Die Streitsache nimmt ihren Ausgang, wie so manches türkische Verfahren, mit einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Vertretern von Regierung und Justiz: der Chefinspektor des Justizministeriums ermittelt gegen einen Richter, ausgehend von anonymen Briefen (auch das nichts Neues, wenn es um Vorwürfe gegen RichterInnen geht), und schreibt einen Bericht über das angebliche - gravierende - Fehlverhalten dieses Richters (unter anderem soll es zu sexuellen Belästigungen gekommen sein) zu einer Zeit, da dieser Berater des Ministers und Leiter eines Wohnheims für Richter war. Kurz darauf wird der Richter zum Kassationsgericht gewählt und verwehrt sich gegen die Untersuchung, da vom Justizministerium nicht gegen einen Richter dieses Gerichtshofs ermittelt werden dürfe. Ein paar Monate später sickert der Untersuchungsbericht an die Presse durch, in allen Medien wird ausführlich darüber berichtet. Chefinspektor Poyraz kommt auch zu Wort und bestätigt die Untersuchungen. Später gibt er auch eine Pressemitteilung heraus, in der er mitteilt, dass fünfzehn Untersuchungen im Gange seien; die Namen der (mutmaßlichen) Opfer gebe er nicht bekannt, da einige von ihnen mittlerweile verheiratet wären und es - würden ihre Namen bekannt - Tote geben könnte.
Der betroffene Richter klagt den Chefinspektor. Das angerufene Gericht kommt zum Ergebnis, dass der Untersuchungsbericht nichtig ist, da das Justizministerium nach der Ernennung des Richters an den Kassationsgerichtshof nicht mehr für die Untersuchungen zuständig gewesen war, was der Chefinspektor wissen musste. Dieser wird daher zu einer Entschädigung von etwa € 15.000 verurteilt, weil er vertrauliche Informationen weitergegeben und seine eigene Meinung dazu mitgeteilt hatte.
Der EGMR sieht in dieser Verurteilung keine Verletzung des Art 10 EMRK. Er betont die privilegierte Position der öffentlichen Amtsträger - hier des Chefinspektors des Justizministeriums -, die vom Zugang zu den Medien profitierten. In ihrer Äußerungsfreiheit müssen sie Zurückhaltung üben ("faire montre de retenue"), um ein Ungleichgewicht im Verhältnis zu "gewöhnlichen Bürgern" zu vermeiden, die einen eingeschränkten Zugang zu den Medien haben. Besondere Sorgfalt ist einzuhalten, wenn es um laufende Ermittlungen geht und das öffentliche Organ im Interesse des ordnungsgemäßen Funktionierens der Gerichtsbarkeit an eine Verschwiegenheitspflicht gebunden ist. Das Ausplaudern von vertraulichen Ermittlungsergebnissen - selbst wenn das Meiste dazu schon auf Grund eines durchgesickerten Berichts in den Medien stand - ist daher nicht durch das Grundrecht nach Art 10 EMRK gedeckt. Oder, mit anderen Worten und ganz vereinfacht: Art 10 EMRK steht der Amtsverschwiegenheit nicht im Wege. Ähnliche Problemen kennen wir auch in Österreich, siehe zB diesen Bericht.
Weitere Entscheidungen bzw. Urteile des EGMR der jüngsten Zeit habe ich - mit knappen Anmerkungen zum Inhalt - in meine mittlerweile etwas unübersichtliche Zusammenstellung von Art 10 EMRK-Entscheidungen gestellt; sie seien hier nur mit Titel und Stichwort angeführt:
- 2.11.2010, Petrov gegen Bulgarien (Application no. 27103/04); unzulässig; Freispruch eines Publizisten, der einen möglichen Zusammenhang des Beschwerdeführers mit einem Mordanschlag an einem Staatsanwalt ansprach, ist keine Verletzung von Art. 8 oder 10 EMRK; überwiegendes öffentliches Informationsinteresse, sorgfältige Abwägung durch das nationale Gericht;
- 02.11.2010, Gillberg gegen Schweden (Application no. 41723/06); Universitätsprofessor widersetzt sich der Herausgabe von Daten zu einer mit Kindern durchgeführten Studie, Verurteilung dafür (wegen Amtsmissbrauch) ist keine Verletzung von Art. 8 oder 10 EMRK (die Frage, ob der Bekanntgabe der Daten ein Berufsgeheimnis entgegenstünde, wäre im vorangegangenen Verfahren über die Datenherausgabe zu klären gewesen); Update: nicht endgültig, Verfahren vor der Großen Kammer anhängig!
- 07.12.2010, MacKay und BBC Schottland gegen Vereinigtes Königreich (Application no. 10734/05); kein wirksames Rechtsmittel gegen ein Verbot, über ein Strafverfahren zu berichten; Verletzung des Art. 13 in Verbindung mit Art 10 EMRK;
- 07.12.2010, Público u.a. gegen Portugal (Application no. 39324/07); Bericht über Sozialversicherungs-Beitragsschulden eines bekannten Sportvereins, Einhaltung der journalistischen Sorgfalt; Verletzung des Art 10 EMRK wegen Verurteilung zu einer Entschädigung von € 75.000.
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