Thursday, May 18, 2023

"Medieninhaber ist Karl Nehammer als Person." Der Bundeskanzler (und andere Regierungsmitglieder) auf TikTok

Das von der Bundesregierung beschlossene TikTok-Verbot auf Dienstgeräten von Mitarbeiter*innen des Bundes ändert nichts an den (privaten oder von der jeweiligen Partei verantworteten ) TikTok-Kanälen von Regierungsmitgliedern - und auch nicht an den damit verbundenen Problemen.

Vorweg: Das "TikTok-Verbot"

Am Mittwoch, 10. Mai 2023, war die "Einschränkung der Nutzung von TikTok in der öffentlichen Verwaltung" Thema im Ministerrat. Die Bundesregierung beschloss aufgrund des von gleich vier Regierungsmitgliedern eingebrachten Ministerratsvortrags vier Punkte: 

  1. die Mitglieder der Bundesregierung untersagen die private Nutzung und Installation von TikTok auf Dienstgeräten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundes in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich. 
  2. Die Bundesregierung empfiehlt, dass die Nutzung und Installation von TikTok auf Dienstgeräten für die Landes- und Gemeindeverwaltung untersagt werden sollte. 
  3. Für die dienstlich notwendige Nutzung der Plattform (z.B. zur Erfüllung von Informationsaufträgen oder Ermittlungstätigkeiten) sollen rasch sichere Alternativen (durch bspw. Dienstgeräte ohne Zugriff auf die hauseigene IKT-Infrastruktur und zur ausschließlichen Nutzung für diese Plattform) geschaffen werden, damit Datenschutz, digitale Souveränität und die staatliche Sicherheit gewährleistet werden können. 
  4. Die "Geschäftsstelle der Digitalen Kompetenzoffensive" wird mit der Ausarbeitung von Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung im Umgang mit mobilen Anwendungen und deren  datenschutzrechtlichen Implikationen betraut.

Nur der erste und dritte Punkt sind interessant. 
[Der vierte Punkt ist bloße Rhetorik - die einzige Frage, die ich mir dazu stelle ist, ob es wohl Menschen gibt, die ohne zu googeln wissen, wer die "Geschäftsstelle der Digitalen Kompetenzoffensive" ist? Ich wusste es nicht, habe nachgeforscht, und siehe da: es ist die OeAD GmbH. Auch der zweite Punkt ist nicht wirklich operativ, denn Länder und Gemeinden können und werden sich auch ohne Empfehlung der Bundesregierung überlegen, was sie auf den Dienstgeräten ihrer Mitarbeiter*innen zulassen.]

TikTok-Verbot auf Dienstgeräten

Damit zurück zum ersten Punkt: Die private Nutzung und die Installation von TikTok auf Dienstgeräten (das sind nicht nur Handys, sondern auch sonstige elektronische Geräte wie Tablets, Notebooks, PCs) wird untersagt. Klar ist damit, sofern die jeweiligen Regierungsmitglieder das per Weisung in ihrem Verantwortungsbereich auch tatsächlich umsetzen, dass die TikTok-App auf Dienstgeräten nicht heruntergeladen und installiert werden darf. Aber das Wort "Nutzung" könnte auch die Nutzung von TikTok im Browser am PC erfassen (für die keine App installiert werden muss), wobei hier den Sicherheitsbedenken wohl schon durch eine entsprechende Konfiguration des Browsers auf den Dienstgeräten Rechnung getragen werden könnte. 

Unmittelbar nicht erfasst sind durch den Bundesregierungsbeschluss natürlich auch jene Bundeseinrichtungen, die nicht im Weisungszusammenhang zu einem Mitglied der Bundesregierung stehen. Das betrifft zB weisungsfreie Behörden, aber auch den gesamten Bereich der Gesetzgebung samt deren Hilfsorganen Rechnungshof und Volksanwaltschaft, die Präsidentschaftskanzlei und VfGH und VwGH. Ebenfalls vom Wortlaut nicht erfasst sind ausgegliederte Gesellschaften, da die dortigen Mitarbeiter*innen nicht solche "des Bundes" sind, sondern der jeweiligen Gesellschaft. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass in diesen Bereichen ähnliche Anweisungen erfolgen werden. 

Der Beschluss betrifft schließlich formal nur die Dienstgeräte "von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern" des Bundes, sodass zwar zB auch Kabinettsangehörige betroffen wären, nicht aber die Bundesminister*innen und Staatssekretär*innen selbst. Es wäre freilich widersinnig, wenn gerade bei den Dienstgeräten jener Personen, die am stärksten Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind, die Installation von TikTok weiter möglich sein sollte, und ich gehe - auch nach den ersten Reaktionen von Politiker*innen - davon aus, dass das "TikTok-Verbot" daher auch für die Dienstgeräte der Minister*innen und Staatssekretär*innen umgesetzt wird. 

Jedenfalls nicht erfasst sind Privatgeräte von Mitarbeiter*innen wie auch von Politiker*innen. Was also auf dem Partei- oder Privathandy eines Regierungsmitglieds bzw eines/einer Staatssekretär*in installiert ist, unterliegt weiterhin nur der Kontrolle der Partei bzw. der jeweiligen Person. Dass hier die Sensibilität gering ist, haben zumindest zwei Personen schon deutlich gemacht: sowohl BM Edtstadler als auch StS Plakolm werden TikTok mit ihren - jeweils von Parteiorganisationen verantworteten  - "persönlichen" Accounts weiter auf ihren Privatgeräten nutzen. Mehr dazu etwas weiter unten.

"Dienstlich notwendige" TikTok-Nutzung

Der Beschluss er Bundesregierung sieht vor, dass für die "dienstlich notwendige Nutzung der Plattform" sichere Alternativen geschaffen werden sollen, im Wesentlichen stand alone-Geräte, die nur für diesen Zweck verwendet werden. Interessant ist, was als dienstlich notwendige Nutzung angesehen wird: neben den - nur im Beschlussteil erwähnten - Ermittlungstätigkeiten soll das auch "zur Erfüllung von Informationsaufträgen" der Fall sein; in der Begründung des Beschlusses wird das auch noch näher ausgeführt, demnach soll das Betreiben von Kanälen auf TikTok durch öffentliche Stellen "auch in Zukunft schon zur Gewährleistung eines breiten Informationsangebotes an Menschen mit unterschiedlicher Mediennutzung weiterhin möglich sein." 

Welche "Informationsaufträge" das sein sollen, deren Erfüllung öffentlichen Stellen nur auf TikTok möglich sein kann, verrät der Ministerratsvortrag leider nicht. Ich habe ein wenig gesucht und nur einen Kanal gefunden, der offiziell betrieben wird: "diepolizei", betrieben vom Innenministerium. Das ist ein Kanal, mit dem TikTok-Nutzer*innen motiviert werden sollen, sich für den Polizeidienst zu bewerben. Der in einer Anfragebeantwortung vor einiger Zeit weiters genannte TikTok-Account "Gemeinsam Geimpft" ist auf TikTok - zumindest für mich - nicht (mehr) zu finden, auch die Website von "Gemeinsam Geimpft" verlinkt nur mehr zu Facebook, Instagram und YouTube, nicht (mehr) zu TikTok.

Allzu drängend dürften die "Informationsaufträge", die der Bund auf TikTok zu erfüllen hätte, daher nicht sein (falls ich etwas übersehen habe: ich bin wirklich für jeden Hinweis auf weitere offizielle TikTok-Accounts dankbar!). 

TikTok-Accounts von Regierungsmitgliedern und Staatssekretär*innen

Deutlich prominenter als offizielle Informationskanäle von Bundesstellen sind die "persönlichen" Accounts von Regierungsmitgliedern. Wobei nicht immer klar ist, wie "persönlich" diese Accounts sind. So teilte am 13. November 2022 der "Pressesprecher und stv. Kabinettschef von Bundeskanzler @KarlNehammer" auf Twitter einen Link auf oe24.at(!) und schrieb dazu: "Bundeskanzler ⁦@karlnehammer ⁩ist ab sofort auch auf TikTok".

Header des TikTok-Accounts @karlnehammer
Und tatsächlich, auf TikTok findet man einen Account, bei dem in der Bio zwei Funktionen von Karl Nehammer angegeben sind: "Bundeskanzler der Republik Österreich" und "Bundesparteiobmann der Volkspartei". 

Da weitere Links, zB auf ein Impressum, fehlen und daher nicht klar ist, wer für diesen Account als Medieninhaber verantwortlich ist, habe ich auch versucht, vom Pressesprecher des Bundeskanzlers in einer Reply auf seinen Tweet Antwort auf die Frage zu bekommen, ob das ein BKA- oder Parteiaccount ist (und dieselbe Frage auch zum TikTok-Account der Bundesministerin für Verfassung und EU im Bundeskanzleramt gestellt, bei dem zu diesem Zeitpunkt in der Bio ein Link auf eine Unterseite der BKA-Website zu finden war). Leider erhielt ich trotz Nachfrage darauf zunächst keine Antwort vom Pressesprecher des Bundeskanzlers. 

Also habe ich an das Bundeskanzleramt eine Anfrage nach dem Auskunftspflichtgesetz gestellt, mit meines Erachtens recht einfach zu beantwortenden Fragen:


Auch auf diese Anfrage erhielt ich zunächst keine Antwort, und so urgierte ich nach Ablauf der gesetzlich festgelegten Frist für die Auskunftserteilung. Inzwischen antwortete mir der Pressesprecher des Bundeskanzlers nach einer neuerlichen Anfrage doch auch auf Twitter:

"Medieninhaber ist die Volkspartei, Inhalte, die mit der Arbeit als Bundeskanzler zu tun haben, werden u.a. auch aus dem Kabinett mitbetreut." 

Meine Nachfrage, zu welchen Bedingungen andere Parteiaccounts (zB SP, FP, Grüne, Neos etc.) eine derartige "Mitbetreuung" aus dem Kabinett des Herrn Bundeskanzlers in Anspruch nehmen können, blieb leider unbeantwortet. Mittlerweile hat der Pressesprecher des Bundeskanzlers seinen Tweet auch wieder - aus mir nicht bekannten Gründen - gelöscht. 

(Bundeskanzler) Karl Nehammer "als Person" auf TikTok

Ende Jänner erhielt ich dann endlich doch eine Antwort auf meine Auskunftsersuchen aus dem Bundeskanzleramt. Interessant daran war, dass diese Antwort nicht mit der Antwort übereinstimmte, die der Pressesprecher des Bundeskanzlers zunächst auf Twitter gegeben hatte. Das BKA schreibt nämlich:

Der TikTok Kanal von Bundeskanzler Karl Nehammer wird nicht vom Bundeskanzleramt (Republik Österreich – Bund, vertreten durch den Bundeskanzler) betreut. Medieninhaber ist Karl Nehammer als Person. Die veröffentlichten Inhalte wurden von einem Mitarbeiter aus dem Kabinett des Bundeskanzlers erstellt, sofern die Inhalte im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Karl Nehammer als Bundeskanzler stehen. [Hervorhebung von mir]

Das ist aus zwei Gründen interessant: 
Erstens wird hier offiziell die Praxis bestätigt, dass Inhalte auf diesem Kanal (auch) "von einem Mitarbeiter aus dem Kabinett des Bundeskanzlers erstellt" werden, also von einer Person, deren Tätigkeit öffentlich finanziert wird, um eine Tätigkeit für den Bund zu erbringen. 
Und zweitens soll der Account nicht von der Partei, sondern von Karl Nehammer "als Person" (also wohl: privat) als Medieninhaber verantwortet werden. Das hat gerade im Hinblick darauf Bedeutung, dass Inhalte für den Kanal von einem Mitarbeiter des Bundes erstellt werden. Wäre die Partei Medieninhaberin, wäre eine kostenlose Inhalteerstellung für den Account durch diesen Bundesmitarbeiter nämlich eine unzulässige Parteispende nach § 6 Abs. 6 Z 3 Parteiengesetz.

(Bundesministerin) Karoline Edtstadler als Parteipolitikerin auf TikTok

Allzu aktiv ist Karl Nehammer ("als Person") auf TikTok nicht. Das unterscheidet ihn von Karoline Edtstadler, Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt, die auf TikTok immerhin mehr als 20.000 Followers hat und dort (wie auch auf Instagram) im permanenten Wahlkampfmodus (zuletzt Salzburg, jetzt Europa) regelmäßig Videos postet. Nicht nur die klar erkennbare Wahlwerbung und die parteipolitischen Äußerungen zeigen, dass es sich nicht um einen offiziellen Account als Bundesministerin handelt - mittlerweile erkennt man das auch an der (impliziten) Offenlegung im Sinne des Mediengesetzes: sowohl der TikTok- als auch der Instagram-Account von Karoline Edtstadler verlinken nämlich auf www.karo-edtstadler.at, eine Seite, für die das Impressum "Medieninhaber und Herausgeber: ÖVP (Österreichische Volkspartei) - Bundespartei" angibt. 

Sollten für den TikTok-Kanal (oder auch den Instagram-Kanal) von Karoline Edtstadler Mitarbeiter*innen des Bundes ohne Gegenverrechnung Leistungen erbringen, wären das (unzulässige) Parteispenden im Sinne des § 6 Abs. 6 Z 3 Parteiengesetz. Darüber hinaus (und auch sofern tatsächlich eine Leistungsverrechnung zwischen dem Bund und der ÖVP stattfinden sollte) wäre natürlich die Frage zu stellen, ob derartige Leistungen auch Dritten erbracht würden: könnten zB auch SPÖ, FPÖ , Grüne oder NEOS Videomaterial aus dem BKA oder von Dienstreisen der Frau Bundesministerin für ihre jeweiligen Social Media-Accounts bekommen? 

Ich finde es jedenfalls gut, dass der Rechnungshof bereits im letzten Jahr angekündigt hat, eine Prüfung zum Thema „Social Media Accounts von Regierungsmitgliedern“ auf seinen Prüfplan zu setzen.

Besuch im BKA - via Volkspartei

Wie funktioniert nun diese Verknüpfung von Partei und BKA in der Praxis? Nehmen wir das Beispiel "Besuch im BKA". Karoline Edtstadler postet dazu ein Video mit folgendem Text: 

"Ihr wolltet schon immer mal ins Bundeskanzleramt kommen und hinter die Kulissen blicken? Dann seid ihr hier genau richtig! Ich lade euch ein, mich an einem Nachmittag zu besuchen und auch bei dem einen oder anderen Termin zu begleiten. Wenn ihr Interesse habt, meldet euch an, den Link findet ihr in der Bio." 

Klinkt man auf den Link in der Bio, kommt man zu https://form.typeform.com/to/b4rPLMjn, dort wird man durch ein Formular geführt, wo als Pflichtangaben neben Vor- und Nachname, E-Mail und Wohnort auch der Beruf und die Telefonnummer anzugeben sind. Am Schluss muss man folgende Zustimmungserklärung anklicken: 

Mit Zustimmung dieses Formulars erkläre ich mich damit einverstanden, dass mich Karoline Edtstadler und ihr Team per E-Mail oder telefonisch über organisatorische Zwecke zur Veranstaltung "Besuch im BKA" kontaktieren dürfen und meine Daten zu diesem Zweck verarbeiten können. Näheres siehe unter https://www.karo-edtstadler.at/Datenschutz.html.* [das Sternchen am Ende weist aus, dass die Zustimmung hier zwingend erforderlich ist, um das Formular absenden zu können]

Der angegebene Link führt zur Website karo-edtstadler.at, in deren Impressum, wie schon erwähnt, als "Medieninhaber und Herausgeber" ausdrücklich die "ÖVP (Österreichische Volkspartei) - Bundespartei" angegeben ist. Mit anderen Worten: will man das Angebot der Bundesministerin, sie im Bundeskanzleramt zu besuchen und sie "bei dem einen oder anderen Termin zu begleiten", annehmen, muss man zwingend personenbezogene Informationen inklusive Wohnort, Beruf und Telefonnummer an die Österreichische Volkspartei weitergeben. Tut man das, kann man, wie Florentine, Schülerin, 17 Jahre, aus Wiener Neustadt, dann vielleicht selbst einmal ein TikTok-Video im BKA für den Kanal von Karoline Edtstadler aufnehmen.

Karoline Edtstadler wird laut Presse auch nach dem "TikTok-Verbot" auf TikTok bleiben: Sie habe die App "ohnehin nicht auf dem Diensthandy." 

Und andere Regierungsmitglieder und Staatssekretär*innen?

Staatssekretärin Claudia Plakolm ist ebenfalls auf TikTok und ist immerhin, ähnlich wie Karoline Edtstadler, transparent im Hinblick auf die Medieninhaberin ihres Accounts: sie verlinkt auf die Junge ÖVP. Der zweite von der ÖVP gestellte Staatssekretär, Florian Tursky, hat auch einen TikTok-Account (aktuellstes Video "Am Ende des Tages sind wir in einem weltweiten Wettlauf der Digitalisierung ..."), bezeichnet sich dort als "Staatssekretär für Digitalisierung", weist aber nicht aus, wer medienrechtlich für den Account verantwortlich ist. 

Ähnliches gilt auch für die TikTok-Accounts der grünen Regierungsmitglieder, die ich gefunden habe: Leonore Gewessler, Johannes Rauch und Alma Zadić. Alle drei verweisen auf ihr jeweiliges Regierungsamt, bringen aber teilweise (etwa Alma Zadić auf dem Brunnenmarkt) auch (partei-)politischen oder (etwa Johannes Rauch beim Spaziergang mit Hund) privaten Content. Auch bei diesen Accounts hätte ich nicht den Eindruck, dass es sich um offizielle Ministeriumsaccounts handeln würde.

Die meisten TikTok-Accounts von Regierungsmitgliedern und Staatssekretär*innen sind - mit Ausnahme jenes von Karoline Edtstadler - (noch) von überschaubarer Relevanz, jedenfalls was Followerzahlen und auch die Menge der Videos anbelangt. Aber wahrscheinlich gilt für alle Accountinhaber*innen, was Edtstadler der Presse ausrichten ließ: „als Politiker wollen wir mit Menschen dort in Kontakt treten, wo sie sich täglich bewegen.“ Auch um den Preis, dafür TikTok zu nutzen.

Saturday, April 22, 2023

Vom Programmentgelt zum "ORF-Beitrag" - jetzt aber wirklich?

Vor über zehn Jahren habe ich in diesem Blog den Beitrag "Vom Programmentgelt zum (geräteunabhängigen) 'ORF-Beitrag'?" geschrieben. Damals dachte ich, der Umstieg von einer "Gebühr", die an den Betrieb von bestimmten Empfangsgeräten anknüpft, auf eine geräteunabhängige Haushaltsabgabe würde auch in Österreich unmittelbar bevorstehen. Deutschland hatte zu dieser Zeit die Haushaltsabgabe ("Rundfunkbeitrag") schon auf den Weg gebracht, für die Schweiz war ein Gleichziehen absehbar, und in Österreich hatte der ORF-Generaldirektor seine Vorstellungen bereits öffentlich dargelegt.

Im damaligen Blogpost hielt ich es ernstlich für möglich, dass die Umstellung vom geräteabhängigen Programmentgelt auf einen haushaltsbezogenen ORF-Beitrag mit 1. Jänner 2014 erfolgen könnte. Ich hatte aber die Trägheit der österreichischen Medienpolitik - entgegen jeder Erfahrung - wieder einmal unterschätzt. Zehn Jahre später, mit 1. Jänner 2024, soll es nun aber tatsächlich so weit sein: nach einer Einigung zwischen ÖVP und Grünen soll mit kommendem Jahr das bisherige (gerätebezogene) Programmentgelt durch einen (haushaltsbezogenen) ORF-Beitrag ersetzt werden. 

Noch gibt es keinen Gesetzesentwurf (update: am 27.04.2023 wurde der Entwurf zur Begutachtung versandt: Text und Materialien sind hier auf der Parlaments-Website), und natürlich warten bis zur tatsächlichen Umsetzung noch zahlreiche politische und vielleicht auch rechtliche Fallstricke, aber immerhin ist nun Bewegung in die Sache gekommen. Wie in der österreichischen Medienpolitik üblich, brauchte es dazu zunächst eine Gerichtsentscheidung, um Handlungsbedarf anzumahnen, und dann auch noch das baldige Ende der in diesem Fall vom VfGH gesetzten Deadline. 

Was wir bis jetzt wissen, ergibt sich aus einem Umlaufbeschluss der Bundesregierung vom 23. März 2023, mit dem ein gemeinsamer Bericht der Medienministerin, des Finanzministers und - wohl damit auch ein:e grüne:r Minister:in dabei ist - des Bundesministers für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport "betreffend Neuregelung ORF-Finanzierung nach VfGH-Erkenntnis " angenommen wurde (Volltext des Ministerratsvortrags). Auch wenn man von den seither andauernden Verhandlungen derzeit so manches hört oder liest (meist Unbestätigtes und nichts Definitives), beschränke ich mich in diesem Beitrag bewusst nur auf eine gewisse "Exegese" des Ministerratsvortrags. 

Zum Inhalt des Ministerratsvortrags

Der Ministerratsvortrag enthält zunächst ein Bekenntnis zu einem unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den Hinweis, dass (laut einer vom ORF in Auftrag gegebenen Umfrage) rund 95 Prozent "der Österreicherinnen und Österreicher" (beim ORF: "der Befragten", 1000er Sample, ab 16 Jahre)  Angebote des ORF in Radio, Fernsehen und/oder Online nutzen. Daran anschließend wird in einem Absatz auf das VfGH-Erkenntnis vom 30. Juni 2022 hingewiesen, das "eine Neuregelung unumgänglich" gemacht hat (da klingt an, dass eine Neuregelung wirklich erst dann in Angriff genommen wird, wenn sie "unumgänglich" ist). Schließlich werden drei Bereiche angesprochen, in denen es zu Änderungen kommt:

ORF-Beitrag
Der Ministerratsvortrag skizziert knapp die denkbaren Szenarien einer Neugestaltung der ORF-Finanzierung: Finanzierung aus dem Bundesbudget, Erweiterung der gerätebezogenen Abgabe auf alle streamingfähigen Geräte ("Laptop, Tablet, Hand, usw.") und "ORF-Beitrag für jeden Haushalt. Den beiden ersten Varianten erteilt der Ministerratsvortrag eine Absage und spricht sich für die Variante  einer Haushaltsabgabe ("ORF-Beitrag") aus. Dieser ORF-Beitrag soll ab 1. Jänner 2024 eingeführt werden. Dem Ministerratsvortrag sind dazu folgende Eckpunkte zu entnehmen (ich versuche die eher versprengten Ausführungen etwas systematischer zusammenzufassen):
  • Haushaltsabgabe: der Beitrag soll für jeden "Haushalt" anfallen, unabhängig von der Zahl der Bewohner:innen oder der genutzten Geräte. 
  • Hauptwohnsitz: angeknüpft wird nur an den Hauptwohnsitz, Nebenwohnsitze bleiben unberücksichtigt. 
  • Befreiungen: bisherige Befreiungen sollen aufrecht bleiben (damit wird indirekt auch bestätigt, dass es beim Modell eines einheitlichen - also insbesondere nicht etwa sozial gestaffelten - Beitrags bleibt, der entweder in voller Höhe oder - im Fall einer "Befreiung" - gar nicht zu entrichten ist).
  • Betriebe: der Ministerratsvortrag bleibt zu den Betrieben unklar; nur indirekt ergibt sich aus der Anmerkung, dass "im betrieblichen Bereich" die Kontrollen durch die GIS entfallen, dass die Betriebe weiterhin beitragspflichtig bleiben sollen. Für mich kryptisch ist, was "ein gestaffelter weitgehend automatisierter Vollzug" sein soll, auf den in diesem Zusammenhang Bezug genommen wird; möglicherweise wird dabei auf die bisherige Staffelung der Gebühren- und Programmentgeltpflicht (teilweise) abhängig von der Zahl der Empfangsgeräte an betrieblichen Standorten abgestellt; laut Medienberichten sollen Ein-Personen-Unternehmen ausgenommen werden. 
  • USt und "Bundesgebühren": die derzeit gemeinsam mit dem Programmentgelt eingehobene Rundfunkgebühr sowie der Kunstförderungsbeitrag sollen entfallen; damit verzichtet der Bund auf Einnahmen von rund 75,5 Mio. € (auf der Basis der Einnahmen 2022); außerdem soll der ORF-Beitrag - anders als derzeit das Programmentgelt - nicht der Mehrwertsteuer unterliegen. Das belastet den ORF insoweit, als damit auch die Vorsteuerabzugsberechtigung entfällt und sich dementsprechend die Kosten für den ORF erhöhen werden (zur Frage, ob die auf eine Bestimmung im Beitrittsvertrag zurückgehende Verrechnung von USt. auf das Programmentgelt wirklich unionsrechtskonform ist, ist derzeit ein Vorabentscheidungsverfahren am EuGH anhängig, in dem am 25. Mai 2023 von Generalanwalt Szpunar die Schlussanträge erstattet werden - ein Abwarten der Urteils des EuGH vor der Neuregelung geht sich damit nicht mehr aus).
  • Landesabgaben: die Landesabgaben werden im Ministerratsvortrag nur einmal kurz erwähnt, nämlich beim Hinweis auf die in Aussicht genommene Höhe des Beitrags, der "künftig (ohne Landesabgaben) lediglich rund 15 Euro betragen" soll; damit wird aber auch deutlich gemacht, dass der Bundesgesetzgeber nicht beabsichtigt, etwa durch eine finanzverfassungsrechtliche Regelung die Einhebung von Landesabgaben zugleich mit dem ORF-Beitrag zu unterbinden. Allerdings wird eine Verständigung mit den Ländern jedenfalls erforderlich sein, da derzeit in den Landesabgabenbestimmungen auf den  "Betrieb einer Rundfunkempfangseinrichtung" abgestellt wird und die Einhebung über die GIS geregelt ist; gerade diese Anknüpfung und Einhebungsform soll auf Bundesebene aber wegfallen.
  • GIS: die "GIS-Kontrollen" werden entfallen, die "GIS in ihrer derzeitigen Form" brauche es in Zukunft nicht mehr; konkretere Aussagen über die Art der Einhebung trifft der Ministerratsvortrag nicht (im Abschnitt "Einsparungen" ist zudem von "Einsparungen im Vollzug" von mittelfristig bis zu einem Viertel die Rede, wobei mit "Vollzug" offenbar die Beitragseinhebung gemeint sein dürfte).
  • Festsetzung des ORF-Beitrags: der Ministerratsvortrag bleibt auch unscharf, wer die (erstmalige) Höhe des Beitrags festlegt. Die Formulierung, wonach "die Festsetzung der Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags nach der Umstellung dem bisherigen System - unter strenger Kontrolle der KommAustria - folgen soll" (Betonung hinzugefügt), klingt, als würde die erstmalige Festsetzung der Höhe des ORF-Beitrags möglicherweise unmittelbar durch das Gesetz erfolgen ("Festsetzung der Nettokosten" ist eine missverständliche Formulierung, da ja nicht die Nettokosten festgelegt werden,  sondern derzeit das Programmentgelt, in Zukunft der ORF-Beitrag, und die Einnahmen aus diesen Beiträgen nicht höher sein dürfen, als die Nettokosten für die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags). 
  • Höhe des ORF-Beitrags: der Ministerratsvortrag nennt einen konkreten Betrag ("rund 15 Euro"), lässt aber offen, wie es zu diesem Betrag gekommen ist, insbesondere ob es sich dabei um eine normative Vorgabe handeln soll (also der Gesetzgeber die 15 Euro festlegt), oder ob der Betrag das Ergebnis einer Berechnung ist, in der aktuelle Kosten des ORF, deren absehbare Entwicklung und die schon öffentlich diskutierten, aber offenbar auch bilateral zwischen Medienministerin und ORF-Generaldirektor erörterten Sparpläne berücksichtigt wurden.
  • Berücksichtigung der unions- und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen: das lässt offen, ob allenfalls eine beihilfenrechtliche Notifizierung als notwendig angesehen wird und lässt jedenfalls auch Spielraum für gewisse Adaptierungen, um allfälligen unions- und verfassungsrechtlichen Bedenken in Detailfragen noch nachkommen zu können.
    Die in Deutschland erfolgte Umstellung auf eine Haushaltsabgabe - dort: "Rundfunkbeitrag" - wurde übrigens nicht notifiziert; der EuGH hat mit seinem Urteil vom 13.12.2018 in der Rechtssache C-492/17 Rittinger bestätigt, "dass eine Änderung der Finanzierungsregelung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eines Mitgliedstaats, die wie in den Ausgangsverfahren darin besteht, eine Rundfunkgebühr, die für den Besitz eines Rundfunkempfangsgeräts zu entrichten ist, durch einen Rundfunkbeitrag zu ersetzen, der insbesondere für das Innehaben einer Wohnung oder einer Betriebsstätte zu entrichten ist, keine Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne [des Art. 1 Buchst. c VO (EG) Nr. 659/1999] darstellt, von der die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV zu unterrichten ist."
  • Stärkung der Rolle der Regulierungsbehörde: der Ministerratsvortrag spricht zweimal von "strenger" (externer) Kontrolle durch die Regulierungsbehörde/KommAustria. Angedacht ist offenbar, den Kontrollmaßstab der Regulierungsbehörde bei der Überprüfung des ORF-Beitrags (derzeit: des Programmentgelts) zu verschärfen. Wie das genau erfolgen soll, bleibt offen.  
Einsparungen
Die den Ministerratsvortrag unterzeichnenden Regierungsmitglieder "begrüßen [...], dass der ORF von sich aus Einsparungen beschließen wird. Der ORF hat in Aussicht gestellt, in den kommenden Jahren selbst rund 325 Mio. Euro einzusparen. Einsparungsmaßnahmen betreffen sowohl den Personal- als auch den Sachaufwand, beispielsweise durch eine Deckelung der Valorisierungen, nachhaltige Strukturmaßnahmen und Optimierungen im Programm."

Welcher genaue Zeithorizont mit "in den kommenden Jahren" gemeint ist, bleibt offen, operationalisierbar ist das Einsparungsziel damit nicht. Klar ist, dass die Regierung keine konkreten Vorgaben zur Einsparung machen kann und auch in der Novelle zum ORF-Gesetz wird man sich diesbezüglich wohl zurückhalten, um nicht unionsrechtlich oder im Hinblick auf die Unabhängigkeit unnötig Bedenken aufzumachen. Die Passage über die Einsparungen im Ministerratsvortrag liest sich damit wie eine diplomatische Note, in der Zusagen der Gegenseite indirekt wiedergegeben werden, um die "Geschäftsgrundlage" des eigenen Handelns klarzustellen. Das dahinter liegende Verständnis: die vorgesehene Beitragsfinanzierung wird nur kommen, (oder Bestand haben), wenn auch der ORF die - wohl informell abgesprochenen - Einsparungsziele einhält. Der Haken daran für den ORF ist freilich: auch das Einhalten dieser de facto Vorgaben wird ihn nicht schützen, wenn es sich die (allenfalls: kommende) Regierung später anders überlegt. 

Der Ministerratsvortrag wird bei den Einsparungen auch ein wenig konkreter, indem er "aus heutiger Sicht nicht mehr haltbare, branchenunübliche und angesichts der aktuell angespannten wirtschaftlichen Situation auch nicht mehr finanzierbare ORF-Sondervereinbarungen insbesondere in Altverträgen - wie sehr hohe Sonderpensionen, Spezialzulagen und besonders großzügige Abfertigungsregelungen" hervorhebt, für die nicht nur eine Überprüfung in "ORF-internen Prozessen" erwartet, sondern auch gesetzliche Grundlagen ankündigt, die "zügig erarbeitet und gemeinsam mit den Gesetzen zur neuen Finanzierung" zur Beschlussfassung vorgelegt werden sollen. Allzu tief werden diese gesetzlichen Grundlagen nicht in vertragliche Vereinbarungen eingreifen können, aber in gewissem Rahmen (siehe die VfGH-Rechtsprechung zum Pensionssicherungsbeitrag für Nationalbank-Pensionist:innen bzw. Pensionen von Wirtschaftskammer, EVN und Verbund) wird man ein symbolisches Sonderopfer von den Alt-Privilegierten einfordern können. 
 
Transparenz
Fast schon rührend ist die Formulierung im Ministerratsvortrag, wonach es der Bundesregierung "ein wichtiges Anliegen [ist], dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auch wissen wie ihr Geld verwendet wird." Abgesehen davon, dass der Rundfunkbeitrag wohl keine Steuer sein wird, war von diesem Anliegen in anderen Bereichen bisher eher wenig zu sehen (Stichwort: noch immer fehlendes Informationsfreiheitsgesetz). Aber hinsichtlich des ORF soll jedenfalls "eine umfassende Information der Öffentlichkeit und Transparenz zur Mittelverwendung" sichergestellt werden und dem ORF sollen dazu bestimmte Berichtspflichten auferlegt werden: "Dazu zählt unter anderem die Veröffentlichung über die Höhe ausgezahlter Gehälter nach internationalen Vorbildern (zum Beispiel die British Broadcasting Corporation), die Offenlegung von Nebenbeschäftigungsverhältnissen, Zulagensystemen und Einschalt- und Zuhörerquoten sowie detaillierte Angaben zu Werbung und Kooperationen in Form eines umfassenden Jahresberichts." 

Zur BBC: dort werden die Gehälter aller Personen in Organfunktionen sowie von "on-air talent" offengelegt, soweit diese mehr als 150.000 £ im Jahr verdienen (siehe den letztverfügbaren Governance Report bzw. die Punkt 37 der Charter). 

Der ORF war in der Vergangenheit immer bestrebt, im Hinblick auf Gehaltszahlungen möglichst wenig offen zu legen und hat diese Position (wie immer in dieser Hinsicht tatkräftig begleitet von anderen öffentlichen Einrichtungen wie der Wirtschaftskammer oder der Nationalbank) auch nachhaltig vor Gericht verteidigt. Im Urteil des EuGH 20.05.2003 in den verbundenen Rechtssachen C-465/00, C-138/01 und C-139/01, Rechnungshof gegen ORF u.a., hat dieser noch ausgesprochen, dass die (damalige) Datenschutz-Richtlinie einer Veröffentlichung der Namen der Bezieher eines Einkommens über einer bestimmten Einkommenshöhe nicht entgegensteht, sofern erwiesen ist, dass die Offenlegung "im Hinblick auf das vom Verfassungsgesetzgeber verfolgte Ziel der ordnungsgemäßen Verwaltung der öffentlichen Mittel notwendig und angemessen ist". Im nachfolgenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes hat dieser allerdings eine derartige Notwendigkeit nicht anerkannt, sondern in der Offenlegung bemerkenswerter Weise eine Verletzung des Art. 8 EMRK gesehen. Zitat aus diesem Erkenntnis: 

Die vorgesehene Veröffentlichung stellt einen Eingriff erheblichen Gewichts in das durch Art8 EMRK geschützte Rechtsgut der Bezügeempfänger dar. Dass ein solcher Eingriff notwendig und angemessen sein soll, um jene Institutionen, die die Bezüge gewähren, zur sparsamen und effizienten Verwendung öffentlicher Mittel anzuhalten, in concreto: "die Bezüge in angemessenen Grenzen zu halten", wie dies der Europäische Gerichtshof formuliert, ist nicht erkennbar: Dies einmal deswegen, weil nicht die allenfalls überhöhte Bezüge gewährenden Rechtsträger aufgelistet werden sollen, sondern die Bezügeempfänger, deren Bezüge überdies - wie der Europäische Gerichtshof zu Recht hervorhebt - in unterschiedlichem Ausmaß von deren familiärer und persönlicher Situation abhängig sein können. Zum anderen ist darauf aufmerksam zu machen, dass das Ziel der Sicherung der effizienten Mittelverwendung durch die Bezüge gewährenden Rechtsträger schon durch die Berichterstattung über die Ergebnisse der diese Rechtsträger betreffenden allgemeinen Gebarungskontrolle in effektiver und auch den Anforderungen des Art8 EMRK entsprechender Weise (vgl. dazu auch oben Pkt. II.3.b dieser Entscheidung) erreicht wird.
Auch die Bundesregierung behauptet in ihrer Stellungnahme nicht, dass die Veröffentlichung der Bezüge unter Nennung der Namen der Bezügeempfänger im Sinne der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zur effizienten Mittelverwendung notwendig sei. Sie argumentiert mehrfach damit, dass die personenbezogene Einkommensveröffentlichung einem dringenden sozialen Bedürfnis nach Transparenz bei der Verwendung öffentlicher Mittel und nach Vermeidung deren Missbrauchs bestehe, tut aber nicht dar, wieso es notwendig sein soll, die Namen von Personen und ihre Bezüge zu veröffentlichen, um die ordnungsgemäße Verwendung öffentlicher Mittel sicherzustellen; darauf kommt es aber nach der - den Verfassungsgerichtshof bindenden - Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Mai 2003, Rs. C-465/00 ua., Rechnungshof gegen ORF ua., an.

Sofern man also nicht auf eine Zustimmung der Betroffenen zur Veröffentlichung ihrer Einkommen setzt (was ich für wenig realistisch halte), bin ich daher gespannt, zu welchen Formulierungen der Gesetzgeber greifen wird, um dem VfGH eine Änderung seiner Rechtsprechung zu ermöglichen - das "dringende soziale Bedürfnis nach Transparenz bei der Verwendung öffentlicher Mittel" hat ja zuletzt nicht ausgereicht. Es wäre vielleicht eine Gelegenheit für den VfGH, von seiner restriktiven Rechtsprechung zur Gehaltstransparenz abzugehen. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich dieser restriktive Zugang nicht zwingend: zwar gibt es kein ganz einschlägiges Urteil des EGMR, aber  aus dem Urteil der Großen Kammer im Fall Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy gegen Finnland, in der dieser die Veröffentlichung Steuerdaten (fast) aller Steuerpflichtigen nicht als von Art. 10 EMRK geschützt beurteilt hat, hat er doch anerkannt, dass es ein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung auch von Steuerdaten bestimmter Kategorien von Personen wie zB jener, die besonders hohe Einkommen beziehen, geben kann ("such  as politicians, public officials, public figures or others who belonged to the public sphere by dint of their activities or high earnings"). Interessant wird auch sein, wie weit das im Ministerratsvortrag betonte Anliegen der Transparenz dann auch zB bei der Wirtschaftskammer oder anderen öffentlichen Einrichtungen verfolgt wird, die bislang wie der ORF gegenüber solchen Anliegen nachhaltig Widerstand geleistet haben.

Ein gewisser Spielraum zur Umsetzung von mehr Transparenz im ORF bliebe übrigens noch bei Neuanstellungen oder dem Abschluss neuer Verträge: hier wäre es denkbar - aber ohne gesetzliche Grundlage eher heikel - den Vertragsschluss von einer Zustimmung zur Veröffentlichung der Bezahlung abhängig zu machen.

Und sonst so?
Ein wenig beziehungslos, eher wie eine Art Reminder, steht am Ende des Ministerratsvortrags noch der Hinweis, dass "auch der geplante Transformationsprozess des ORF ins digitale Zeitalter in Form einer Digitalnovelle" eingeleitet werden müsste, die "zeitnah vorzulegen" sei. Was Inhalt dieser Digitalnovelle sein soll, oder was "zeitnah" heißt, bleibt offen. Eine definitive Junktimierung - neue Finanzierung nur mit Digitalnovelle (und umgekehrt)  - ist aus der "zeitnah"-Formulierung nicht abzuleiten, aber wohl angedacht. Das abschließende "Bekenntnis zum Erhalt der Inhalte des Spartenkanals Sport+ und zum finanziell nachhaltigen Fortbestand des international renommierten ORF Radio-Symphonieorchesters Wien (RSO)" ist auch nicht mehr als das: ein "Bekenntnis", von dem allenfalls erwähnenswert ist, dass an den Erhalt des Spartenkanals Sport+ jedenfalls nicht gedacht ist, sondern bloß an den Erhalt der Inhalte, was wohl ein Abgehen von der TV-Verbreitung zu einem reinen Internet/Streaming-Angebot bedeutet. 

Saturday, April 08, 2023

Sanktionen gegen russische Staatsmedien - zum aktuellen Stand nach der Insolvenz von RT France

tl;dr: RT France ist insolvent. Die von RT France beim EuG bzw. EuGH anhängig gemachten Verfahren zur Nichtigerklärung der Sanktionen werden daher voraussichtlich ohne weitere Entscheidung in der Sache eingestellt werden. Wann das EuG über die von niederländischen ISPs eingebrachte Nichtigkeitsklage entscheiden wird, ist noch offen.
Die Sanktionen wurden zuletzt mit Wirkung vom 10. April 2023 ausgeweitet und bleiben (vorerst) bis 31. Juli 2023 in Kraft.

Was bisher geschah

Ich habe mich in diesem Blog (und anderswo) schon mehrfach mit den vom Rat der Europäischen Union nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 verhängten Sanktionen befasst, soweit sich diese (erstmals) auch gegen die Verbreitung bestimmter Medieninhalte innerhalb der EU richteten. Zur Übersicht vorweg Links zu den bisherigen Beiträgen:

Von den Sanktionen betroffene Medieninhalte

Die Sanktionen betrafen zunächst die englisch-, deutsch-, französisch- und spanischsprachigen Inhalte von RT (Russia Today) und die Inhalte von Sputnik. Sie wurden in der Folge mehrfach verlängert und auf andere Inhalte russischer Staatsmedien ausgedehnt. Ab übermorgen, 10. April 2023 (und vorerst befristet bis 31. Juli 2023) sind Inhalte folgender "juristischer Personen, Organisationen und Einrichtungen" von den Sanktionen erfasst: 

  • RT — Russia Today English
  • RT — Russia Today UK
  • RT — Russia Today Germany
  • RT — Russia Today France
  • RT — Russia Today Spanish
  • Sputnik
  • Rossiya RTR / RTR Planeta
  • Rossiya 24 / Russia 24
  • TV Centre International
  • NTV/NTV Mir 
  • Rossiya 1 
  • REN TV 
  • Pervyi Kanal
  • RT Arabic
  • Sputnik Arabic

Nichtigkeitsklagen von RT France

Die Sanktionen wurden gerichtlich von RT France bekämpft, wobei RT France in erster Instanz unterlag (Urteil des EuG vom 27.07.2022, T-125/22 RT France / Rat). Gegen dieses Urteil hat RT France Rechtsmittel an den EuGH erhoben, das Verfahren ist noch zu C-620/22 P anhängig. Zudem hat RT France auch die jeweiligen Rechtsakte, mit denen die Sanktionen verlängert wurden, mit Klage beim EuG bekämpft; diese Verfahren sind noch anhängig (T-605/22 RT France / RatT-75/23 RT France / Rat und T-169/23 RT France / Rat).

Insolvenz von RT France

Nun ist RT France laut Medienberichten (die auch auf ein entsprechendes Statement der Geschäftsführerin von RT France auf Twitter verweisen) endgültig insolvent. Damit stellt sich die Frage, was mit den beim EuGH bzw. beim EuG anhängigen Verfahren passiert. 

Nach der Rechtsprechung des EuG muss das Rechtsschutzinteresse der Klägerin bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen; im Fall der Liquidation des Unternehmens wegen Insolvenz - wenn das Unternehmen keine "werbende Geschäftstätigkeit" mehr ausüben kann - fällt dieses Rechtsschutzinteresse allerdings weg. Dies gilt auch dann, wenn das (insolvente) Unternehmen eine Haftungsklage gegen die Gemeinschaft nach einer Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung anstrebt; diesbezüglich hat das EuG ausgesprochen, dass die Schadensersatzklage im Vertrag als selbständiger Rechtsbehelf vorgesehen ist und dass eine solche Klage somit parallel zu einer Nichtigkeitsklage erhoben werden kann (EuG 19.06.2009, T-269/03, Socratec). Meines Erachtens spricht somit viel dafür, dass RT France mit Eintritt der Insolvenz das Rechtsschutzinteresse verloren hat und die Verfahren daher als erledigt eingestellt werden. 

Nichtigkeitsklage niederländischer ISPs

Allerdings ist noch ein weiteres Verfahren gegen die Sanktionen beim EuG anhängig, nämlich die von niederländischen Internetprovidern erhobene (und von der niederländischen Journalistenvereinigung NVJ unterstützte!) Nichtigkeitsklage T-307/22 A2B Connect ua. Zwar ist in einer Pressemitteilung des NVJ die Rede davon, dass im September 2022 eine zweite Klage eingebracht worden sei, tatsächlich dürfte aber bloß die zu T-307/22 anhängige Klage ergänzt worden sein (in diesem Sinn auch die Information auf der Website der sogenannten Freedom of Information Coalition, die das Verfahren ebenfalls unterstützt). Ein Verhandlungstermin wurde vom EuG noch nicht bekannt gegeben. 

Monday, February 06, 2023

Wo wächst das Geld, wenn nicht auf den Bäumen? Kurze Anmerkungen zur Finanzierung des österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Sich zu österreichischer Medienpolitik aus rechtlicher Sicht zu äußern ist ein ziemlich undankbares und weitgehend sinnloses Unterfangen (vielleicht gibt es auch deshalb so wenige einschlägige rechtswissenschaftliche Arbeiten). Das gilt auch für die Frage der zukünftigen ORF-Finanzierung, und bei manchen der jüngst bekannt gewordenen politischen Äußerungen dazu frage ich mich, ob denn der Wahlkampf (im Häupl'schen Sinne) schon begonnen hat (wobei ich mir nicht sicher bin, dass "fokussiert" hier wirklich das richtige Adjektiv wäre). Dennoch folgen hier ein paar kurze Anmerkungen zur aktuellen ORF-Finanzierungsdebatte, beginnend mit den Basics:

1. Gesetzlicher Auftrag: Der Österreichische Rundfunk (ORF) hat einen gesetzlich festgelegten öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen. Den Umfang dieses Auftrags kann man im ORF-Gesetz (dort insbesondere in den §§ 3 bis 5a) und in den auf der Grundlage des ORF-Gesetzes erstellten - von der Regulierungsbehörde geprüften - Angebotskonzepten nachlesen.

 2. Gesetzlich geregelte Finanzierung: Auch die Finanzierung des ORF ist im ORF-Gesetz geregelt, das diesbezüglich im Wesentlichen zwei Anforderungen gerecht werden muss: einerseits muss die Finanzierung die verfassungsrechtlich vorgegebene Unabhängigkeit des Rundfunks gewährleisten (der Verfassungsgerichtshof spricht von einer aus dem BVG Rundfunk folgenden "Funktions- und Finanzierungsverantwortung des Gesetzgebers  für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk", siehe VfGH 30.6.2022, G 226/2021, Rn. 45). Andererseits muss das Finanzierungssystem auch den Anforderungen des EU-Beihilfenrechts entsprechen, die sich vor allem aus der sogenannten "Rundfunkmitteilung" der Kommission und spezifisch für Österreich aus der Entscheidung der Kommission vom 28.10.2009, Staatliche Beihilfe E 2/2008 –Finanzierung des ORF, ergeben. 

3. Fast zwei Drittel aus Programmentgelt: Das aktuelle Finanzierungssystem beruht einem Gutteil auf Einnahmen aus dem Programmentgelt (fälschlich oft als "GIS-Gebühr" bezeichnet). Von den Umsatzerlösen von ziemlich genau 1 Mrd. € im Jahr 2021 machten die Erlöse aus dem Programmentgelt ca. 645 Mio. € aus, weitere 228 Mio. €  waren Werbeerlöse und 127 Mio. € sonstige Erlöse, etwa Lizenzeinnahmen (siehe den Anhang zum Jahresabschluss 2021). 

4. Der ORF legt das Programmentgelt selbst fest: zur Beschlussfassung über das Programmentgelt stellt der Generaldirektor einen Antrag an den Stiftungsrat (der Publikumsrat darf - mit einem "suspensiven Veto" - auch ein wenig mitreden), und zuletzt prüft die Regulierungsbehörde, ob der Beschluss den gesetzlichen Vorgaben entspricht (wenn nicht, hat sie den Beschluss des Stiftungsrates aufzuheben). Das alles ist in § 31 ORF-Gesetz geregelt.

5. Die Grenzen des Programmentgelts: Der ORF darf freilich das Programmentgelt nicht beliebig hoch (aber auch nicht beliebig tief) festsetzen: das Gesetz schreibt vor, dass die Höhe des Programmentgelts so festzulegen ist, "dass unter Zugrundelegung einer sparsamen, wirtschaftlichen und zweckmäßigen Verwaltung der öffentlich-rechtliche Auftrag erfüllt werden kann". Die Höhe des Programmentgelts ist zudem "mit jenem Betrag begrenzt, der erforderlich ist, um die voraussichtlichen Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags angesichts der zu erwartenden Zahl der zur Entrichtung des Programmentgelts Verpflichteten in einem Zeitraum von fünf Jahren ab Festlegung des Programmentgelts (Finanzierungsperiode) decken zu können."

6. Der ORF muss sparsam wirtschaften: so verlangt es das Gesetz. Aber wer legt fest, was das im Detail bedeutet und wie wird das überprüft? Nun: der Generaldirektor führt die Geschäfte des ORF, er wird dabei durch den Stiftungsrat überwacht. Der Stiftungsrat hat auch die langfristigen Pläne für Technik und Finanzen und die "Stellenpläne" zu genehmigen und damit die wesentlichen Weichenstellungen zu treffen. 

7. Gebarungskontrolle: Die Gebarung des ORF unterliegt nicht nur der Kontrolle des Rechnungshofs, sondern das ORF-Gesetz sieht eine besondere Finanzkontrolle durch eine "Prüfungskommission", bestehend aus zwei Wirtschaftstreuhandgesellschaften, vor. Diese kann sich der ORF allerdings nicht frei aussuchen, sondern sie werden von der Regulierungsbehörde bestellt. 

8. Die Medienministerin kann die Sparsamkeit des ORF nicht überprüfen (Stichwort "Kassasturz"): das ORF-Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass sich die Aufsicht des Bundes über den ORF "auf eine Aufsicht nach Maßgabe dieses Bundesgesetzes, unbeschadet der Prüfung durch den Rechnungshof", beschränkt. Eine Aufsicht der Medienministerin, die im ORF-Gesetz nicht vorgesehen ist, gibt es daher nicht. Das hindert eine Politikerin natürlich nicht, beliebig irgendetwas zu fordern, egal ob Kassasturz beim ORF, Schönwetter in den Alpen oder warme Eislutscher für alle, um beliebige Beispiele zu nennen.

9. "ORF-Rabatt": Was soll ein "ORF-Rabatt für die Österreicherinnen und Österreicher" sein, den die Medienministerin zuletzt gefordert hat? Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Die Medienministerin will, so lässt sie verlauten, "dass die Menschen in Zukunft weniger als jetzt für den ORF zahlen müssen." Sofern das Ziel durch Einsparungen beim ORF erreicht werden soll (good luck!), wäre das Aufgabe des Generaldirektors und des Stiftungsrates, die entsprechende Sparpläne vorlegen/genehmigen müssten. Allerdings ist der ORF dabei dadurch begrenzt, was der öffentlich-rechtliche Auftrag ihm abverlangt. Einfach Radio Niederösterreich (oder Wien oder Vorarlberg) einzustellen zum Beispiel ist dem ORF ohne gesetzliche Änderung des Auftrags nicht möglich. 

10. Auftragsänderung durch Gesetzesänderung: Das führt zur nächsten Überlegung: wenn die Medienministerin Einsparungen vom ORF verlangt, dann hat sie einen wesentlichen Hebel: sie kann gesetzliche Änderungen vorbereiten und, wenn ihre Regierungskolleg:innen zustimmen, eine Regierungsvorlage auf den Weg bringen, die den öffentlich-rechtlichen Auftrag des ORF einschränkt. Das könnte ein Wegfall eines Kanals genauso sein wie der Verzicht auf ein Online- Angebot, was auch immer ihr (bzw. ihrer politischen Gemeinschaft) im Weg ist. Gegen eine gesetzliche Änderung des öffentlich-rechtlichen Auftrags wäre der ORF machtlos - das ist eben die Aufgabenverteilung: der Gesetzgeber legt den Auftrag fest, der ORF hat ihn zu erfüllen (den Rahmen für den einfachen Gesetzgeber steckt auch hier das BVG Rundfunk ab, aber der Spielraum des Gesetzgebers bei der Definition des Auftrags ist da ziemlich hoch). Die unionsrechtlichen (beihilfenrechtlichen) Grenzen wären aber jedenfalls zu beachten.

11. Politischer Hebel: Der Hebel der Medienministerin ist derzeit besonders groß: der Verfassungsgerichtshof hat mit dem schon zitierten Erkenntnis Bestimmungen des ORF-Gesetzes aufgehoben und eine "Reparaturfrist" bis 31.12.2023 gesetzt. Dabei ging es, grob vereinfachend, um die Beschränkung der Pflicht zur Zahlung des Programmentgelts auf jene Haushalte, die "klassische" Rundfunkgeräte betreiben, während jene, die bloß streamen, das Programmentgelt nicht zahlen müssen - das hat der VfGH als verfassungswidrig beurteilt. Rechtstechnisch wäre das Problem leicht zu lösen, politisch ist es natürlich extrem heikel, weil es eine möglicherweise auch wachsende Zahl von Fundamental-Gegner:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gibt. Die Zeit, um eine vernünftige Reparatur vorzubereiten, ist mittlerweile sehr knapp geworden. Die Medienministerin hat sich noch nicht ernsthaft zu ihren bevorzugten Optionen geäußert, sondern verlangt gewissermaßen als Vorleistung vom ORF Einsparungen ("Erst wenn dies geklärt ist, kann über eine neue ORF-Finanzierungsform diskutiert werden."). Es ist ein politisches Geschäft: sie macht ihr weiteres politisches Handeln, das in ihren Verantwortungsbereich als Medienministerin fällt, von Handlungen des ORF abhängig, die sie ohne diesen "Hebel" nicht durchsetzen könnte, oder mehr noch: wo ihr jeglicher Einfluss durch den Gesetzgeber bewusst genommen wurde, um die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sichern.

12. Ein Gespräch unter Fremden: In ihren medialen Äußerungen hat die Medienministerin auch angekündigt, mit dem ORF-Generaldirektor über Einsparungen zu sprechen. Das kann sie natürlich tun, aber es wird - wenn man von gesetzeskonformem Verhalten aller Beteiligten ausgeht - ein wahrscheinlich nicht sehr ergiebiges Gespräch: der Generaldirektor darf keine Interna bekanntgeben, die über das hinausgehen, was der ORF schon bekannt gemacht hat, und das - insbesondere die Jahresabschlüsse und die Jahresberichte - wird die Medienministerin wohl schon gesehen haben. Sämtliche Mitglieder der Stiftungsorgane (dazu gehören etwa der Generaldirektor, aber auch die Mitglieder des Stiftungsrates) sind nämlich nach § 19 Abs. 4 ORF-Gesetz, "soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, zur Verschwiegenheit über alle ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit bekannt werdenden Umstände der Stiftung und der mit ihr verbundenen Unternehmen verpflichtet." Die Medienministerin ist da genauso eine Außenstehende wie zum Beispiel ich: was der Generaldirektor an ORF-Interna mir nicht erzählen dürfte, darf er auch der Medienministerin nicht erzählen.

13. Nochmals zum "Rabatt": Woher kommt jetzt der merkwürdige "Rabatt"-Begriff, den die Medienministerin in diesem Zusammenhang verwendet? Ich habe dafür nur eine halbwegs schlüssige Erklärung: wenn man davon ausgeht, dass derzeit noch nur Haushalte mit "klassischen" Rundfunkgeräten Programmentgelt zahlen, nach einer Neuordnung der Finanzierung im Sinne des VfGH-Erkenntnisses aber die Programmentgeltpflicht entweder auf alle Haushalte ("Haushaltsabgabe", wie zB in Deutschland oder der Schweiz) oder aber auf alle "internetfähigen" Geräte erstreckt wird, dann würden in Hinkunft mehr Personen als heute Programmentgelt zahlen müssen. Da aber die Höhe der gesamten eingenommenen Programmentgelte nicht über das hinausgehen darf, was zur Deckung der Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags erforderlich ist, würde auf die einzelnen Zahler:innen ein geringerer Betrag als heute entfallen. Das könnte man als "Rabatt" für die bestehenden "Gebührenzahler:innen" ansehen, und vielleicht war das auch einmal die Idee hinter dem Begriff. 

14. Automatische Inflationsabgeltung geht nicht: Ob eine Haushaltsabgabe, eine Geräteabgabe oder eine Budgetfinanzierung kommen soll, ist derzeit offenbar noch in Diskussion. Eine Budgetfinanzierung ist sicher unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit kritischer zu beurteilen, wenngleich es auch dabei theoretisch bessere Absicherungen gegen tagespolitische Einflussnahmen geben könnte. Eine gelegentlich geforderte automatische Inflationsabgeltung zählt da allerdings nicht dazu, denn diese wäre jedenfalls unionsrechtswidrig, weil sie nicht sicherstellen kann, dass nicht mehr (aber auch nicht weniger) an Beihilfe geleistet wird, als zur Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags notwendig wäre.

15. Realpolitik: Dass auch die theoretisch unabhängige Festlegung des Programmentgelts durch den ORF selbst (unter Kontrolle der unabhängigen Regulierungsbehörde) vor Versuchen der politischen Einflussnahme nicht schützt, zeigt die aktuelle Diskussion. Es entsteht der Eindruck, dass die Medienministerin einen politischen Wunsch nicht dadurch durchzusetzen versucht, dass sie den ihr offenstehenden Weg über die zuständigen demokratischen Entscheidungsorgane - hier den Nationalrat als Gesetzgeber des ORF-Gesetzes - einschlägt, etwa indem sie einen Gesetzesentwurf vorbereitet, der eine Einschränkung des öffentlich-rechtlichen Auftrags beinhaltet. Statt dessen richtet sie zunächst "Forderungen" an den ORF, der von Verfassungs wegen unabhängig von der Politik zu agieren hat, aber faktisch und realpolitisch wohl kaum daran vorbeikommen wird, auf diese Forderungen irgendwie einzugehen, will er nicht riskieren, dass es nicht zur notwendigen Reparatur des ORF-Gesetzes kommt. 

16. Eine historische Anmerkung: die Verknüpfung von Sparvorgaben mit der Finanzierung des ORF ist nicht neu: in den Jahren 2010 bis 2013 hat der Bund Sonderzuschüsse ("Gebührenrefundierung") an den ORF geleistet, als Gegenleistung musste der ORF einerseits bestimmte Bedingungen (Mehrleistungen) erfüllen (§ 31 Abs. 11 und 12 ORF-G), aber andererseits auch "Strukturmaßnahmen zur mittelfristigen substantiellen Reduktion der Kostenbasis" setzen (§ 31 Abs. 13 ORF-G). Das war allerdings gesetzlich festgelegt und die Einhaltung dieser Bedingungen wurde auch nicht vom Bundeskanzler oder der Medienministerin kontrolliert, sondern von der unabhängigen Regulierungsbehörde (§ 31 Abs. 14 und 15 ORF-G). 

tl;dr: Das Geld für den ORF wächst tatsächlich nicht - worauf die Medienministerin nicht müde wird, hinzuweisen - auf den Bäumen. Der Finanzierungsbedarf wird von den Gremien des ORF festgelegt, von der Regulierungsbehörde überprüft und auch die sparsame, wirtschaftliche und zweckmäßige  Verwendung unterliegt der Kontrolle der ORF-Gremien sowie des Rechnungshofes, der Prüfungskommission und der Regulierungsbehörde. Der Medienministerin kommt dabei keine Rolle zu - sie sollte sich um die politische Aufgabe kümmern, die nach dem VfGH-Erkenntnis zur ORF-Finanzierung notwendige Reparatur des ORF-Gesetzes in Angriff zu nehmen. 

PS: die Diskussion zur Haushaltsabgabe ist alles andere als neu - falls das jemanden interessiert, hier und hier habe ich vor gut zehn Jahren schon mal darüber geschrieben. 

Monday, January 30, 2023

Weiteres Update zu den EU-Sanktionen gegen russische Staatsmedien

Ab 1. Februar 2023 treffen die Sanktionen gegen russische Staatsmedien auch NTV/NTV Mir, Rossiya 1, REN TV und Pervyi Kanal. 

"Sendeverbot" für RT und Sputnik

Am 1. März 2022 hat der Rat der Europäischen Union restriktive Maßnahmen ("Sanktionen") gegen bestimmte Medienunternehmen verhängt, die vom russischen Staat kontrolliert werden. Diese Sanktionen gingen über das bis dahin übliche Sanktionsregime deutlich hinaus, und umfassten ein de facto Sende- und Verbreitungsverbot der von diesen Medien hergestellten Inhalte im Raum der EU. Mit der Reichweite dieser - ihrer Art nach vollkommen neuen - restriktiven Maßnahmen habe ich mich noch im März letzten Jahres hier im Blog (und hier auf dem Verfassungsblog) eingehend beschäftigt (siehe auch ein ausführliches Gespräch, das Prof. Nikolaus Forgó mit mir zu diesem Thema führte, als Folge 279 des Ars Boni Video-Podcast auf YouTube). 

Erste Erweiterung der Sanktionen 

Die - befristet verhängten - Sanktionen wurden inzwischen mehrfach verlängert, zuletzt bis 31. Juli 2023. Vor allem aber wurden die gegen die Verbreitung bestimmter Medieninhalte gerichteten Sanktionen auch inhaltlich erweitert und auf weitere Medienkanäle ausgedehnt; siehe dazu diesen Beitrag im Blog.

Gerichtsverfahren

Daneben sind die Sanktionen auch Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen: die Nichtigkeitsklage von RT France wurde vom EuG bereits abgewiesen, das Rechtsmittel von RT France ist zu C-620/22 P beim EuGH anhängig (zum EuG-Urteil siehe im Blog näher hier). Eine weitere Nichtigkeitsklage, die von niederländischen ISPs initiiert wurde, ist noch beim EuG anhängig (T-307/22, A2B Connect u.a./Rat,).  

Zweite Erweiterung der Sanktionen

Mit dem neunten Sanktionspaket wurde im Dezember 2022 auch eine weitere Ausdehnung der Sanktionen gegen die Verbreitung von Inhalten staatlich kontrollierter russischer Medien beschlossen. Demnach sollten auch 

  • NTV/NTV Mir 
  • Rossiya 1 
  • REN TV 
  • Pervyi Kanal 

von den Sanktionen betroffen sein. Rechtlich erfolgte die Ausweitung der Sanktionen durch den Beschluss (GASP) 2022/2478 des Rates vom 16. Dezember 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 322 I/614 vom 16. Dezember 2022) und die Verordnung (EU) 2022/2474 des Rates vom 16. Dezember 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 322 I/1 vom 16. Dezember 2022). In beiden Rechtsakten wurde festgehalten, dass die Änderungen des jeweiligen Anhangs, in dem die betroffenen Medien aufgelistet sind, erst ab dem 1. Februar 2023 gelten, "sofern der Rat nach Prüfung der betreffenden Fälle dies im Wege eines Durchführungsrechtsakts einstimmig beschließt" (Beschluss (GASP) 2022/2478) bzw. "vorausgesetzt der Rat beschließt dies nach Prüfung der betreffenden Fälle im Wege eines Durchführungsrechtsakts" (VO (EU) 2022/2474). 

Diese Durchführungsrechtsakte wurden nunmehr beschlossen und heute, am 30. Jänner 2023 kundgemacht: 

  • Beschluss (GASP) 2023/190 des Rates vom 27. Januar 2023 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 26/43 vom 30. Jänner 2023
  • Durchführungsverordnung (EU) 2023/180 des Rates vom 27. Januar 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2022/2474 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl L 26/1 vom 30. Jänner 2023)

Update (09.03.2023):

Mit dem zehnten Sanktionspaket wurden die Sanktionen gegen staatlich kontrollierte russische Medien neuerlich erweitert und auf "RT Arabic" und "Sputnik Arabic" ausgeweitet. Rechtlich erfolgte die Ausweitung der Sanktionen durch den Beschluss (GASP) 2023/434 des Rates vom 25. Februar 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L 59I vom 25.2.2023, S. 593) und die Verordnung (EU) 2023/427 des Rates vom 25. Februar 2023 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L 59I vom 25.2.2023, S. 6). In beiden Rechtsakten wurde festgehalten, dass die Änderungen des jeweiligen Anhangs, in dem die betroffenen Medien aufgelistet sind, erst ab dem 10. April 2023 gelten, "sofern der Rat nach Prüfung der betreffenden Fälle dies im Wege eines Durchführungsrechtsakts beschließt." (Die Mitteilung an "RT Arabic" und "Sputnik Arabic" ist im ABl. C 70I vom 27.2.2023, S. 12, veröffentlicht).

Update (03.04.2023):

Der Beschluss (GASP) 2023/728 des Rates vom 31. März 2023 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren wurde am 3. April 2023 im Amtsblatt veröffentlicht (ABl. L 94 vom 3.4.2023, S. 65). 
Die Durchführungsverordnung (EU) 2023/722 des Rates vom 31. März 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2023/427 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren wurde am 3. April 2023 im Amtsblatt veröffentlicht (ABl. L 94 vom 3.4.2023, S. 19). Eine Mitteilung an "RT Arabic" und "Sputnik Arabic" wurde ebenfalls am 3. April veröffentlicht (ABl. C 120 vom 3.4.2023, S. 2).
Damit treffen die Sanktionen ab 10. April auch "RT Arabic" und "Sputnik Arabic".

Aktueller Text der Rechtsvorschriften 

Mit Stand 10. April 2023 gelten daher folgende Sanktionen gegen Medien, die vom russischen Staat kontrolliert werden (konsolidierter Text, ohne Gewähr): 

1. Nach dem Beschluss 2014/512/GASP des Rates in der zum 10. April 2023 geltenden Fassung:

Artikel 4g

(1)   Es ist den Betreibern verboten, Inhalte durch die in Anhang IX aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen, auch durch die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen, unabhängig davon, ob sie neu oder vorinstalliert sind.

(2)   Alle Rundfunklizenzen oder -genehmigungen, Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen mit den in Anhang IX aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen werden ausgesetzt.

(3)   Es ist verboten, in Inhalten, die von den in Anhang IX aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen erstellt oder gesendet werden, für Produkte oder Dienstleistungen zu werben, einschließlich durch Übertragung oder Verbreitung mittels der in Absatz 1 genannten Möglichkeiten.

...

Artikel 9

Dieser Beschluss gilt bis zum 31. Juli 2023.

...

ANHANG IX

LISTE DER JURISTISCHEN PERSONEN, ORGANISATIONEN UND EINRICHTUNGEN NACH ARTIKEL 4g

RT — Russia Today English
RT — Russia Today UK
RT — Russia Today Germany
RT — Russia Today France
RT — Russia Today Spanish
Sputnik
Rossiya RTR / RTR Planeta
Rossiya 24 / Russia 24
TV Centre International
NTV/NTV Mir 
Rossiya 1 
REN TV 
Pervyi Kanal
RT Arabic
Sputnik Arabic


2. Nach der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates in der zum 10. April 2023 geltenden Fassung:

Artikel 2f

(1)   Es ist den Betreibern verboten, Inhalte durch die in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen, auch durch die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen, unabhängig davon, ob sie neu oder vorinstalliert sind.

(2)   Alle Rundfunklizenzen oder -genehmigungen, Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen mit den in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen werden ausgesetzt.

(3)   Es ist verboten, in Inhalten, die von den in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen erstellt oder gesendet werden, für Produkte oder Dienstleistungen zu werben, einschließlich durch Übertragung oder Verbreitung mittels der in Absatz 1 genannten Möglichkeiten.

...

ANHANG XV

Liste der natürlichen und juristischen personen, organisationen und einrichtungen nach artikel 2f

RT — Russia Today English
RT — Russia Today UK
RT — Russia Today Germany
RT — Russia Today France
RT — Russia Today Spanish
Sputnik
Rossiya RTR / RTR Planeta
Rossiya 24 / Russia 24
TV Centre International
NTV/NTV Mir 
Rossiya 1 
REN TV 
Pervyi Kanal 
RT Arabic
Sputnik Arabic

 

Monday, October 24, 2022

Wenn Wissenschaft umsonst sein soll - zu einem Detail im Gesetzesentwurf über die Wiener Zeitung

Die Wiener Zeitung soll in ihrer aktuellen Form als (auch) gedruckte Tageszeitung per 1. Juli 2023 eingestellt werden. Das ist nicht mehr nur eine Ankündigung der Bundesregierung (wie der Rest des schon oft versprochenen "Medienpakets"), sondern es liegt dafür mittlerweile auch ein Begutachtungsentwurf für die dafür notwendige gesetzliche Regelung vor. In diesem Blogbeitrag beschäftige ich mich nicht mit den zentralen Fragen dieses Entwurfs für ein "Bundesgesetz über die Wiener Zeitung GmbH und Einrichtung einer elektronischen Verlautbarungs- und Informationsplattform des Bundes – WZEVI-Gesetz" (vielleicht finde ich dazu auch noch mal die Zeit). Statt dessen möchte ich nur ein kleines, an sich unwesentliches Detail herauspicken - das aber meines Erachtens durchaus als symbolisch angesehen werden kann: die Regelung für den neu einzurichtenden wissenschaftlichen Beirat (§ 1 Abs. 6 und 7 des Entwurfs). Diese Bestimmungen lauten: 

(6) Bei der Wiener Zeitung GmbH ist zur Beratung bei der Wahrnehmung der Aufgaben gemäß § 3 ein wissenschaftlicher Beirat mit fünf fachkundigen Personen aus dem Gebiet der Medien-, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Internationale Politik und Außenpolitik und der Rechtswissenschaften einzurichten. Der Beirat muss zumindest zwei Frauen als Mitglieder umfassen. Die Mitglieder werden vom Bundeskanzler auf die Dauer von zwei Jahren bestellt. Eine einmalige Wiederbestellung ist zulässig. Der Beirat kann bei Ausscheiden von Mitgliedern Vorschläge für die Bestellung neuer Mitglieder unterbreiten. Er ist anzuhören, bevor ein neues Mitglied bestellt wird. Der Beirat tritt bei Bedarf, mindestens aber zweimal jährlich, zusammen. Der Beirat wählt aus seiner Mitte eine/n Vorsitzende/n und eine/n Stellvertreter/in und hat sich eine Geschäftsordnung zu geben, in der jedenfalls der Abstimmungsmodus zu regeln ist. Die Mitgliedschaft ist ein unbesoldetes Ehrenamt, es besteht jedoch ein Anspruch auf Aufwandsersatz (z. B. Reise- oder Aufenthaltskosten). Die Mitglieder sind zur gewissenhaften und objektiven Ausübung ihrer Funktion sowie zur Verschwiegenheit über die ihnen bei der Ausübung dieser Tätigkeit bekannt gewordenen Tatsachen verpflichtet.

(7) Dem wissenschaftlichen Beirat dürfen Mitglieder der Bundesregierung, Staatssekretärinnen und Staatssekretäre, Mitglieder einer Landesregierung, Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats oder eines sonstigen allgemeinen Vertretungskörpers sowie Personen nicht angehören, die eine dieser Funktionen in den letzten vier Jahren ausgeübt haben.  

Es soll also ein aus fünf Wissenschafter:innen bestehendes Gremium geben, das die Wiener Zeitung GmbH bei der Wahrnehmung ihrer "Aufgaben gemäß § 3" beraten soll (nach § 3 des Entwurfs hat die Wiener Zeitung GmbH die Wiener Zeitung als Online-Medium und "nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel" - also eher spärlich - auch in Print herauszugeben). Das Gremium soll sich interdisziplinär zusammensetzen - allerdings sind die exakten Disziplinen festgeschrieben, was natürlich die Frage aufwirft, wie man gerade auf diese Disziplinen kommt und wie man sie im Zweifel abgrenzt (etwa bei Politikwissenschaft und "Internationale Politik und Außenpolitik"). Auch für annähernde Geschlechterparität, ein Mindestmaß an Politikferne, und für einen steten Wechsel - mit einer maximal vierjährigen "Amtszeit" - ist gesorgt. 

Was mich aber (wieder einmal, wenn auch in anderem Zusammenhang) irritiert, ist  die Qualifikation der Tätigkeit "unbesoldetes Ehrenamt". 

Der Bund richtet per Gesetz ein wissenschaftliches Beratungsgremium ein, und man sollte davon ausgehen, dass er sich von diesem Gremium auch tatsächlich ernsthafte wissenschaftliche Beratung für die Wiener Zeitung  erwartet (ich weiß, das ist die erste Sollbruchstelle meiner Überlegungen: vielleicht soll das Gremium ja auch bloß als Feigenblatt dienen). Wissenschaftliche Arbeit erfordert Qualifikation, und sie erfordert zumindest Zeit (von sonstigen Ressourcen will ich hier einmal, sehr vereinfachend, absehen). Weshalb sollen die Wissenschafter:innen dafür nicht angemessen bezahlt werden?

Nun kann man selbstverständlich die Auffassung vertreten, dass Wissenschafter:innen über ihre engeren beruflichen Aufgaben hinaus etwas "für die Gesellschaft" tun sollen (Stichwort: "public engagement"). Das hat in manchen Konstellationen auch viel für sich: öffentlich bestellte, öffentlich bezahlte Wissenschafter:innen sollen der Gesellschaft, die für sie aufkommt, mehr zurückgeben als das absolute Minimum an Forschungs-, Lehr- (und Verwaltungs-)Tätigkeit, das sie vertragsgemäß jedenfalls leisten müssen. Aber erstens engagieren sich viele Wissenschafter:innen ohnehin weit mehr als sie unbedingt müssten, und sie suchen sich ihr öffentliches, unbezahltes Engagement gut (und selbst) aus. Und zweitens ist "Wissenschaft" nicht gleichzusetzen mit dem altmodischen Bild einer öffentlich finanzierten Gelehrtenuniversität, an der gut bezahlte Professoren alle erdenklichen Freiheiten genießen. Die Realität ist oft geprägt von Ressourcenknappheit, auch (und gerade) an öffentlichen Universitäten, von der Notwendigkeit, Drittmittelprojekte einzuwerben, von einer überbordenden Lehr- und Prüfungslast, die wenig Raum für Forschung lässt - und nicht zuletzt von einer Prekarisierung wissenschaftlicher Tätigkeit (zumindest) im sogenannten "Mittelbau". Wer etwa von Lehrauftrag zu Lehrauftrag lebt (hallo, Hanna!), der/die wird nicht ohne weiteres kostenlose Beratungstätigkeit für ein Unternehmen leisten können und wollen, auch wenn es ein Unternehmen des Bundes ist. 

Aber ein "unbezahltes" Ehrenamt wird - wie ich schon zum Stiftungsrat des ORF angemerkt habe - oft ohnehin nicht wirklich unentgeltlich wahrgenommen. Denn es kann sein, dass jemand ein "Ehrenamt" im Rahmen seiner sonstigen beruflichen Tätigkeit ausübt (dann wird es in der Regel auch inhaltlich in Übereinstimmung mit  den Interessen jener Einrichtung ausgeübt, die die Tätigkeit bezahlt). Oder jemand übernimmt das Ehrenamt, weil er/sie jemandem "etwas schuldig" ist (oder zumindest möchte, dass jemand ihm/ihr "etwas schuldig" ist). Und selbst wenn diese Konstellationen im Fall der Beratung der Wiener Zeitung GmbH nicht eintreten sollten, dann bleibt immer noch übrig, dass man sich ein solches  Ehrenamt erst mal leisten können muss - und zwar nicht nur finanziell, sondern vor allem auch zeitlich: wer sich gerade zur Habilitation kämpft und hoffen muss, damit rechtzeitig vor Ablauf der Befristung fertig zu werden, und wer vielleicht auch noch Familien- oder sonstige Care-Arbeit zu leisten hat, der/die wird hier eher nicht anstehen, um seine/ihre unbezahlte Beratungstätigkeit einzubringen. 

Möglicherweise ist ohnehin nicht daran gedacht, dass echte Beratung erfolgen soll: interessant ist nämlich, dass der wissenschaftliche Beirat nur bei der Herausgabe der Wiener Zeitung beraten soll, aber nicht bei der - akademisch durchaus auch spannenden - neuen Aufgabe der Wiener Zeitung GmbH, einen "Media Hub Austria" einzurichten, der "die Weiterentwicklung des Medienstandorts Österreich" fördern soll (§ 4 des Entwurfs - ungeachtet der hochtrabenden Worte dürfte es dabei vor allem um Aus- und Weiterbildung von Journalist:innen gehen). 

Jedenfalls hat die Bestimmung Signalcharakter: Wissenschaft darf nichts kosten. Talk may be cheap, but science should be free of charge?

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PS: Auf die Idee, dass zB der Aufsichtsrat nichts kosten soll, ist man für die Wiener Zeitung GmbH hingegen nicht gekommen. 

Vielleicht bin ich da aber auch zu streng: denn die Aufsichtsratstätigkeit bei der Wiener Zeitung GmbH ist zwar nicht unentgeltlich, aber de facto näher am Ehrenamt als typische Aufsichtsratstätigkeiten in anderen Unternehmen: der Corporate Governance Bericht der Wiener Zeitung GmbH für 2021 weist aus, dass dem (nun: der) Vorsitzenden des Aufsichtsrats ein Sitzungsgeld von 200 € pro Sitzung, den weiteren Mitgliedern des Aufsichtsrates ein Sitzungsgeld von 130 € pro Sitzung gezahlt wird. So kam etwa der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrates, Rechtsanwalt Mag. Werner Suppan, im Jahr 2021 auf eine Entschädigung von 520 € (für vier Aufsichtsratssitzungen). Da bei - natürlich vorauszusetzender - sorgfältiger Wahrnehmung der Funktion als Mitglied des Aufsichtsrates zusätzlich zur Teilnahme an den Sitzungen noch einige Zeit für die Vorbereitung (zB zum Studium von Unterlagen) veranschlagt werden muss, bedeutet das einen Stundensatz, der näher beim kollektivvertraglichen Mindestlohn für Rechtsanwalts-Angestellte liegt als beim typischen Honoraransatz, den zB Mag. Suppan als Rechtsanwalt sonst lukrieren kann. 

Friday, July 29, 2022

EuG: Keine Nichtigerklärung der Sanktionen gegen RT France

Das Sende- und Weiterverbreitungsverbot für Inhalte von RT (Russia Today) ist gültig. Zu diesem Ergebnis ist das EuG in seinem Urteil der Großen Kammer vom 27. Juli 2022, T-125/22, RT France / Rat (Pressemitteilung) gekommen. Die Nichtigkeitsklage von RT France gegen den Beschluss (GASP) 2022/351 des Rates und die Verordnung (EU) 2022/350 des Rates wurde abgewiesen. Damit bleiben diese Sanktionen (jedenfalls vorerst) in Kraft - der Rechtszug zum EuGH steht RT France noch offen. Zudem hat das EuG auch noch über eine weitere Nichtigkeitsklage gegen diese Sanktionen, die von niederländischen Internet Service Providern erhoben wurde (T-307/22 A2B Connect ua /Rat), zu entscheiden, in der wohl auch Klagegründe geltend gemacht werden, die im nun entschiedenen Fall keine Rolle gespielt haben. 

Bemerkenswert ist, dass das EuG - im Allgemeinen nicht gerade für kurze Verfahrensdauern bekannt - diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren innerhalb von weniger als fünf Monaten entschieden hat (Einlangen der Klage am 8. März 2022, Urteilsverkündung am 27. Juli 2022). Auch das zeigt - neben der Entscheidung in der Großen Kammer - dass es keine Routinesache war, die hier verhandelt und entschieden wurde.

Zur Vorgeschichte 

Die EU hat mit Beschluss (GASP) 2022/351 des Rates vom 1. März 2022 und - darauf aufbauend - mit Verordnung (EU) 2022/350 des Rates vom 1. März 2022, die bereits 2014 verhängten restriktiven Maßnahmen "angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren", weiter verschärft und in diese Sanktionen erstmals auch ein Verbot der Verbreitung bestimmter audiovisueller Inhalte sowie ein Aussetzen von Rundfunklizenzen aufgenommen (siehe in diesem Blog bislang hier und hier). Betroffen waren damals RT (Russia Today, in verschiedenen Sprachen) und Sputnik (mittlerweile wurde die Liste erweitert, siehe näher dazu hier). Die Entscheidung, de facto ein Sendeverbot für Rundfunkveranstalter zu verhängen, wurde vielfach kritisch beurteilt, insbesondere (wie aus Deutschland nicht anders zu erwarten) im Hinblick auf eine angeblich nicht vorhandene Kompetenzgrundlage für ein derartiges Eingreifen der Union einerseits (zB von Ferreau im Verfassungsblog) und wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Meinungsäußerungs- bzw. Medienfreiheit nach Art. 11 Grundrechtecharta andererseits (zB von Voorhoof auf Inforrm's Blog, von Helberger und Schulz auf dem Media@LSE Blog, oder von Popović auf EJIL: Talk!). Von Bedeutung dabei ist auch, dass die Sanktionen nicht nur die "sanktionierten" Rundfunkveranstalter treffen, sondern etwa auch Internet Service Provider, Suchmaschinen oder Social Media Plattformen, die den Zugang zu Websites der betroffenen Rundfunkveranstalter sperren müssen (zur Reichweite der Sanktionen im Detail hier). 

Die Klägerin

RT France ist eine in Frankreich niedergelassene Aktiengesellschaft, deren einzige Aktionärin "TV Novosti" ist, eine gemeinnützigen Vereinigung mit Sitz in Moskau, die fast vollständig aus dem russischen Staatshaushalt finanziert wird. Seit 2017 sendete RT France auf Basis einer von der französischen Regulierungsbehörde (Conseil Supérieur de l'Audiovisuel - CSA) erteilten Zulassung audiovisuelle Inhalte über Satellit und Internet (in Frankreich und darüber hinaus). Die Klage vor dem EuG stützte RT France auf vier Klagegründe:

  1. Verletzung der Verteidigungsrechte, 
  2. Verletzung der Meinungs- und Informationsfreiheit, 
  3. Verletzung der unternehmerischen Freiheit,  
  4. Verletzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

Der Beklagte und seine Streithelfer 

Beklagt war der Rat als Normsetzer der bekämpften Rechtsakte. Als Streithelfer auf der Seite des Rates sind die Kommission und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik beigetreten, sowie von den Mitgliedstaaten einerseits die (teilweise) französischsprachigen Staaten Frankreich und Belgien und andererseits - mit Ausnahme Finnlands - alle Staaten mit einer Landgrenze zu Russland (Polen, Estland, Lettland und Litauen). Aus diesem Line-up muss man nicht allzu viel ableiten, aber es zeigt doch, dass die "westlichen" EU-Staaten (mit Ausnahme Frankreichs und Belgiens) kein besonderes Interesse an der Sache zeigen. Österreich zum Beispiel hat sich ebenso wie Deutschland im Verfahren nicht eingebracht.

Das Urteil

Kompetenz des Rates

Im Rahmen des zweiten Klagegrundes zog RT France auch die Zuständigkeit des Rates zur Erlassung der bekämpften Rechtsakte in Zweifel. Alleine die nationalen Regulierungs- bzw. Aufsichtsbehörden (in Frankreich nunmehr Arcom) seien zuständig, gegen ein audiovisuelles Medium wegen unangemessener redaktioneller Inhalte zu bestrafen. 

Damit machte RT France der Sache nach Bedenken geltend, wie sie auch von klassischen deutschen Medienrechtlern gerne vorgebracht werden: Medien wären demnach allein mitgliedstaatlicher Regulierung unterworfen. Abgesehen davon, dass diese Ansicht schon die Binnenmarkt-Dimension der Medienregulierung übersieht (Stichwort: AVMD-Richtlinie), greift sie im Fall der Sanktionierung russischer Staatsmedien schon wegen der anderen Kompetenzgrundlage nicht, wie das EuG in seinem Urteil deutlich macht:

Der bekämpfte Beschluss stützt sich auf Art 29 EUV, wonach der Rat den Standpunkt der Union (im Rahmen der GASP, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) bestimmt. Nach der Rechtsprechung des EuGH verfügt der Rat dabei "wegen des breiten Spektrums der in Art. 3 Abs. 5 EUV und Art. 21 EUV sowie den speziellen Vorschriften über die GASP, insbesondere den Art. 23 und 24 EUV, genannten Ziele und Felder der GASP" über einen großen Spielraum (das EuG verweist dazu [wie auch ich bereits in meinem ersten Blogbeitrag] auf das zu früheren Sanktionen gegen Russland ergangene Urteil Rosneft, Rn. 88).

Das EuG hält fest, dass dem Rat nicht vorgeworfen werden könne, dass er angesichts der internationalen Krise, die durch die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine verursacht wurde, auch das vorübergehende Verbot der Ausstrahlung von Inhalten bestimmter Medien, insbesondere der vom russischen Staat finanzierten RT-Gruppe, als eine der zielführenden Maßnahmen ("mesures utiles") angesehen hat, um auf die schwere Bedrohung des Friedens an den Grenzen der Union und den Verstoß gegen das Völkerrecht zu reagieren. Der Eingriff steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Da Propaganda- und Desinformationskampagnen geeignet sind, die Grundlagen demokratischer Gesellschaften in Frage zu stellen und einen integralen Bestandteil des Arsenals moderner Kriegsführung zu bilden, sind die restriktiven Maßnahmen auch Teil der Verfolgung der Ziele der Union nach Art. 3 Abs. 1 und 5 EUV.

Zum Argument, dass nur die nationale Regulierungsbehörde einen derartigen Eingriff hätte vornehmen dürfen, verweist das EuG einerseits darauf, dass Zuständigkeiten der Union, einschließlich jener der im Rahmen der GASP, nicht durch Befugnisse nationaler Verwaltungsbehörden ausgeschlossen oder eingeschränkt werden können. Dass eine nationale Behörde zu bestimmten "Sanktionen" befugt ist, steht der Befugnis des Rates zur Erlassung restriktiver Maßnahmen nicht entgegen, auch wenn diese Maßnahmen darauf abzielen, die Verbreitung von Inhalten eines Rundfunkveranstalters (vorübergehend) zu untersagen. Andererseits merkt das EuG an, dass die den nationalen  Behörden durch die innerstaatliche Gesetzgebung übertragenen Befugnisse nicht dieselben Ziele verfolgen, nicht auf denselben Werten beruhen und nicht dieselben Ergebnisse garantieren können wie die im Rahmen der GASP getroffenen einheitlichen Sofortmaßnahmen für das gesamten Gebiet der Union. 

In diesem Zusammenhang bezieht sich das EuG auch darauf, dass die restriktiven Maßnahmen auch an alle "Betreiber" gerichtet sind, die Inhalte der RT-Gruppe verbreiten, sodass ein allfälliges Eingreifen nationaler Aufsichtsbehörden, das auf den Hoheitsbereich des jeweiligen Mitgliedstaates beschränkt ist, nicht zum selben Ergebnis hätte führen können. 

Kurz geht das EuG geht auch auf die - von RT France gar nicht geltend gemachte - Frage der Aufteilung von Kompetenzen innerhalb der Union ein. Dass eine Regelung etwa auch im Rahmen der Binnenmarktkompetenz (wie bei der AVMD-Richtlinie) möglich gewesen wäre, schließt die Kompetenz im Rahmen der GASP aber nicht aus: Die Maßnahmen ergänzen einander, haben ihren eigenen Anwendungsbereich und andere Ziele. 

Die bekämpfte Verordnung stützte sich auf Art. 215 Abs. 2 AEUV, auch die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Kompetenzgrundlage sieht das EuG konsequenterweise als gegeben an.

Keine Verletzung der Verteidigungsrechte

Rechtlich etwas heikler als die meines Erachtens wenig problematische Kompetenzfrage war die Frage , ob RT France als unmittelbar von der Maßnahme betroffenes Unternehmen in seinen Verteidigungsrechten verletzt wurde, weil keine vorherige Anhörung erfolgt war und die Begründung der Maßnahmen relativ knapp gehalten wurde. 

Das Recht jeder Person auf rechtliches Gehör, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, ist in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRC verankert. Im Zusammenhang mit der Aufnahme (oder Belassung) einer Person auf die Sanktionsliste hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass die zuständige Unionsbehörde der betroffenen Person die ihr vorliegenden belastenden Informationen, auf die sie ihre Entscheidung stützt, mitteilen muss, damit diese Person ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen verteidigen und in Kenntnis aller Umstände entscheiden kann, ob es angebracht ist, den Unionsrichter anzurufen (Urteil Kadi II, Rn. 111). Diese Information muss aber nicht zwingend vor der erstmaligen Aufnahme in die Sanktionsliste erfolgen (Urteil Kadi I, Rn. 338-342). 

Das EuG überträgt diese Rechtsprechung, die den notwendigen Überraschungseffekt in Fällen der Aufnahme in die Sanktionsliste, insbesondere im Hinblick auf das Einfrieren von Geldern, betont hat, auch auf den hier vorliegenden Fall eines (temporären) Sende- und Verbreitungsverbots. Auch dabei sei ein sofortiges Handeln unerlässlich, um den "effet utile", die Wirksamkeit der Maßnahme, nicht zu gefährden. 

Die Erfordernisse der Dringlichkeit und Wirksamkeit aller erlassenen restriktiven Maßnahmen würden daher die Beschränkung des nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRC gewährleisteten Rechts rechtfertigen, soweit die Maßnahmen tatsächlich anerkannten Zielen des Gemeinwohls - wie zB der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Union - dienen. 

Das EuG hält auch fest, dass es - um die Integrität der demokratischen Debatte innerhalb der europäischen Gesellschaft zu wahren - notwendig geworden sei, nach dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts restriktive Maßnahmen gegenüber Medien zu ergreifen, die vom russischen Staat - dem Aggressorstaat - finanziert werden, und die als Quelle ständiger und konzertierter Desinformation und Manipulation von Tatsachen anzusehen sind (Rn. 88). Das EuG bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Rechtsprechung des EGMR (Urteil NIT, Abs.181 und 182), wonach zu berücksichtigen sei, dass audiovisuelle Medien eine viel unmittelbarere und stärkere Wirkung haben als die Presse, da sie durch Bilder Botschaften übermitteln können, die das geschriebene Wort nicht vermitteln kann.

Unter Berücksichtigung des "ganz außergewöhnlichen Kontexts", in dem die angefochtenen Rechtsakte erlassen wurden, kommt das EuG daher zum Ergebnis, dass der Rat nicht verpflichtet war, RT France vor der erstmaligen Eintragung in die Sanktionslisten anzuhören. Sicherheitshalber führt das EuG aber in einer Alternativbegründung auch noch aus, dass RT nicht dargelegt hat, dass eine Anhörung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Rn. 93 bis 99). 

Auch das Erfordernis einer ausreichenden Begründung sieht das EuG als erfüllt an: in den Erwägungsgründen 6 bis 9 der angefochtenen Rechtsakte ergibt sich, dass (auch) RT France deshalb in die Liste aufgenommen wurde, weil sie die darin vorgesehenen spezifischen und konkreten Voraussetzungen erfüllte, nämlich ein Medium zu sein, das der ständigen unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle der Führung der russischen Föderation unterstand, und Propagandaaktionen durchführte, die unter anderem darauf abzielten, die militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine zu rechtfertigen und zu unterstützen. Diese Begründung sei "verständlich und hinreichend genau," um es RT France zu ermöglichen, die Gründe zu erfahren, die den Rat zur Einbeziehung von RT France in die Sanktionen veranlasst haben, und zweitens um die Rechtmäßigkeit dieser Rechtsakte vor den Unionsgerichten anzufechten. 

Keine Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit

Die spannende Kernfrage des Rechtsstreits war natürlich die Vereinbarkeit des Sende- und Verbreitungsverbots mit der durch Art. 11 GRC garantierten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. 

Das EuG setzt an die Spitze seiner Ausführungen zunächst einige allgemeine Anmerkungen zu den rechtswissenschaftlichen Grundsätzen der Meinungsäußerungsfreiheit, wobei es sich ganz wesentlich auf die Rechtsprechung des EGMR stützt. Es betont (in Rn. 133), dass die Meinungsäußerungsfreiheit für jedermann gilt (unter Hinweis auf EGMR Öztürk, Abs. 49), auch für schockierende oder störende Äußerungen (unter Hinweis auf EGMR Handyside, Abs. 49, und - etwas irritierend - auf NIT, Abs. 177 und die dort zitierte Rechtsprechung, die sich aber auf die Frage der Notwendigkeit eines Eingriffs bezieht). Danach (Rn. 134) verweist das EuG darauf, dass es in demokratischen Gesellschaften grundsätzlich als notwendig erachtet werden kann, Hassrede zu sanktionieren, sofern die Beschränkungen oder Sanktionen in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (unter Hinweis auf EGMR Erbakan, Abs. 56, und Rouillan, Abs. 66). Das EuG hebt (wiederum unter Berufung auf EGMR NIT, Abs. 180-182 und die dort zitierte Rechtsprechung) auch die Bedeutung der journalistischen Berufsethik, der Regeln des verantwortlichen Journalismus und die unmittelbare und stärkere Wirkung audiovisueller Medien hervor (Rn. 136-138). Das EuG schließt seine "Einleitung" zur Meinungsäußerungsfreiheit mit einem eher allgemeinen Hinweis darauf, dass Äußerungen, die Gewalt, Hass, Fremdenfeindlichkeit oder andere Formen der Intoleranz befürworten oder rechtfertigen, normalerweise nicht geschützt sind (unter Hinweis auf EGMR Sürek, Abs. 61 und 62, und Perinçek, Abs. 197 und 230), wobei der Kontext der Äußerungen zu berücksichtigen ist (Rn. 139 bis 140). 

Zwei Aspekte fallen schon in dieser allgemeinen Einleitung auf: erstens wird die Frage, ob die Garantien des Art. 11 GRC wirklich uneingeschränkt auch für staatliche (ausländische) Unternehmen gelten, nicht thematisiert. Nun ist es eine Besonderheit des Unionsrechts, dass fremden Staaten (und deren Unternehmen) der volle Zugang zu den Unionsgerichten eröffnet ist, um restriktive Maßnahmen zu bekämpfen (siehe EuGH, 22. 6. 2021, C-872/19 P, Venezuela / Rat) - dass diese sich dabei aber auch uneingeschränkt auf die Unionsgrundrechte berufen können, ist keine Selbstverständlichkeit und würde eine nähere Betrachtung rechtfertigen. 

Und zweitens bleibt die Einleitung im Hinblick auf die Abgrenzung zu Art. 54 GRC (vergleichbar mit Art. 17 EMRK) höchst unscharf: zwar wird auf das EGMR-Urteil Perinçek verwiesen, in dem diese Frage erörtert wurde, aber ausdrücklich angesprochen wird diese Grundfrage, ob überhaupt der Anwendungsbereich des Art. 11 GRC eröffnet wird, weder in der Einleitung noch danach in der Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Fall. Es überrascht insbesondere auch, dass der Beschluss des EGMR im Fall Roj TV im Urteil des EuG überhaupt nicht erwähnt wird, obwohl das EuG Rechtsprechung des EGMR sonst umfassend zitiert.

Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit: Das EuG geht, ohne Art. 54 GRC überhaupt nur zu erwähnen, ohne weiteres von einer Einschränkung der nach Art. 11 GRC garantierten Meinungsäußerungsfreiheit aus. Wenn man Art. 54 GRC ausblendet - was allerdings keineswegs naheliegt -, ist das natürlich konsequent und richtig. Damit stellen sich dann die Folgefragen, ob im Sinne des Art. 52 GRC die Einschränkung 1. "gesetzlich vorgeschrieben" ist, 2. den Wesensgehalt des Grundrechts achtet, 3. einem von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel entspricht und 4. verhältnismäßig ist. 

"Gesetzlich vorgesehen": das EuG bezieht sich hier auf die Rechtsprechung des EGMR zur Vorhersehbarkeit. Demnach muss ein "Gesetz" (im materiellen Sinne) nicht nur bestehen, sondern auch zugänglich und so bestimmt sein, dass die Auswirkungen auf die betroffenen Personen - nötigenfalls mit entsprechender Beratung - vorhersehbar sind. 

Ich wäre davon ausgegangen, dass die Einschränkung im vorliegenden Fall durch ein Gesetz im materiellen Sinn (Beschluss und Verordnung des Rates) erfolgte, zumal diese Rechtsakte ein Verbreitungsverbot bestimmter Inhalte normierten und nicht als ein unmittelbar an eine bestimmte Person gerichteter Verwaltungsakt anzusehen sind. Das EuG prüft aber tatsächlich, ob die Verhängung der Sanktionen selbst (also die Erlassung der bekämpften Rechtsakte) für RT vorhersehbar war, geht also, wenn auch nicht ausdrücklich (und aus meiner Sicht nicht zutreffend), davon aus, dass das die Einschränkung verfügende materielle Gesetz Art. 29 EUV bzw. Art. 215 Abs. 2 AEUV wäre. Auch mit diesem - meines Erachtens nicht zutreffenden - Verständnis bejaht das EuG die Vorhersehbarkeit angesichts des weiten Ermessensspielraums des Rates, der Bedeutung insbesondere der audiovisuellen Medien und der Rolle, die eine umfassende Medienunterstützung für die militärische Aggression Russlands in der Ukraine spielt (Rn. 151). Mit anderen Worten: ein vollständig aus dem russischen Staatshaushalt finanziertes Medium, das die völkerrechtswidrige Aggression Russlands unterstützt, musste damit rechnen, sanktioniert zu werden. 

Wesensgehalt des Grundrechtes: das EuG betont, dass die Einschränkung temporär ist (zunächst bis 31.07.2022, mittlerweile verlängert bis 31.01.2023) und wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Aufrechterhaltung der Einschränkung hängt von zwei - kumulativen -Voraussetzungen ab: Beendigung der Aggression gegen die Ukraine und Einstellung der russischen Propagandaaktionen gegen die Union und ihre Mitgliedstaaten. Außerdem sei nicht jegliche Tätigkeit von RT France, die unter Art. 11 GRC fällt, untersagt. RT France kann zB weiter Inhalte produzieren und diese außerhalb der Union verbreiten oder verwerten. Der Wesensgehalt des Grundrechts ist damit nicht verletzt (Rn. 159).

Dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung: das EuG anerkennt die vom Rat verfolgten Ziele des Schutzes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Union und der Wahrung des Friedens, der Verhütung von Konflikten und der Stärkung der internationalen Sicherheit. Das mit den Sanktionen verfolgte Ziel der Beendigung des Kriegszustands und der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht ist ein Ziel von überwiegendem Allgemeininteresse für die Gemeinschaft (Hinweis auf EuGH 30.7.1996, C‑84/95, Bosporus, Rn. 26).

Verhältnismäßigkeit: Bei der im Zentrum des Urteils stehenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung prüft das EuG, ob die Einschränkungen nicht weiter gehen, als zur Verfolgung der legitimen Ziele notwendig ist, ob es eine weniger einschränkende geeignete Maßnahme gäbe, und ob die Nachteile nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen. 

Vorweg geht das EuG aber auf die vom Rat vorgelegten Nachweise ein, prüft also auf Sachverhaltsebene, ob eine "hinreichend solide Tatsachengrundlage" für die Entscheidung, Sanktionen zu verhängen, besteht. Das EuG kommt dabei zum Ergebnis, der Rat habe nachgewiesen, dass RT France unter Kontrolle der russischen Führung steht (Rn. 171 bis 174), und ebenso, dass RT France kontinuierliche und abgestimmte Propagandaaktionen gegen die Zivilgesellschaft in der Europäischen Union und in den Nachbarstaaten lanciert hat, die insbesondere darauf abzielten, die den Angriff Russlands auf die Ukraine zu rechtfertigen (Rn. 175 bis 191). Das EuG legt dazu im Einzelnen den Ablauf der Ereignisse unmittelbar rund um die Invasion in der Ukraine und die damit zusammenhängende Berichterstattung von RT dar. Alles zusammen belegt auch nach Auffassung des EuG, dass RT France vor Erlassung der Sanktionen die destabilisierende und aggressive Politik der Russischen Föderation gegenüber der Ukraine unterstützt und die militärische Aggression gerechtfertigt habe, was die Annahme einer erheblichen und direkten Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Union rechtfertige.

Eignung der Einschränkungen zur Zielerreichung: das EuG kommt in sehr knappen Worten zum Ergebnis, dass das vorübergehende Verbreitungsverbot für Inhalte von RT - als eine Maßnahme im Rahmen einer schnellen, einheitlichen, abgestuften und koordinierten Reaktion der Union - eine geeignete Maßnahme sei, um das Ziel zu erreichen, größtmöglichen Druck auf die russischen Behörden auszuüben, damit sie ihre militärische Aggression beenden (Rn. 193 bis 194).

Erforderlichkeit der Maßnahmen: Das EuG kommt auch zum Schluss, dass Sendeverbote in einzelnen Staaten oder die Verpflichtung, Warnhinweise einzublenden, zur Zielerreichung nicht geeignet gewesen wären (Rn. 196 bis 200).

Interessenabwägung: Das EuG betont hier einerseits die Bedeutung der mit den restriktiven Maßnahmen verfolgten Ziele - nichts weniger als der Weltfrieden wird hier wieder ins Spiel gebracht (etwa in Rn. 203, unter Hinweis auch auf einen Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen) - und andererseits die Pflichten und Verantwortlichkeiten, die die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach der Rechtsprechung des EGMR mit sich bringt. Das EuG verweist in diesem Zusammenhang auch wieder auf EGMR NIT (Abs. 215), und bringt zum Ausdruck, dass die betroffenen Inhalte keine seien, die den "verstärkten Schutz" nach Art. 11 GRC erfordern würden, noch dazu, weil das betroffene Medium unter Kontrolle des Aggressorstaates steht (Rn. 206).

Das EuG greift auch das Vorbringen der Streithelfer auf, wonach Art. 20 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte jede Kriegspropaganda verbietet (siehe dazu schon den Beitrag von Baade im Verfassungsblog). Dieses Verbot umfasse auch Äußerungen, die wiederholt und abgestimmt zugunsten eines andauernden völkerrechtswidrigen Krieges abgegeben werden, insbesondere wenn diese Kommentare von Medien stammen, die direkt oder indirekt vom Aggressorstaat kontrolliert werden (Rn 208 bis 210). Auch die Interessenabwägung geht daher zugunsten des Rates aus. 

In diesem Zusammenhang ist noch bemerkenswert, dass das EuG auch kurz auf die "passive" Informationsfreiheit eingeht und meint, dass dann, wenn sich ein Verbot der Ausstrahlung und Weiterverbreitung als verhältnismäßig erweise, dies umso mehr (a fortiori) auch für die damit verbundene Einschränkung des Rechts der Öffentlichkeit, diese Informationen zu empfangen, gelte (Rn. 214). 

Insgesamt kommt das EuG daher zum Ergebnis, dass das Recht von RT France auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art. 11 GRC durch die Sanktionen nicht verletzt wurde. 

Keine Verletzung der unternehmerischen Freiheit

Es ist natürlich nicht zweifelhaft, dass die Sanktionen eine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC bewirken. Auch diese Freiheit gilt freilich nicht unbeschränkt, sondern kann ebenso wie die Meinungsäußerungsfreiheit unter den Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRC beschränkt werden. Auch diese Voraussetzungen sieht das EuG - in diesem Punkt wenig überraschend - als gegeben an (Rn. 216 bis 230). 

Keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit

Die von RT France behauptete Diskriminierung aus Gründen der (russischen) Staatsangehörigkeit (als Verletzung des Art. 21 Abs. 2 GRC) kann schon deshalb nicht zum Erfolg der Klage führen, weil sich darauf nur Unionsbürger berufen können (ganz abgesehen von der Frage, ob sich eine Aktiengesellschaft auf eine "Staatsbürgerschaft" berufen könnte). Aber auch soweit man Art. 21 GRC als Ausprägung eines allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes lesen kann, hat RT France nicht aufgezeigt, dass andere ihr vergleichbare Medienunternehmen eine günstigere Behandlung erfahren hätten. Das EuG verwirft daher auch diesen Klagegrund.

Ausblick

RT France kann (und wird wohl) den - auf Rechtsfragen beschränkten - Rechtszug zum EuGH nützen (UPDATE 04.10.2022: Das Rechtsmittel ist nun beim EuGH anhängig zu C-620/22 P). Das EuG konnte sich in seiner Entscheidung einerseits auf gesicherte Rechtsprechung des EuGH (insbesondere RosneftKadi I, Kadi II und Bosphorus) zu den Grundfragen des Sanktionenrechts stützen, und hat andererseits im Hinblick auf die neuartigen Sanktionen gegenüber Medien extensiv - wenn auch manchmal etwas erratisch - Rechtsprechung des EGMR herangezogen. Auch wenn man manche Details - insbesondere die Frage des Anwendungsbereichs im Hinblick auf Art. 54 GRC oder die Prüfung der Vorhersehbarkeit - vielleicht anders abhandeln hätte können, sind gravierende Anhaltspunkte, die eine Aufhebung oder ein "Umdrehen" der Entscheidung durch den EuGH erwarten ließen, nicht auszumachen. 

Im Verfahren gar nicht thematisiert wurde die konkrete Reichweite der Sanktionen, die insbesondere im Hinblick auf die daraus resultierenden Verpflichtungen von Suchmaschinenbetreibern, Internetzugangsanbietern und Social Media Plattformen für Diskussionen gesorgt haben (siehe dazu näher meinen ersten Blogbeitrag dazu). Die Frage, ob etwa für einen ISP die genaue Abgrenzung seiner Verpflichtungen "vorhersehbar" war, könnte das EuG noch in der Rechtssache T-307/22, A2B Connect u.a./Rat, beschäftigen, die von niederländischen ISPs initiiert wurde. 

Sofern das EuG diese Klage als zulässig beurteilt, würde dort auch noch die Frage abzuhandeln sein, inwiefern die Sanktionen das Recht von Dritten (etwa Kunden der ISPs) auf Zugang zu Informationen verletzen könnten. Zu diesem Punkt hat das EuG allerdings schon im nun vorliegenden Urteil darauf hingewiesen, dass eine Verletzung des Rechts auf den Empfang von Informationen nicht gegeben sein kann, wenn schon das Senden der Informationen zulässigerweise beschränkt (untersagt) wurde.

(Update 24.08.2022: erwartungsgemäß kritisch befassen sich Ronan Ó Fathaigh und Dirk Voorhoof mit dem EuG-Urteil in diesem Beitrag auf Inforrm's Blog.)

(Update 15.11.2022: Wie RT DE die EU-Sanktionen umgeht, hat Sophie Timmermann auf correctiv.org dargestellt.)