Thursday, December 16, 2010

"Schokoladenkinder": EGMR zum Schutz der Identität unmündiger Straftäter

"Schokoladenkinder: Hochrangige Eltern unmündiger Straftäter wollen Skandal vertuschen", lautete die Schlagzeile über einem Bericht von Aleksey Ovchinnikov, Journalist der Tageszeitung Иваново-Пресс. Der Artikel befasste sich (neuerlich) mit einem Vorfall in einem Sommercamp, bei dem drei zwölfjährige Kinder einen neunjährigen Zimmerkollegen geschlagen und sexuell missbraucht hatten. Im Besonderen ging es in diesem Artikel um die Eltern eines der Kinder, die beide Bundesrichter waren, und den Stiefgroßvater eines weiteren Kindes, der (stellvertretender) Chef der Verkehrspolizei von Ivanovo war. Sowohl die Richter als auch der Verkehrspolizei-Chef wurden namentlich genannt, und zumindest implizit wurde auch in den Raum gestellt, dass diese Druck auf die Ermittlungen auszuüben versuchten ("attempts are being made to exert pressure on the course of the resumed investigation", hat der EGMR das russische Original übersetzt).

Die beiden Richter und der Verkehrspolizei-Chef klagten und bekamen insofern Recht, als ihnen der Versuch einer Einmischung in die Untersuchungen vorgeworfen worden war; die Zeitung und der Journalist mussten den Vorwurf zurückziehen und sich entschuldigen, und sie mussten Schadenersatz in der Höhe von etwa 85 bzw. 55 Euro leisten. Der Verkehrspolizei-Chef erhielt auch darin recht, dass Informationen über sein Privatleben unzulässigerweise ohne seine Zustimmung veröffentlicht worden waren. Der Journalist wandte sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der in seinem heute bekanntgegebenen Urteil keine Verletzung des Art 10 EMRK feststellte.

Vorweg ist festzuhalten, dass die Richtigkeit der Berichterstattung über den Vorfall im Sommercamp selbst nicht in Zweifel stand; die Polizei hatte zu diesem Vorfall auch Beweise erhoben, es kam aber zu keiner strafrechtlichen Verfolgung der Täter, da diese noch strafunmündig waren. Auch stand fest, dass die Namen aller Beteiligten schon vor den inkriminierten Artikeln des Beschwerdeführers durch einen Bericht in einer Wochenzeitung und daraufhin auch im Internet bekannt geworden waren. Unter bestimmten Umständen kann  aber, so der EGMR, eine Beschränkung der Weiterverbreitung von Information, die bereits öffentlich gemacht wurde, gerechtfertigt sein:
"the Court considers that in certain circumstances a restriction on reproducing information that has already entered the public domain may be justified, for example to prevent further airing of the details of an individual’s private life which do not come within the scope of any political or public debate on a matter of general importance [...]"
In der konkreten Abwägung kam der EGMR daraufhin zum Ergebnis, dass die Information über den unmündigen Stiefenkel des Verkehrspolizei-Chefs keinen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse liefern konnte. Die Öffentlichkeit hatte kein legitimes Interessa an der Kenntnis von Familienangelegenheiten des Verkehrspolizei-Chefs, die mit seiner offiziellen Funktion nichts zu tun hatten. Der EGMR spricht dazu klar aus, dass das Informationsrecht des Journalisten in einem solchen Fall, in dem ein strafunmündiger Minderjähriger ein schweres Delikt begangen hat, hinter das Recht auf Schutz des Privatlebens des Unmündigen zurücktreten muss:
"In the Court’s view, in cases such as the present one where an offence has been committed by a minor who has not reached the statutory age of criminal responsibility and who is not considered responsible for his actions, a journalist’s right to impart information on a serious criminal offence must yield to the minor’s right to the effective protection of his private life."
Dass der - nicht konkretisierte und nicht belegte - Vorwurf einer versuchten Druckausübung auf polizeiliche Ermittlungen rufschädigend ist (gerade für Richter und Polizisten), ist evident, die Verurteilung dafür wurde vom EGMR - auch angesichts der geringen Geldentschädigung - nicht als unangemessen beurteilt. Das Urteil erging einstimmig, allerdings mit einem Sondervotum des russischen Richters Kovler, der im Hinblick auf die Verurteilung zu einer Entschuldigung, die an sich nie notwendig sein könne, Bedenken äußert, letztlich aber doch zustimmt.

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