"Choc", der Name eines französischen Klatschmagazins, ist durchaus programmatisch zu verstehen: Im Juni 2009, während des Strafprozesses gegen Entführer, die einen jungen Mann entführt, gefoltert und später ermordet hatten, druckte das Magazin am Titelblatt ein Foto dieses Mannes, das von den Entführern gemacht worden war, die damit Lösegeld erpressen wollten. Es zeigte den Entführten gefesselt und mit sichtbaren Spuren der Folter. Das Foto wurde nicht nur am Cover, sondern noch vier weitere Male im Magazin gedruckt. Im Editorial schrieb das Magazin, dass man sich entschieden habe, "dieses schreckliche Foto" zu veröffentlichen, weil es mehr als alle Worte das Martyrium eines Menschen zeigt, der der Barbarei zum Opfer gefallen ist.
Die Mutter des Opfers und dessen zwei Schwestern klagten wegen Verletzung der Privatsphäre und erreichten zunächst die Einziehung (Vertriebsverbot) - in der Instanz umgewandelt in die Verpflichtung, die Zeitschrift nur mit geschwärzten Fotos zu vertreiben - und eine Entschädigung von 20.000 € für die Mutter und je 10.000 für die Schwestern des Opfers.
Die Medieninhaberin der Zeitschrift fühlte sich dadurch in ihren Rechten nach Art 10 EMRK ein und wandte sich an den EGMR. Dieser hat in seinem heutigen Urteil Société de Conception de Presse et d’Édition gegen Frankreich (Appl. no. 4683/11; Pressemitteilung) jedoch einstimmig festgehalten, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag. Die Entscheidung ist nicht überraschend und bringt rechtlich nichts Neues, zeigt aber wieder einmal, welche Praktiken des Boulevardjournalismus jedenfalls nicht mit der Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden können.
Der EGMR hielt fest, dass ein Eingriff in die freie Meinungsäußerung gegeben war, der durch das Gesetz gedeckt war und einem legitimen Ziel - dem Schutz der Privatsphäre der Mutter und der Schwestern des Opfers - diente.
Zur Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft verwies der EGMR auf seine mittlerweile ständige Rechtsprechung zur Abwägung des Rechts auf Schutz der Privatsphäre und des Rechts auf freie Meinungsäußerung (zuletzt in Couderc et Hachette Filipacchi Associés, mit weiteren Verweisen auf Von Hannover (Nr 2) - im Blog dazu hier - und Axel Springer AG - im Blog dazu hier). Zu den einzelnen Kriterien:
- Debatte von allgemeinem Interesse
Bei einer Gesamtbetrachtung hatte der Artikel eine Information zum Gegenstand, wie sie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen kann (der EGMR formuliert hier recht zurückhaltend: "l’article avait notamment pour objet une information de nature à contribuer à un débat d’intérêt général" - dass der konkrete Artikel wirklich zu einer solchen Debatte beigetragen hätte, stellt er damit gerade nicht fest).
- Bekanntheit der Person und Gegenstand der Reportage
Die von der Berichterstattung betroffene Person war eine Privatperson (dass man als Opfer eines in der Öffentlichkeit Aufsehen erregenden Verbrechens dadurch nicht zur "public figure" wird, hat der EGMR übrigens im Fall Krone Verlag GmbH & Co KG und Krone Multimedia GmbH & Co - im Blog dazu hier - ausgesprochen). Zum Gegenstand des Artikels hält der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte zwischen den Fotos und dem Rest des Berichts unterschieden haben.
- Art der Informationserlangung
Das Foto war von den Entführern gemacht worden und den Verwandten des Opfers zum Zweck der Lösegelderpressung übermittelt worden. Es war nicht zur Veröffentlichung bestimmt und gehörte den Verwandten bzw war es auch Teil der Ermittlungsakten; eine Genehmigung zur Veröffentlichung lag nicht vor. Der Umstand, dass das Foto auch es in einer Fernsehsendung (wie von den nationalen Gerichten festgestellt: "notwendigerweise flüchtig") gezeigt worden war, ändert nichts daran, dass es ohne Genehmigung der Angehörigen des Opfers nicht "öffentlich" war. (Woher die Zeitschrift das Foto hatte, geht aus dem Urteil nicht hervor; da das Foto aber in den Ermittlungsakten war, könnte es zB durch Verfahrensbeteiligte weitergegeben worden sein).
- Inhalt, Art und Folgen des Berichts
Der EGMR stimmt den nationalen Gerichten zu, dass die Veröffentlichung des Fotos die Gefühle der Angehörigen tief verletzen konnte und eine schwere Beeinträchtigung der Menschenwürde des Opfers zeigte. Dass seit der Aufnahme des Fotos (zum Zeitpunkt der Entführung 2006) bereits längere Zeit vergangen war, ändert daran nichts, da das Foto nicht nur noch nie veröffentlicht worden war, sondern die Veröffentlichung auch gerade zu einer Zeit erfolgte, als das Strafverfahren gegen die Entführer im Gang war. Das hätte die Journalisten zu Zurückhaltung und Vorsicht veranlassen müssen, zumal der Tod unter besonders brutalen und traumatisierenden Umständen für die Angehörigen eintrat. Die Veröffentlichung der Fotografie, auf dem Titelblatt und vier weitere Male im Inneren der Zeitschrift, in einem Magazin mit sehr großer Auflage war daher geeignet, die Traumatisierung der Angehörigen zu verstärken.
- Schwere der Sanktion
Der EGMR hält dazu fest, dass das Berufungsgericht die Einziehung des Magazins abgeändert hatte in die Verpflichtung, die Fotos zu schwärzen. Das zeige, dass das nationale Gericht sein Augenmerk ausdrücklich nur auf die strittigen Fotos gelegt habe; unter den gegebenen Umständen sei dies eine angemessene Sanktion. Die Medieninhaberin habe auch nicht darlegen können, dass diese Sanktion unter den Umständen des Falles einen chilling effect ("effet dissuasif") gehabt habe. Auch die Höhe der Entschädigung (insgesamt 40.000 €) wird vom Gericht nicht als exzessiv beurteilt.
Damit kommt der EGMR zum Ergebnis, dass der Eingriff auch mit stichhaltigen und hinreichenden Gründen gerechtfertigt und verhältnismäßig war, sodass er insgesamt als "in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich" beurteilt wurde.
Thursday, February 25, 2016
EGMR: Verbot der Veröffentlichung von Fotos eines gefolterten Entführungsopfers keine Verletzung des Art 10 EMRK
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