanktionen durch den Beschluss (GASP) 2023/434 des Rates vom 25. Februar 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L 59I vom 25.2.2023, S. 593) und die Verordnung (EU) 2023/427 des Rates vom 25. Februar 2023 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L 59I vom 25.2.2023, S. 6). In beiden Rechtsakten wurde festgehalten, dass die Änderungen des jeweiligen Anhangs, in dem die betroffenen Medien aufgelistet sind, erst ab dem 10. April 2023 gelten, "sofern der Rat nach Prüfung der betreffenden Fälle dies im Wege eines Durchführungsrechtsakts beschließt." (Die Mitteilung an "RT Arabic" und "Sputnik Arabic" ist im ABl. C 70I vom 27.2.2023, S. 12, veröffentlicht).

Aktueller Text der Rechtsvorschriften 

Mit Stand 1. Februar 2023 gelten daher folgende Sanktionen gegen Medien, die vom russischen Staat kontrolliert werden (konsolidierter Text, ohne Gewähr): 

1. Nach dem Beschluss 2014/512/GASP des Rates in der zum 1. Februar 2023 geltenden Fassung:

Artikel 4g

(1)   Es ist den Betreibern verboten, Inhalte durch die in Anhang IX aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen, auch durch die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen, unabhängig davon, ob sie neu oder vorinstalliert sind.

(2)   Alle Rundfunklizenzen oder -genehmigungen, Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen mit den in Anhang IX aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen werden ausgesetzt.

(3)   Es ist verboten, in Inhalten, die von den in Anhang IX aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen erstellt oder gesendet werden, für Produkte oder Dienstleistungen zu werben, einschließlich durch Übertragung oder Verbreitung mittels der in Absatz 1 genannten Möglichkeiten.

...

Artikel 9

Dieser Beschluss gilt bis zum 31. Juli 2023.

...

ANHANG IX

LISTE DER JURISTISCHEN PERSONEN, ORGANISATIONEN UND EINRICHTUNGEN NACH ARTIKEL 4g

RT — Russia Today English
RT — Russia Today UK
RT — Russia Today Germany
RT — Russia Today France
RT — Russia Today Spanish
Sputnik
Rossiya RTR / RTR Planeta
Rossiya 24 / Russia 24
TV Centre International
NTV/NTV Mir 
Rossiya 1 
REN TV 
Pervyi Kanal 


2. Nach der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates in der zum 1. Februar 2023 geltenden Fassung:

Artikel 2f

(1)   Es ist den Betreibern verboten, Inhalte durch die in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen, auch durch die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen, unabhängig davon, ob sie neu oder vorinstalliert sind.

(2)   Alle Rundfunklizenzen oder -genehmigungen, Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen mit den in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen werden ausgesetzt.

(3)   Es ist verboten, in Inhalten, die von den in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen erstellt oder gesendet werden, für Produkte oder Dienstleistungen zu werben, einschließlich durch Übertragung oder Verbreitung mittels der in Absatz 1 genannten Möglichkeiten.

...

ANHANG XV

Liste der natürlichen und juristischen personen, organisationen und einrichtungen nach artikel 2f

RT — Russia Today English
RT — Russia Today UK
RT — Russia Today Germany
RT — Russia Today France
RT — Russia Today Spanish
Sputnik
Rossiya RTR / RTR Planeta
Rossiya 24 / Russia 24
TV Centre International
NTV/NTV Mir 
Rossiya 1 
REN TV 
Pervyi Kanal 

 

Monday, October 24, 2022

Wenn Wissenschaft umsonst sein soll - zu einem Detail im Gesetzesentwurf über die Wiener Zeitung

Die Wiener Zeitung soll in ihrer aktuellen Form als (auch) gedruckte Tageszeitung per 1. Juli 2023 eingestellt werden. Das ist nicht mehr nur eine Ankündigung der Bundesregierung (wie der Rest des schon oft versprochenen "Medienpakets"), sondern es liegt dafür mittlerweile auch ein Begutachtungsentwurf für die dafür notwendige gesetzliche Regelung vor. In diesem Blogbeitrag beschäftige ich mich nicht mit den zentralen Fragen dieses Entwurfs für ein "Bundesgesetz über die Wiener Zeitung GmbH und Einrichtung einer elektronischen Verlautbarungs- und Informationsplattform des Bundes – WZEVI-Gesetz" (vielleicht finde ich dazu auch noch mal die Zeit). Statt dessen möchte ich nur ein kleines, an sich unwesentliches Detail herauspicken - das aber meines Erachtens durchaus als symbolisch angesehen werden kann: die Regelung für den neu einzurichtenden wissenschaftlichen Beirat (§ 1 Abs. 6 und 7 des Entwurfs). Diese Bestimmungen lauten: 

(6) Bei der Wiener Zeitung GmbH ist zur Beratung bei der Wahrnehmung der Aufgaben gemäß § 3 ein wissenschaftlicher Beirat mit fünf fachkundigen Personen aus dem Gebiet der Medien-, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Internationale Politik und Außenpolitik und der Rechtswissenschaften einzurichten. Der Beirat muss zumindest zwei Frauen als Mitglieder umfassen. Die Mitglieder werden vom Bundeskanzler auf die Dauer von zwei Jahren bestellt. Eine einmalige Wiederbestellung ist zulässig. Der Beirat kann bei Ausscheiden von Mitgliedern Vorschläge für die Bestellung neuer Mitglieder unterbreiten. Er ist anzuhören, bevor ein neues Mitglied bestellt wird. Der Beirat tritt bei Bedarf, mindestens aber zweimal jährlich, zusammen. Der Beirat wählt aus seiner Mitte eine/n Vorsitzende/n und eine/n Stellvertreter/in und hat sich eine Geschäftsordnung zu geben, in der jedenfalls der Abstimmungsmodus zu regeln ist. Die Mitgliedschaft ist ein unbesoldetes Ehrenamt, es besteht jedoch ein Anspruch auf Aufwandsersatz (z. B. Reise- oder Aufenthaltskosten). Die Mitglieder sind zur gewissenhaften und objektiven Ausübung ihrer Funktion sowie zur Verschwiegenheit über die ihnen bei der Ausübung dieser Tätigkeit bekannt gewordenen Tatsachen verpflichtet.

(7) Dem wissenschaftlichen Beirat dürfen Mitglieder der Bundesregierung, Staatssekretärinnen und Staatssekretäre, Mitglieder einer Landesregierung, Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats oder eines sonstigen allgemeinen Vertretungskörpers sowie Personen nicht angehören, die eine dieser Funktionen in den letzten vier Jahren ausgeübt haben.  

Es soll also ein aus fünf Wissenschafter:innen bestehendes Gremium geben, das die Wiener Zeitung GmbH bei der Wahrnehmung ihrer "Aufgaben gemäß § 3" beraten soll (nach § 3 des Entwurfs hat die Wiener Zeitung GmbH die Wiener Zeitung als Online-Medium und "nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel" - also eher spärlich - auch in Print herauszugeben). Das Gremium soll sich interdisziplinär zusammensetzen - allerdings sind die exakten Disziplinen festgeschrieben, was natürlich die Frage aufwirft, wie man gerade auf diese Disziplinen kommt und wie man sie im Zweifel abgrenzt (etwa bei Politikwissenschaft und "Internationale Politik und Außenpolitik"). Auch für annähernde Geschlechterparität, ein Mindestmaß an Politikferne, und für einen steten Wechsel - mit einer maximal vierjährigen "Amtszeit" - ist gesorgt. 

Was mich aber (wieder einmal, wenn auch in anderem Zusammenhang) irritiert, ist  die Qualifikation der Tätigkeit "unbesoldetes Ehrenamt". 

Der Bund richtet per Gesetz ein wissenschaftliches Beratungsgremium ein, und man sollte davon ausgehen, dass er sich von diesem Gremium auch tatsächlich ernsthafte wissenschaftliche Beratung für die Wiener Zeitung  erwartet (ich weiß, das ist die erste Sollbruchstelle meiner Überlegungen: vielleicht soll das Gremium ja auch bloß als Feigenblatt dienen). Wissenschaftliche Arbeit erfordert Qualifikation, und sie erfordert zumindest Zeit (von sonstigen Ressourcen will ich hier einmal, sehr vereinfachend, absehen). Weshalb sollen die Wissenschafter:innen dafür nicht angemessen bezahlt werden?

Nun kann man selbstverständlich die Auffassung vertreten, dass Wissenschafter:innen über ihre engeren beruflichen Aufgaben hinaus etwas "für die Gesellschaft" tun sollen (Stichwort: "public engagement"). Das hat in manchen Konstellationen auch viel für sich: öffentlich bestellte, öffentlich bezahlte Wissenschafter:innen sollen der Gesellschaft, die für sie aufkommt, mehr zurückgeben als das absolute Minimum an Forschungs-, Lehr- (und Verwaltungs-)Tätigkeit, das sie vertragsgemäß jedenfalls leisten müssen. Aber erstens engagieren sich viele Wissenschafter:innen ohnehin weit mehr als sie unbedingt müssten, und sie suchen sich ihr öffentliches, unbezahltes Engagement gut (und selbst) aus. Und zweitens ist "Wissenschaft" nicht gleichzusetzen mit dem altmodischen Bild einer öffentlich finanzierten Gelehrtenuniversität, an der gut bezahlte Professoren alle erdenklichen Freiheiten genießen. Die Realität ist oft geprägt von Ressourcenknappheit, auch (und gerade) an öffentlichen Universitäten, von der Notwendigkeit, Drittmittelprojekte einzuwerben, von einer überbordenden Lehr- und Prüfungslast, die wenig Raum für Forschung lässt - und nicht zuletzt von einer Prekarisierung wissenschaftlicher Tätigkeit (zumindest) im sogenannten "Mittelbau". Wer etwa von Lehrauftrag zu Lehrauftrag lebt (hallo, Hanna!), der/die wird nicht ohne weiteres kostenlose Beratungstätigkeit für ein Unternehmen leisten können und wollen, auch wenn es ein Unternehmen des Bundes ist. 

Aber ein "unbezahltes" Ehrenamt wird - wie ich schon zum Stiftungsrat des ORF angemerkt habe - oft ohnehin nicht wirklich unentgeltlich wahrgenommen. Denn es kann sein, dass jemand ein "Ehrenamt" im Rahmen seiner sonstigen beruflichen Tätigkeit ausübt (dann wird es in der Regel auch inhaltlich in Übereinstimmung mit  den Interessen jener Einrichtung ausgeübt, die die Tätigkeit bezahlt). Oder jemand übernimmt das Ehrenamt, weil er/sie jemandem "etwas schuldig" ist (oder zumindest möchte, dass jemand ihm/ihr "etwas schuldig" ist). Und selbst wenn diese Konstellationen im Fall der Beratung der Wiener Zeitung GmbH nicht eintreten sollten, dann bleibt immer noch übrig, dass man sich ein solches  Ehrenamt erst mal leisten können muss - und zwar nicht nur finanziell, sondern vor allem auch zeitlich: wer sich gerade zur Habilitation kämpft und hoffen muss, damit rechtzeitig vor Ablauf der Befristung fertig zu werden, und wer vielleicht auch noch Familien- oder sonstige Care-Arbeit zu leisten hat, der/die wird hier eher nicht anstehen, um seine/ihre unbezahlte Beratungstätigkeit einzubringen. 

Möglicherweise ist ohnehin nicht daran gedacht, dass echte Beratung erfolgen soll: interessant ist nämlich, dass der wissenschaftliche Beirat nur bei der Herausgabe der Wiener Zeitung beraten soll, aber nicht bei der - akademisch durchaus auch spannenden - neuen Aufgabe der Wiener Zeitung GmbH, einen "Media Hub Austria" einzurichten, der "die Weiterentwicklung des Medienstandorts Österreich" fördern soll (§ 4 des Entwurfs - ungeachtet der hochtrabenden Worte dürfte es dabei vor allem um Aus- und Weiterbildung von Journalist:innen gehen). 

Jedenfalls hat die Bestimmung Signalcharakter: Wissenschaft darf nichts kosten. Talk may be cheap, but science should be free of charge?

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PS: Auf die Idee, dass zB der Aufsichtsrat nichts kosten soll, ist man für die Wiener Zeitung GmbH hingegen nicht gekommen. 

Vielleicht bin ich da aber auch zu streng: denn die Aufsichtsratstätigkeit bei der Wiener Zeitung GmbH ist zwar nicht unentgeltlich, aber de facto näher am Ehrenamt als typische Aufsichtsratstätigkeiten in anderen Unternehmen: der Corporate Governance Bericht der Wiener Zeitung GmbH für 2021 weist aus, dass dem (nun: der) Vorsitzenden des Aufsichtsrats ein Sitzungsgeld von 200 € pro Sitzung, den weiteren Mitgliedern des Aufsichtsrates ein Sitzungsgeld von 130 € pro Sitzung gezahlt wird. So kam etwa der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrates, Rechtsanwalt Mag. Werner Suppan, im Jahr 2021 auf eine Entschädigung von 520 € (für vier Aufsichtsratssitzungen). Da bei - natürlich vorauszusetzender - sorgfältiger Wahrnehmung der Funktion als Mitglied des Aufsichtsrates zusätzlich zur Teilnahme an den Sitzungen noch einige Zeit für die Vorbereitung (zB zum Studium von Unterlagen) veranschlagt werden muss, bedeutet das einen Stundensatz, der näher beim kollektivvertraglichen Mindestlohn für Rechtsanwalts-Angestellte liegt als beim typischen Honoraransatz, den zB Mag. Suppan als Rechtsanwalt sonst lukrieren kann. 

Friday, July 29, 2022

EuG: Keine Nichtigerklärung der Sanktionen gegen RT France

Das Sende- und Weiterverbreitungsverbot für Inhalte von RT (Russia Today) ist gültig. Zu diesem Ergebnis ist das EuG in seinem Urteil der Großen Kammer vom 27. Juli 2022, T-125/22, RT France / Rat (Pressemitteilung) gekommen. Die Nichtigkeitsklage von RT France gegen den Beschluss (GASP) 2022/351 des Rates und die Verordnung (EU) 2022/350 des Rates wurde abgewiesen. Damit bleiben diese Sanktionen (jedenfalls vorerst) in Kraft - der Rechtszug zum EuGH steht RT France noch offen. Zudem hat das EuG auch noch über eine weitere Nichtigkeitsklage gegen diese Sanktionen, die von niederländischen Internet Service Providern erhoben wurde (T-307/22 A2B Connect ua /Rat), zu entscheiden, in der wohl auch Klagegründe geltend gemacht werden, die im nun entschiedenen Fall keine Rolle gespielt haben. 

Bemerkenswert ist, dass das EuG - im Allgemeinen nicht gerade für kurze Verfahrensdauern bekannt - diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren innerhalb von weniger als fünf Monaten entschieden hat (Einlangen der Klage am 8. März 2022, Urteilsverkündung am 27. Juli 2022). Auch das zeigt - neben der Entscheidung in der Großen Kammer - dass es keine Routinesache war, die hier verhandelt und entschieden wurde.

Zur Vorgeschichte 

Die EU hat mit Beschluss (GASP) 2022/351 des Rates vom 1. März 2022 und - darauf aufbauend - mit Verordnung (EU) 2022/350 des Rates vom 1. März 2022, die bereits 2014 verhängten restriktiven Maßnahmen "angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren", weiter verschärft und in diese Sanktionen erstmals auch ein Verbot der Verbreitung bestimmter audiovisueller Inhalte sowie ein Aussetzen von Rundfunklizenzen aufgenommen (siehe in diesem Blog bislang hier und hier). Betroffen waren damals RT (Russia Today, in verschiedenen Sprachen) und Sputnik (mittlerweile wurde die Liste erweitert, siehe näher dazu hier). Die Entscheidung, de facto ein Sendeverbot für Rundfunkveranstalter zu verhängen, wurde vielfach kritisch beurteilt, insbesondere (wie aus Deutschland nicht anders zu erwarten) im Hinblick auf eine angeblich nicht vorhandene Kompetenzgrundlage für ein derartiges Eingreifen der Union einerseits (zB von Ferreau im Verfassungsblog) und wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Meinungsäußerungs- bzw. Medienfreiheit nach Art. 11 Grundrechtecharta andererseits (zB von Voorhoof auf Inforrm's Blog, von Helberger und Schulz auf dem Media@LSE Blog, oder von Popović auf EJIL: Talk!). Von Bedeutung dabei ist auch, dass die Sanktionen nicht nur die "sanktionierten" Rundfunkveranstalter treffen, sondern etwa auch Internet Service Provider, Suchmaschinen oder Social Media Plattformen, die den Zugang zu Websites der betroffenen Rundfunkveranstalter sperren müssen (zur Reichweite der Sanktionen im Detail hier). 

Die Klägerin

RT France ist eine in Frankreich niedergelassene Aktiengesellschaft, deren einzige Aktionärin "TV Novosti" ist, eine gemeinnützigen Vereinigung mit Sitz in Moskau, die fast vollständig aus dem russischen Staatshaushalt finanziert wird. Seit 2017 sendete RT France auf Basis einer von der französischen Regulierungsbehörde (Conseil Supérieur de l'Audiovisuel - CSA) erteilten Zulassung audiovisuelle Inhalte über Satellit und Internet (in Frankreich und darüber hinaus). Die Klage vor dem EuG stützte RT France auf vier Klagegründe:

  1. Verletzung der Verteidigungsrechte, 
  2. Verletzung der Meinungs- und Informationsfreiheit, 
  3. Verletzung der unternehmerischen Freiheit,  
  4. Verletzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

Der Beklagte und seine Streithelfer 

Beklagt war der Rat als Normsetzer der bekämpften Rechtsakte. Als Streithelfer auf der Seite des Rates sind die Kommission und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik beigetreten, sowie von den Mitgliedstaaten einerseits die (teilweise) französischsprachigen Staaten Frankreich und Belgien und andererseits - mit Ausnahme Finnlands - alle Staaten mit einer Landgrenze zu Russland (Polen, Estland, Lettland und Litauen). Aus diesem Line-up muss man nicht allzu viel ableiten, aber es zeigt doch, dass die "westlichen" EU-Staaten (mit Ausnahme Frankreichs und Belgiens) kein besonderes Interesse an der Sache zeigen. Österreich zum Beispiel hat sich ebenso wie Deutschland im Verfahren nicht eingebracht.

Das Urteil

Kompetenz des Rates

Im Rahmen des zweiten Klagegrundes zog RT France auch die Zuständigkeit des Rates zur Erlassung der bekämpften Rechtsakte in Zweifel. Alleine die nationalen Regulierungs- bzw. Aufsichtsbehörden (in Frankreich nunmehr Arcom) seien zuständig, gegen ein audiovisuelles Medium wegen unangemessener redaktioneller Inhalte zu bestrafen. 

Damit machte RT France der Sache nach Bedenken geltend, wie sie auch von klassischen deutschen Medienrechtlern gerne vorgebracht werden: Medien wären demnach allein mitgliedstaatlicher Regulierung unterworfen. Abgesehen davon, dass diese Ansicht schon die Binnenmarkt-Dimension der Medienregulierung übersieht (Stichwort: AVMD-Richtlinie), greift sie im Fall der Sanktionierung russischer Staatsmedien schon wegen der anderen Kompetenzgrundlage nicht, wie das EuG in seinem Urteil deutlich macht:

Der bekämpfte Beschluss stützt sich auf Art 29 EUV, wonach der Rat den Standpunkt der Union (im Rahmen der GASP, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) bestimmt. Nach der Rechtsprechung des EuGH verfügt der Rat dabei "wegen des breiten Spektrums der in Art. 3 Abs. 5 EUV und Art. 21 EUV sowie den speziellen Vorschriften über die GASP, insbesondere den Art. 23 und 24 EUV, genannten Ziele und Felder der GASP" über einen großen Spielraum (das EuG verweist dazu [wie auch ich bereits in meinem ersten Blogbeitrag] auf das zu früheren Sanktionen gegen Russland ergangene Urteil Rosneft, Rn. 88).

Das EuG hält fest, dass dem Rat nicht vorgeworfen werden könne, dass er angesichts der internationalen Krise, die durch die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine verursacht wurde, auch das vorübergehende Verbot der Ausstrahlung von Inhalten bestimmter Medien, insbesondere der vom russischen Staat finanzierten RT-Gruppe, als eine der zielführenden Maßnahmen ("mesures utiles") angesehen hat, um auf die schwere Bedrohung des Friedens an den Grenzen der Union und den Verstoß gegen das Völkerrecht zu reagieren. Der Eingriff steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Da Propaganda- und Desinformationskampagnen geeignet sind, die Grundlagen demokratischer Gesellschaften in Frage zu stellen und einen integralen Bestandteil des Arsenals moderner Kriegsführung zu bilden, sind die restriktiven Maßnahmen auch Teil der Verfolgung der Ziele der Union nach Art. 3 Abs. 1 und 5 EUV.

Zum Argument, dass nur die nationale Regulierungsbehörde einen derartigen Eingriff hätte vornehmen dürfen, verweist das EuG einerseits darauf, dass Zuständigkeiten der Union, einschließlich jener der im Rahmen der GASP, nicht durch Befugnisse nationaler Verwaltungsbehörden ausgeschlossen oder eingeschränkt werden können. Dass eine nationale Behörde zu bestimmten "Sanktionen" befugt ist, steht der Befugnis des Rates zur Erlassung restriktiver Maßnahmen nicht entgegen, auch wenn diese Maßnahmen darauf abzielen, die Verbreitung von Inhalten eines Rundfunkveranstalters (vorübergehend) zu untersagen. Andererseits merkt das EuG an, dass die den nationalen  Behörden durch die innerstaatliche Gesetzgebung übertragenen Befugnisse nicht dieselben Ziele verfolgen, nicht auf denselben Werten beruhen und nicht dieselben Ergebnisse garantieren können wie die im Rahmen der GASP getroffenen einheitlichen Sofortmaßnahmen für das gesamten Gebiet der Union. 

In diesem Zusammenhang bezieht sich das EuG auch darauf, dass die restriktiven Maßnahmen auch an alle "Betreiber" gerichtet sind, die Inhalte der RT-Gruppe verbreiten, sodass ein allfälliges Eingreifen nationaler Aufsichtsbehörden, das auf den Hoheitsbereich des jeweiligen Mitgliedstaates beschränkt ist, nicht zum selben Ergebnis hätte führen können. 

Kurz geht das EuG geht auch auf die - von RT France gar nicht geltend gemachte - Frage der Aufteilung von Kompetenzen innerhalb der Union ein. Dass eine Regelung etwa auch im Rahmen der Binnenmarktkompetenz (wie bei der AVMD-Richtlinie) möglich gewesen wäre, schließt die Kompetenz im Rahmen der GASP aber nicht aus: Die Maßnahmen ergänzen einander, haben ihren eigenen Anwendungsbereich und andere Ziele. 

Die bekämpfte Verordnung stützte sich auf Art. 215 Abs. 2 AEUV, auch die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Kompetenzgrundlage sieht das EuG konsequenterweise als gegeben an.

Keine Verletzung der Verteidigungsrechte

Rechtlich etwas heikler als die meines Erachtens wenig problematische Kompetenzfrage war die Frage , ob RT France als unmittelbar von der Maßnahme betroffenes Unternehmen in seinen Verteidigungsrechten verletzt wurde, weil keine vorherige Anhörung erfolgt war und die Begründung der Maßnahmen relativ knapp gehalten wurde. 

Das Recht jeder Person auf rechtliches Gehör, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, ist in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRC verankert. Im Zusammenhang mit der Aufnahme (oder Belassung) einer Person auf die Sanktionsliste hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass die zuständige Unionsbehörde der betroffenen Person die ihr vorliegenden belastenden Informationen, auf die sie ihre Entscheidung stützt, mitteilen muss, damit diese Person ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen verteidigen und in Kenntnis aller Umstände entscheiden kann, ob es angebracht ist, den Unionsrichter anzurufen (Urteil Kadi II, Rn. 111). Diese Information muss aber nicht zwingend vor der erstmaligen Aufnahme in die Sanktionsliste erfolgen (Urteil Kadi I, Rn. 338-342). 

Das EuG überträgt diese Rechtsprechung, die den notwendigen Überraschungseffekt in Fällen der Aufnahme in die Sanktionsliste, insbesondere im Hinblick auf das Einfrieren von Geldern, betont hat, auch auf den hier vorliegenden Fall eines (temporären) Sende- und Verbreitungsverbots. Auch dabei sei ein sofortiges Handeln unerlässlich, um den "effet utile", die Wirksamkeit der Maßnahme, nicht zu gefährden. 

Die Erfordernisse der Dringlichkeit und Wirksamkeit aller erlassenen restriktiven Maßnahmen würden daher die Beschränkung des nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRC gewährleisteten Rechts rechtfertigen, soweit die Maßnahmen tatsächlich anerkannten Zielen des Gemeinwohls - wie zB der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Union - dienen. 

Das EuG hält auch fest, dass es - um die Integrität der demokratischen Debatte innerhalb der europäischen Gesellschaft zu wahren - notwendig geworden sei, nach dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts restriktive Maßnahmen gegenüber Medien zu ergreifen, die vom russischen Staat - dem Aggressorstaat - finanziert werden, und die als Quelle ständiger und konzertierter Desinformation und Manipulation von Tatsachen anzusehen sind (Rn. 88). Das EuG bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Rechtsprechung des EGMR (Urteil NIT, Abs.181 und 182), wonach zu berücksichtigen sei, dass audiovisuelle Medien eine viel unmittelbarere und stärkere Wirkung haben als die Presse, da sie durch Bilder Botschaften übermitteln können, die das geschriebene Wort nicht vermitteln kann.

Unter Berücksichtigung des "ganz außergewöhnlichen Kontexts", in dem die angefochtenen Rechtsakte erlassen wurden, kommt das EuG daher zum Ergebnis, dass der Rat nicht verpflichtet war, RT France vor der erstmaligen Eintragung in die Sanktionslisten anzuhören. Sicherheitshalber führt das EuG aber in einer Alternativbegründung auch noch aus, dass RT nicht dargelegt hat, dass eine Anhörung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Rn. 93 bis 99). 

Auch das Erfordernis einer ausreichenden Begründung sieht das EuG als erfüllt an: in den Erwägungsgründen 6 bis 9 der angefochtenen Rechtsakte ergibt sich, dass (auch) RT France deshalb in die Liste aufgenommen wurde, weil sie die darin vorgesehenen spezifischen und konkreten Voraussetzungen erfüllte, nämlich ein Medium zu sein, das der ständigen unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle der Führung der russischen Föderation unterstand, und Propagandaaktionen durchführte, die unter anderem darauf abzielten, die militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine zu rechtfertigen und zu unterstützen. Diese Begründung sei "verständlich und hinreichend genau," um es RT France zu ermöglichen, die Gründe zu erfahren, die den Rat zur Einbeziehung von RT France in die Sanktionen veranlasst haben, und zweitens um die Rechtmäßigkeit dieser Rechtsakte vor den Unionsgerichten anzufechten. 

Keine Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit

Die spannende Kernfrage des Rechtsstreits war natürlich die Vereinbarkeit des Sende- und Verbreitungsverbots mit der durch Art. 11 GRC garantierten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. 

Das EuG setzt an die Spitze seiner Ausführungen zunächst einige allgemeine Anmerkungen zu den rechtswissenschaftlichen Grundsätzen der Meinungsäußerungsfreiheit, wobei es sich ganz wesentlich auf die Rechtsprechung des EGMR stützt. Es betont (in Rn. 133), dass die Meinungsäußerungsfreiheit für jedermann gilt (unter Hinweis auf EGMR Öztürk, Abs. 49), auch für schockierende oder störende Äußerungen (unter Hinweis auf EGMR Handyside, Abs. 49, und - etwas irritierend - auf NIT, Abs. 177 und die dort zitierte Rechtsprechung, die sich aber auf die Frage der Notwendigkeit eines Eingriffs bezieht). Danach (Rn. 134) verweist das EuG darauf, dass es in demokratischen Gesellschaften grundsätzlich als notwendig erachtet werden kann, Hassrede zu sanktionieren, sofern die Beschränkungen oder Sanktionen in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (unter Hinweis auf EGMR Erbakan, Abs. 56, und Rouillan, Abs. 66). Das EuG hebt (wiederum unter Berufung auf EGMR NIT, Abs. 180-182 und die dort zitierte Rechtsprechung) auch die Bedeutung der journalistischen Berufsethik, der Regeln des verantwortlichen Journalismus und die unmittelbare und stärkere Wirkung audiovisueller Medien hervor (Rn. 136-138). Das EuG schließt seine "Einleitung" zur Meinungsäußerungsfreiheit mit einem eher allgemeinen Hinweis darauf, dass Äußerungen, die Gewalt, Hass, Fremdenfeindlichkeit oder andere Formen der Intoleranz befürworten oder rechtfertigen, normalerweise nicht geschützt sind (unter Hinweis auf EGMR Sürek, Abs. 61 und 62, und Perinçek, Abs. 197 und 230), wobei der Kontext der Äußerungen zu berücksichtigen ist (Rn. 139 bis 140). 

Zwei Aspekte fallen schon in dieser allgemeinen Einleitung auf: erstens wird die Frage, ob die Garantien des Art. 11 GRC wirklich uneingeschränkt auch für staatliche (ausländische) Unternehmen gelten, nicht thematisiert. Nun ist es eine Besonderheit des Unionsrechts, dass fremden Staaten (und deren Unternehmen) der volle Zugang zu den Unionsgerichten eröffnet ist, um restriktive Maßnahmen zu bekämpfen (siehe EuGH, 22. 6. 2021, C-872/19 P, Venezuela / Rat) - dass diese sich dabei aber auch uneingeschränkt auf die Unionsgrundrechte berufen können, ist keine Selbstverständlichkeit und würde eine nähere Betrachtung rechtfertigen. 

Und zweitens bleibt die Einleitung im Hinblick auf die Abgrenzung zu Art. 54 GRC (vergleichbar mit Art. 17 EMRK) höchst unscharf: zwar wird auf das EGMR-Urteil Perinçek verwiesen, in dem diese Frage erörtert wurde, aber ausdrücklich angesprochen wird diese Grundfrage, ob überhaupt der Anwendungsbereich des Art. 11 GRC eröffnet wird, weder in der Einleitung noch danach in der Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Fall. Es überrascht insbesondere auch, dass der Beschluss des EGMR im Fall Roj TV im Urteil des EuG überhaupt nicht erwähnt wird, obwohl das EuG Rechtsprechung des EGMR sonst umfassend zitiert.

Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit: Das EuG geht, ohne Art. 54 GRC überhaupt nur zu erwähnen, ohne weiteres von einer Einschränkung der nach Art. 11 GRC garantierten Meinungsäußerungsfreiheit aus. Wenn man Art. 54 GRC ausblendet - was allerdings keineswegs naheliegt -, ist das natürlich konsequent und richtig. Damit stellen sich dann die Folgefragen, ob im Sinne des Art. 52 GRC die Einschränkung 1. "gesetzlich vorgeschrieben" ist, 2. den Wesensgehalt des Grundrechts achtet, 3. einem von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel entspricht und 4. verhältnismäßig ist. 

"Gesetzlich vorgesehen": das EuG bezieht sich hier auf die Rechtsprechung des EGMR zur Vorhersehbarkeit. Demnach muss ein "Gesetz" (im materiellen Sinne) nicht nur bestehen, sondern auch zugänglich und so bestimmt sein, dass die Auswirkungen auf die betroffenen Personen - nötigenfalls mit entsprechender Beratung - vorhersehbar sind. 

Ich wäre davon ausgegangen, dass die Einschränkung im vorliegenden Fall durch ein Gesetz im materiellen Sinn (Beschluss und Verordnung des Rates) erfolgte, zumal diese Rechtsakte ein Verbreitungsverbot bestimmter Inhalte normierten und nicht als ein unmittelbar an eine bestimmte Person gerichteter Verwaltungsakt anzusehen sind. Das EuG prüft aber tatsächlich, ob die Verhängung der Sanktionen selbst (also die Erlassung der bekämpften Rechtsakte) für RT vorhersehbar war, geht also, wenn auch nicht ausdrücklich (und aus meiner Sicht nicht zutreffend), davon aus, dass das die Einschränkung verfügende materielle Gesetz Art. 29 EUV bzw. Art. 215 Abs. 2 AEUV wäre. Auch mit diesem - meines Erachtens nicht zutreffenden - Verständnis bejaht das EuG die Vorhersehbarkeit angesichts des weiten Ermessensspielraums des Rates, der Bedeutung insbesondere der audiovisuellen Medien und der Rolle, die eine umfassende Medienunterstützung für die militärische Aggression Russlands in der Ukraine spielt (Rn. 151). Mit anderen Worten: ein vollständig aus dem russischen Staatshaushalt finanziertes Medium, das die völkerrechtswidrige Aggression Russlands unterstützt, musste damit rechnen, sanktioniert zu werden. 

Wesensgehalt des Grundrechtes: das EuG betont, dass die Einschränkung temporär ist (zunächst bis 31.07.2022, mittlerweile verlängert bis 31.01.2023) und wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Aufrechterhaltung der Einschränkung hängt von zwei - kumulativen -Voraussetzungen ab: Beendigung der Aggression gegen die Ukraine und Einstellung der russischen Propagandaaktionen gegen die Union und ihre Mitgliedstaaten. Außerdem sei nicht jegliche Tätigkeit von RT France, die unter Art. 11 GRC fällt, untersagt. RT France kann zB weiter Inhalte produzieren und diese außerhalb der Union verbreiten oder verwerten. Der Wesensgehalt des Grundrechts ist damit nicht verletzt (Rn. 159).

Dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung: das EuG anerkennt die vom Rat verfolgten Ziele des Schutzes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Union und der Wahrung des Friedens, der Verhütung von Konflikten und der Stärkung der internationalen Sicherheit. Das mit den Sanktionen verfolgte Ziel der Beendigung des Kriegszustands und der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht ist ein Ziel von überwiegendem Allgemeininteresse für die Gemeinschaft (Hinweis auf EuGH 30.7.1996, C‑84/95, Bosporus, Rn. 26).

Verhältnismäßigkeit: Bei der im Zentrum des Urteils stehenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung prüft das EuG, ob die Einschränkungen nicht weiter gehen, als zur Verfolgung der legitimen Ziele notwendig ist, ob es eine weniger einschränkende geeignete Maßnahme gäbe, und ob die Nachteile nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen. 

Vorweg geht das EuG aber auf die vom Rat vorgelegten Nachweise ein, prüft also auf Sachverhaltsebene, ob eine "hinreichend solide Tatsachengrundlage" für die Entscheidung, Sanktionen zu verhängen, besteht. Das EuG kommt dabei zum Ergebnis, der Rat habe nachgewiesen, dass RT France unter Kontrolle der russischen Führung steht (Rn. 171 bis 174), und ebenso, dass RT France kontinuierliche und abgestimmte Propagandaaktionen gegen die Zivilgesellschaft in der Europäischen Union und in den Nachbarstaaten lanciert hat, die insbesondere darauf abzielten, die den Angriff Russlands auf die Ukraine zu rechtfertigen (Rn. 175 bis 191). Das EuG legt dazu im Einzelnen den Ablauf der Ereignisse unmittelbar rund um die Invasion in der Ukraine und die damit zusammenhängende Berichterstattung von RT dar. Alles zusammen belegt auch nach Auffassung des EuG, dass RT France vor Erlassung der Sanktionen die destabilisierende und aggressive Politik der Russischen Föderation gegenüber der Ukraine unterstützt und die militärische Aggression gerechtfertigt habe, was die Annahme einer erheblichen und direkten Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Union rechtfertige.

Eignung der Einschränkungen zur Zielerreichung: das EuG kommt in sehr knappen Worten zum Ergebnis, dass das vorübergehende Verbreitungsverbot für Inhalte von RT - als eine Maßnahme im Rahmen einer schnellen, einheitlichen, abgestuften und koordinierten Reaktion der Union - eine geeignete Maßnahme sei, um das Ziel zu erreichen, größtmöglichen Druck auf die russischen Behörden auszuüben, damit sie ihre militärische Aggression beenden (Rn. 193 bis 194).

Erforderlichkeit der Maßnahmen: Das EuG kommt auch zum Schluss, dass Sendeverbote in einzelnen Staaten oder die Verpflichtung, Warnhinweise einzublenden, zur Zielerreichung nicht geeignet gewesen wären (Rn. 196 bis 200).

Interessenabwägung: Das EuG betont hier einerseits die Bedeutung der mit den restriktiven Maßnahmen verfolgten Ziele - nichts weniger als der Weltfrieden wird hier wieder ins Spiel gebracht (etwa in Rn. 203, unter Hinweis auch auf einen Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen) - und andererseits die Pflichten und Verantwortlichkeiten, die die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach der Rechtsprechung des EGMR mit sich bringt. Das EuG verweist in diesem Zusammenhang auch wieder auf EGMR NIT (Abs. 215), und bringt zum Ausdruck, dass die betroffenen Inhalte keine seien, die den "verstärkten Schutz" nach Art. 11 GRC erfordern würden, noch dazu, weil das betroffene Medium unter Kontrolle des Aggressorstaates steht (Rn. 206).

Das EuG greift auch das Vorbringen der Streithelfer auf, wonach Art. 20 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte jede Kriegspropaganda verbietet (siehe dazu schon den Beitrag von Baade im Verfassungsblog). Dieses Verbot umfasse auch Äußerungen, die wiederholt und abgestimmt zugunsten eines andauernden völkerrechtswidrigen Krieges abgegeben werden, insbesondere wenn diese Kommentare von Medien stammen, die direkt oder indirekt vom Aggressorstaat kontrolliert werden (Rn 208 bis 210). Auch die Interessenabwägung geht daher zugunsten des Rates aus. 

In diesem Zusammenhang ist noch bemerkenswert, dass das EuG auch kurz auf die "passive" Informationsfreiheit eingeht und meint, dass dann, wenn sich ein Verbot der Ausstrahlung und Weiterverbreitung als verhältnismäßig erweise, dies umso mehr (a fortiori) auch für die damit verbundene Einschränkung des Rechts der Öffentlichkeit, diese Informationen zu empfangen, gelte (Rn. 214). 

Insgesamt kommt das EuG daher zum Ergebnis, dass das Recht von RT France auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art. 11 GRC durch die Sanktionen nicht verletzt wurde. 

Keine Verletzung der unternehmerischen Freiheit

Es ist natürlich nicht zweifelhaft, dass die Sanktionen eine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC bewirken. Auch diese Freiheit gilt freilich nicht unbeschränkt, sondern kann ebenso wie die Meinungsäußerungsfreiheit unter den Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRC beschränkt werden. Auch diese Voraussetzungen sieht das EuG - in diesem Punkt wenig überraschend - als gegeben an (Rn. 216 bis 230). 

Keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit

Die von RT France behauptete Diskriminierung aus Gründen der (russischen) Staatsangehörigkeit (als Verletzung des Art. 21 Abs. 2 GRC) kann schon deshalb nicht zum Erfolg der Klage führen, weil sich darauf nur Unionsbürger berufen können (ganz abgesehen von der Frage, ob sich eine Aktiengesellschaft auf eine "Staatsbürgerschaft" berufen könnte). Aber auch soweit man Art. 21 GRC als Ausprägung eines allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes lesen kann, hat RT France nicht aufgezeigt, dass andere ihr vergleichbare Medienunternehmen eine günstigere Behandlung erfahren hätten. Das EuG verwirft daher auch diesen Klagegrund.

Ausblick

RT France kann (und wird wohl) den - auf Rechtsfragen beschränkten - Rechtszug zum EuGH nützen (UPDATE 04.10.2022: Das Rechtsmittel ist nun beim EuGH anhängig zu C-620/22 P). Das EuG konnte sich in seiner Entscheidung einerseits auf gesicherte Rechtsprechung des EuGH (insbesondere RosneftKadi I, Kadi II und Bosphorus) zu den Grundfragen des Sanktionenrechts stützen, und hat andererseits im Hinblick auf die neuartigen Sanktionen gegenüber Medien extensiv - wenn auch manchmal etwas erratisch - Rechtsprechung des EGMR herangezogen. Auch wenn man manche Details - insbesondere die Frage des Anwendungsbereichs im Hinblick auf Art. 54 GRC oder die Prüfung der Vorhersehbarkeit - vielleicht anders abhandeln hätte können, sind gravierende Anhaltspunkte, die eine Aufhebung oder ein "Umdrehen" der Entscheidung durch den EuGH erwarten ließen, nicht auszumachen. 

Im Verfahren gar nicht thematisiert wurde die konkrete Reichweite der Sanktionen, die insbesondere im Hinblick auf die daraus resultierenden Verpflichtungen von Suchmaschinenbetreibern, Internetzugangsanbietern und Social Media Plattformen für Diskussionen gesorgt haben (siehe dazu näher meinen ersten Blogbeitrag dazu). Die Frage, ob etwa für einen ISP die genaue Abgrenzung seiner Verpflichtungen "vorhersehbar" war, könnte das EuG noch in der Rechtssache T-307/22, A2B Connect u.a./Rat, beschäftigen, die von niederländischen ISPs initiiert wurde. 

Sofern das EuG diese Klage als zulässig beurteilt, würde dort auch noch die Frage abzuhandeln sein, inwiefern die Sanktionen das Recht von Dritten (etwa Kunden der ISPs) auf Zugang zu Informationen verletzen könnten. Zu diesem Punkt hat das EuG allerdings schon im nun vorliegenden Urteil darauf hingewiesen, dass eine Verletzung des Rechts auf den Empfang von Informationen nicht gegeben sein kann, wenn schon das Senden der Informationen zulässigerweise beschränkt (untersagt) wurde.

(Update 24.08.2022: erwartungsgemäß kritisch befassen sich Ronan Ó Fathaigh und Dirk Voorhoof mit dem EuG-Urteil in diesem Beitrag auf Inforrm's Blog.)

(Update 15.11.2022: Wie RT DE die EU-Sanktionen umgeht, hat Sophie Timmermann auf correctiv.org dargestellt.)

Sunday, July 10, 2022

Wie der "Beamtenminister" versehentlich für die Ausschreibung der Präsidentin/des Präsidenten des BVwG zuständig wurde (und warum die Ausschreibung dennoch falsch ist)

Veränderungen im Wirkungsbereich von Bundesministerien können rechtlich heikel sein, wie zuletzt bei der geplanten, demnächst wohl wirksam werdenden Verschiebung der Telekom-Angelegenheiten zum Finanzministerium zu sehen war (im Blog dazu hier). Es kann nämlich auch sein, dass sich die Verwaltung im Dickicht der Änderungen einfach verheddert und damit Gefahr läuft, eine wichtige Personalentscheidung rechtlich angreifbar zu machen - wie ein aktuelles Beispiel zeigt.

Gestern wurde im Amtsblatt zur Wiener Zeitung die Funktion "der Präsidentin oder des Präsidenten beim Bundesverwaltungsgericht" ausgeschrieben. Auch abgesehen von der merkwürdigen Formulierung "beim Bundesverwaltungsgericht" (es geht um den/die Präsident:in des BVwG) ist die Ausschreibung in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

1. Warum schreibt das BMKÖS aus?

Ausgeschrieben wurde vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (BMKÖS). Dieses ist, man glaubt es kaum, für die Ausschreibung tatsächlich zuständig, und zwar gemäß § 207 RStDG (Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz). Diese Zuständigkeit ist allerdings die Folge eines Versehens im typischen Verwirrspiel bei Zuständigkeitsveränderungen nach einer Regierungsumbildung:

Mit der Novelle zum Bundesministeriengesetz (BMG), BGBl I 2017/164, wurden einige Aufgabenbereiche der Ministerien neu geregelt. Unter anderem wurden damit "Allgemeine Personalangelegenheiten von öffentlich Bediensteten, soweit sie nicht in den Wirkungsbereich des Bundesministeriums für Finanzen fallen", vom BKA in das damalige Bundesministerium für öffentlichen Dienst und Sport verschoben.

Und weil bei solchen Zuständigkeitsverschiebungen erfahrungsgemäß die Rechtsfolgen oft kaum überblickt werden, trifft § 17 BMG ("Zuständigkeitsänderungen") Vorsorge:

"§ 17. Wenn auf Grund von Änderungen dieses Bundesgesetzes Änderungen im Wirkungsbereich der Bundesministerien vorgesehen sind, so gelten Zuständigkeitsvorschriften in besonderen Bundesgesetzen als entsprechend geändert."

Das heißt: die Zuständigkeitsvorschriften gelten automatisch als geändert, eine formelle Anpassung ist nicht erforderlich. Wo - im konkreten Beispiel - zuvor "Bundeskanzler" stand, war danach, soweit es "Allgemeine Personalangelegenheiten" betraf, "Bundesminister für öffentlichen Dienst und Sport" zu lesen.

Auch wenn es also nicht notwendig wäre, erfolgen später - meist wenn ein Gesetz auch aus anderen Gründen geändert werden soll - oft "Anpassungen" der Ressortbezeichnung. So auch bei § 207 RStDG - und zwar mit der Dienstrechts-Novelle 2018, BGBl I 2018/60. Ddie Erläuterungen (196 BlgNR 26, GP, S. 1-2) fassen hier dutzende Änderungen in verschiedenen Gesetzen zusammen und bezeichnen dies ausdrücklich als "Anpassungen der Ressortbezeichnungen" aufgrund der BMG-Novelle BGBl I 2017/164. Mit einer weiteren "Anpassung" in der Dienstrechts-Novelle 2020 wurde in § 207 RStDG dann der BMöDS durch den BMKÖS ersetzt.

Aber: der Bundeskanzler war in § 207 RStDG nicht deshalb genannt, weil die Ausschreibung der Präsident:innen-Funktion eine "Allgemeine Personalangelegenheit" wäre, sondern weil er für die "Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Ausnahme der Angelegenheiten des Bundesfinanzgerichtes" zuständig war. Diese Angelegenheiten wiederum wurden mit der selben BMG-Novelle 2017, mit der die Allgemeinen Personalangelegenheiten zum BMöDS wanderten, dem Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz übertragen. Zum Zeitpunkt, als mit der Dienstrechts-Novelle 2018 in § 207 RStDG eine vermeintlich bloße Anpassung der Ressortbezeichnung vom BKA zum BMöDS erfolgte, war das BKA eigentlich gar nicht mehr für die dort geregelte Ausschreibung zuständig.

Die "Anpassung der Ressortbezeichnung" war daher sachlich falsch, aber sie ist Gesetz geworden und das BMKÖS daher aktuell für die Ausschreibung tatsächlich zuständig.

2. Wer ist in der Hearing-Kommission?

Dass aufgrund einer eher versehentlich erfolgten Änderung des RStDG der BMKÖS statt der BMJ die Funktion auszuschreiben hat, ändert aber nichts an den im Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG) vorgesehenen Regelungen über die Auswahl der Bewerber:innen, insbesondere auch über die Besetzung der Auswahlkommission. In § 2 Abs. 3 BVwGG heißt es:

"Vor der Erstattung von Vorschlägen für die Stellen des Präsidenten und des Vizepräsidenten sind die Bewerber von einer Kommission bestehend aus einem Vertreter des Bundeskanzlers, einem weiteren Vertreter eines Bundesministeriums, zwei Vertretern der Wissenschaft mit akademischer Lehrbefugnis eines rechtswissenschaftlichen Faches an einer Universität sowie den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, des Verwaltungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes oder einer von diesen jeweils beauftragten Person zu einer Anhörung einzuladen. Die Kommission hat der Bundesregierung mindestens drei Bewerber zur Vorschlagserstattung zu empfehlen."

Werfen wir nun einen Blick in die Ausschreibung des BMKÖS. Dort heißt es:

"Das Auswahlverfahren sieht gemäß § 2 Abs. 3 BVwGG zur Vorbereitung der Beschlussfassung der Bundesregierung die Absolvierung einer mündlichen Anhörung (Hearing) vor einer Kommission vor, die aus zwei Vertreterinnen oder Vertreter des Bundesministers für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, zwei Vertreterinnen oder Vertreter der Wissenschaft mit akademischer Lehrbefugnis eines rechtswissenschaftlichen Faches an einer Universität sowie dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes und der Präsidentin des Obersten Gerichtshofes oder einer jeweils von diesen beauftragten Person, besteht." [Hervorhebung hinzugefügt]

Eine derart besetzte Kommission wäre gesetzwidrig. Denn in § 2 Abs. 3 BVwGG wurde der "Bundeskanzler" nicht durch den BMKÖS ersetzt - weder formell wie bei § 207 RStDG, noch im Wege einer automatischen Änderung nach § 17 BMG. Die früher vom Bundeskanzler wahrgenommenen "Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit" (mit Ausnahme des BFG) sind ja, wie schon oben geschrieben, 2017 dem BMVRDJ übertragen worden. Mit der BMG-Novelle 2020 sind die Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit teilweise vom früheren BMVRDJ (jetzt wieder BMJ) in das BKA zurückgewandert, allerdings "mit Ausnahme der organisatorischen Angelegenheiten". Für die organisatorischen Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts) ist also das BMJ zuständig.

Wo immer im BVwGG daher "Bundeskanzler" steht, ist derzeit"BMJ" zu lesen (als Folge des § 17 BMG). Dies wird auch in der Praxis - die freilich, wie wir aktuell leider in anderem Zusammenhang erleben, kein verlässlicher Anzeiger der Rechtmäßigkeit ist - so gehalten (siehe nur zum Beispiel diese Verordnung der Justizministerin zur Änderung der zunächst vom Bundeskanzler erlassenen Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim BVwG).

Der Kommission hat also jedenfalls ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der Bundesministerin für Justiz anzugehören.

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Update 13.07.2022: das BMKÖS hat im Amtsblatt zur Wiener Zeitung ein Erratum zur Ausschreibung veröffentlicht und darin die Kommissionszusammensetzung korrigiert:


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Der/die weitere Vertreter:in eines Bundesministeriums ist auch nicht zwingend jemand vom BMKÖS. Dass es diese zweite Person gibt, ist eine klassische Folge des Koalitionsdenkens, und in der Praxis ist klar, was damit gemeint ist: jemand aus einem "andersfarbigen Ressort". Die Erläuterungen (RV 2008 BlgNR 24-GP, S. 3) verbrämen das nur unzureichend:

"Der gemäß Abs. 5 neben dem Vertreter des Bundeskanzlers [nun: der Bundesministerin für Justiz] in die Kommission entsandte weitere Ressortvertreter soll die Expertise der Ressorts in die Kommission einbringen. Er wird in Abstimmung der Ressorts zu bestimmen sein."

Interessant ist, dass es kein formalisiertes Procedere für die Auswahl jenes Ressorts gibt, von dem diese:r weitere Regierungsvertreter:in in der Auswahlkommission bestimmt werden soll. Die Erläuterungen erwarten nur eine "Abstimmung der Ressorts" - auch das weist darauf hin, dass es ein Koalitionsthema ist. Immerhin ist der endgültige Bestellungsvorschlag an den Bundespräsidenten von der Bundesregierung zu beschließen, bedarf also der Einstimmigkeit. Da wird man sich wohl auch zuvor über die Kommissionszusammensetzung einigen müssen.

Theoretisch könnte der/die weitere Vertreter:in eines Bundesministeriums also durchaus vom BMKÖS kommen. Da dieses aber vom selben Koalitionspartner wie das BMJ geführt wird, wäre es doch überraschend, wenn zwei von grünen Minister:innen nominierte Vertreter:innen in der Auswahlkommission sitzen würden - noch dazu wo im bekannten Sideletter zum BVwG steht: "Präsident (2022): Nominierungsrecht ÖVP". Möglich wäre freilich auch, dass man sich auf Regierungsebene auf die konkreten Personen einigt, die als Ressortvertreter:innen in die Kommission entsandt werden, und diese müssen nicht die gleiche politische "Farbe" wie die Ministerin/der Minister haben.

Die Kommission besteht weiters aus den drei Höchstgerichtspräsident:innen (oder deren Vertreter:innen) und zwei Vertreter:innen der Wissenschaft. Wer letztere auswählt, wird im Gesetz nicht geregelt, auch hier kann man also erwarten, dass es einen Konsens in der Bundesregierung geben muss - und dementsprechend werden wohl schnell Überlegungen zur koalitionären Zuordenbarkeit der Wissenschafter:innen angestellt werden.

Eine Beteiligung der kollegialen Justizverwaltung - also etwa des Personalsenates - am Bestellungsvorgang ist im Gesetz übrigens nicht vorgesehen. Für die Bestellung von Präsident:in und Vizepräsident:innen des OGH war zuletzt eine derartige Einbindung von der Justizministerin vorgeschlagen worden (fand bislang allerdings nicht den Weg ins Gesetz); für das ebenfalls zur Justizministerin ressortierende BVwG gab es bisher nicht einmal einen Vorschlag des Ressorts.

3. Wer wird es werden?

Ich habe keine Ahnung, und ich vertraue natürlich auf ein sachliches Auswahlverfahren. Wir wissen zudem nicht, wer sich bewerben wird. Der Vizepräsident des BVwG hat sich zwischenzeitig nach einem anderen Job umgeschaut, aber vielleicht wird er sich dann doch auch für die Funktion des Präsidenten bewerben. Ansonsten fällt auf, dass die Ausschreibung eine tatsächliche Praxis als Richter:in nicht ausdrücklich verlangt. Das in der Ausschreibung genannte Erfordernis "praktische Erfahrungen auf dem Gebiet gerichtlicher bzw. gerichtsförmiger Entscheidungsfindungsprozesse" ließe allenfalls Spielraum, um zB, falls dies gewollt wäre, auch einen geprüften Richter, der nach der Richteramtsprüfung nie judiziert, sondern in der Verwaltung und/oder in Kabinetten gearbeitet hat, in die Auswahl mit einzubeziehen.

Thursday, June 09, 2022

Kurzes Update zu den Sanktionen gegen russische Staatsmedien

Ich habe im März einen längeren Blog-Beitrag zu den EU-Sanktionen betreffend RT und Sputnik geschrieben (eine gekürzte Fassung gibt es hier auf dem Verfassungsblog). Seither ist einiges geschehen, das ich zunächst in Nachträgen/Updates bei meinem ursprünglichen Beitrag verarbeitet habe - nun schien es mir aber doch an der Zeit, die aktuellen Entwicklungen gesondert kurz darzustellen.

Nichtigkeitsklagen gegen die RT/Sputnik-Sanktionen vom 1. März 2022:

Die Sanktionen gegen RT und Sputnik sind mittlerweile Gegenstand von Nichtigkeitsklagen vor dem EuG, eingebracht einerseits durch RT France (T-125/22 RT France/Rat) und andererseits von niederländischen ISPs (T-307/22, A2B Connect u.a./Rat). In der Rechtssache T-125/22 findet am 10. Juni 2022 bereits die mündliche Verhandlung statt, mit einer relativ zeitnahen Entscheidung ist zu rechnen (der Präsident des EuG hat in seiner - ablehnenden - Entscheidung über den einstweiligen Rechtsschutz - siehe dazu auch die Pressemitteilung des EuG - bereits darauf hingewiesen, dass über die Klage "aufgrund der außergewöhnlichen Umstände" im beschleunigten Verfahren entschieden wird). [Update: zum Urteil des EuG vom 27.07.2022 in dieser Rechtssache siehe diesen Blogbeitrag; das Rechtsmittel von RT France ist beim EuGH anhängig zu C-620/22 P] Die Klage der niederländischen ISPs - die insofern interessanter ist, als darin auch und gerade die Frage der Freiheit des Zugangs zu Informationen thematisiert wird - kommt für eine Verbindung der beiden Verfahren damit zu spät. 

Erweiterung der Sanktionen gegen RT und Sputnik am 3. Juni 2022: Verbot der Werbung in Inhalten der sanktionierten Medien

Mit dem Beschluss (GASP) 2022/884 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L 153 vom 3.6.2022, S. 128) sowie mit der darauf aufbauenden Verordnung (EU) 2022/879 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L 153 vom 3.6.2022, S. 53) hat der Rat die bereits bestehenden Sanktionen gegen RT und Sputnik noch erweitert. Verboten ist nun auch, in Inhalten, die von RT und Sputnik erstellt oder gesendet werden, für Produkte oder Dienstleistungen zu werben. 

Dieses Verbot richtet sich an jedermann, betroffen davon werden neben den werbetreibenden Unternehmen selbst vor allem Agenturen bzw. Werbemittler sein. Bemerkenswert ist - abgesehen davon, dass auch hier wiederum nicht die Begrifflichkeiten aus der AVMD-Richtlinie ("kommerzielle Kommunikation") verwendet werden -  dass nur Produkt- und Dienstleistungswerbung verboten wird, nicht aber zB Werbung für Ideen oder politische Werbung. Das Verbot erstreckt sich mit dem kryptischen letzten Halbsatz ("einschließlich durch Übertragung oder Verbreitung mittels der in Absatz 1 genannten Möglichkeiten.") auch auf Werbung, die mit der Übertragung oder Verbreitung etwa im Web verbunden ist; zu denken ist hier zB an Pre-Roll-Videos oder In-App-Werbung. 

Diese neuen Sanktionen richten sich nach dem klaren Wortlaut der Norm gegen Werbung in allen "Inhalten, die von den in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen erstellt oder gesendet werden"; die Formulierung in Erwägungsgrund 14 zur Verordnung ("sofern die entsprechenden Rundfunklizenzen ausgesetzt wurden") ist insofern missverständlich, als es nicht darauf ankommt, dass konkrete Lizenzen ausgesetzt wurden; gemeint ist hier wohl schlicht, dass es um jene Einrichtungen geht, die in den Anhang XV aufgenommen wurden, wodurch ja automatisch (allfällige) Rundfunklizenzen und Genehmigungen ausgesetzt werden.

Verstöße gegen diese erweiterten Sanktionen müssen von den Mitgliedstaaten natürlich bestraft werden. Da in Österreich aber die aufgrund der Sanktionen vom 1. März 2022 neu geschaffenen Strafbestimmungen im AMD-G auf bestimmte Diensteanbieter (Anbieter eines Kommunikationsdienstes, Hörfunkveranstalter und Video-Sharing-Plattformanbieter) beschränkt sind (abgesehen von wissentlichen Umgehungshandlungen), tut sich damit ein gewisser Bruch auf: wer Inhalte von RT und Sputnik verbreitet, muss von der KommAustria nach dem AMD-G verwaltungsstrafrechtlich verfolgt werden. Wer in diesen Programmen wirbt, unterliegt den Verwaltungsstrafbestimmungen des Sanktionengesetzes, die von den Bezirksverwaltungsbehörden bzw. Landespolizeidirektionen vollzogen werden.

(Mögliche) Erweiterung der Sanktionen auf weitere russische Staatssender: 

Nach dem Europäischen Rat am 30./31. Mai 2022 hat Kommissionspräsidentin von der Leyen verkündet, dass auch "die Aussetzung der Sendetätigkeiten von drei weiteren russischen Staatsmedien in der EU" Teil des beschlossenen Sanktionenpakets sei. Mit den oben bereits genannten Rechtsakten vom 3. Juni 2022 (Beschluss (GASP) 2022/884 und Verordnung (EU) 2022/879) wurden dann die davon betroffenen Medien genannt; es handelt sich dabei um 

  • Rossiya RTR / RTR Planeta 
  • Rossiya 24 / Russia 24 
  • TV Centre International

Allerdings trat die Erweiterung dieser Sanktionen auf die nun genannten weiteren Medien (durch Erweiterung der jeweiligen Anhänge zu den Rechtsakten) nicht sofort in Kraft, sondern es bedarf noch eines Durchführungsrechtsakts des Rates. Geregelt ist dies in Art. 1 Z 21 der VO (EU) 2022/879 folgendermaßen:

"Diese Nummer gilt in Bezug auf eine oder mehrere der in Anhang VI der vorliegenden Verordnung aufgeführten Organisationen ab dem 25. Juni 2022, sofern der Rat nach Prüfung der betreffenden Fälle dies im Wege eines Durchführungsrechtsakts beschließt."

Das bedeutet, dass der Rat bis spätestens 25. Juni 2022 entscheiden muss, ob die genannten Staatsmedien tatsächlich von den Sanktionen betroffen sein sollen. Diese Verzögerung könnte meines Erachtens auch damit zu tun haben, dass den Betroffenen Medien noch eine Chance zur Verteidigung eingeräumt wird - dazu wurde auch eine entsprechende Mitteilung im Amtsblatt veröffentlicht, wonach diese Einrichtungen Informationen in Bezug auf ihre Aufnahme in die Liste der sanktionierten Medien vom Generalsekretariat des Rates erhalten können. 

Sollte der Rat den Durchführungsrechtsakt vor dem 25. Juni 2022 beschließen, würden für die neu betroffenen Medien die gleichen Sanktionsregeln gelten, wie sie bereits derzeit für RT und Sputnik maßgeblich sind. 

Update 24.06.2022: der Rat hat am 24. Juni 2022 den Beschluss (GASP) 2022/995 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren, getroffen und die Durchführungsverordnung (EU) 2022/994 beschlossen; beide wurden am selben Tag im Amtsblatt kundgemacht. Damit treten die Sanktionen auch gegen Rossiya RTR / RTR Planeta, Rossiya 24 / Russia 24 und TV Centre International am 25. Juni 2022 in Kraft. 

[Update 30.01.2023: zu den am 1. Februar 2023 in Kraft tretenden Sanktionen gegen weitere Medien siehe im Blog hier.]

Weitere Sanktionen gegen Medienunternehmen und Medienverantwortliche

Die Sanktionen betreffend RT und Sputnik (sowie - wahrscheinlich - ab 25. Juni 2022 betreffend Rossiya RTR / RTR Planeta, Rossiya 24 / Russia 24 und TV Centre International) richten sich gegen die Verbreitung von Inhalten dieser Medien in der EU. Sie haben damit - worauf ich schon in meinem früheren Blogpost hingewiesen habe - eine andere Stoßrichtung als die bisherigen "klassischen" restriktiven Maßnahmen gegenüber Unternehmen oder Personen, mit denen - etwas vereinfacht gesagt - die Finanzkraft und Bewegungsfreiheit dieser Unternehmen und Personen getroffen werden soll. Der Grund für solche "klassischen" Sanktionen liegt in der Beteiligung dieser Personen an jenen Handlungen, die Auslöser für die Verhängung von Sanktionen waren (oder an der ihnen zukommenden Verantwortung). Betroffen sind davon allerdings auch einzelne Medienunternehmen und Medienverantwortliche. 

So wurde im jüngsten Sanktionenpaket zum Beispiel auch Белтэлерадыёкампанiя (Belteleradio Company, das nationale staatliche Fernseh- und Hörfunkunternehmen der Republik Belarus) auf die Sanktionenliste gesetzt (Durchführungsverordnung (EU) 2022/876). Dieses Unternehmen kann damit zB keine Konten in der EU mehr eröffnen, die Verbreitung von Sendungen dieses Unternehmens innerhalb der EU ist damit aber nicht untersagt. Grund für die Aufnahme in die Sanktionenliste ist auch nicht das Verbreiten von Desinformation in der EU, sondern die Entlassung protestierender Mitarbeiter, die durch russische Medienmitarbeiter ersetzt. wurden, sodass dieses Unternehmen daher "für Repressionen gegen die Zivilgesellschaft verantwortlich" ist. 

Ebenfalls mit dem jüngsten Sanktionenpaket wurden zB auch Alina Maratovna Kabaeva (Vorsitzende des Vorstands der russischen Nationalen Mediengruppe, die "in enger Verbindung mit Präsident Vladimir Putin" steht) und Arkady Yurievich Volozh (Gründer und Vorstandsvorsitzender von Yandex, der größter russischer ISP ist und  die beliebteste russische Suchmaschine anbietet) neu auf die Sanktionenliste gesetzt. Auch Andrei Yurievich Lipov, Chef von Roskomnadzor (Föderaler Dienst für die Überwachung der Kommunikation, der Informationstechnologie und der Massenmedien, der vor allem auch für Websperren zuständig ist), wurde auf die Sanktionenliste gesetzt (alle mit Durchführungsverordnung (EU) 2022/878).