Ausgangspunkt des EuGH-Verfahrens ist ein Vorlageersuchen des deutschen Bundesverwaltungsgerichtes in einem Verfahren über eine Verbotsverfügung des Innenministeriums, die sich gegen den in Dänemark ansässigen Rundfunkveranstalter Mesopotamia Broadcast A/S METV und den von ihr betriebenen Fernsehsender Roj TV A/S richteten und diesen auf der Grundlage des deutschen Vereinsgesetzes die Betätigung in Deutschland untersagten. Würde diese Verfügung wirksam (das Bundesverwaltungsgericht hat den Sofortvollzug der Maßnahmen aufgehoben), so könnte im Ergebnis offenbar vor allem keine öffentliche Weiterverbreitung des Programms (etwa in Gaststätten oder bei Versammlungen) erfolgen. Hintergrund des Verbots ist, dass das deutsche Innenministerium festgestellt hat, die Sendungen von Roj TV würden die - von der Union als "terroristisch" eingestufte - Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verherrlichen und damit "gegen den Gedanken der Völkerverständigung" im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften verstoßen.
Da aber mit dieser Verbotsverfügung auch ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit verbunden sein kann, die für Fernsehsendungen in der RL "Fernsehen ohne Grenzen" (nun: RL über audiovisuelle Mediendienste [AVMD-RL]) besondere Regelungen erfahren hat, hat das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift über ein Vereinsverbot wegen Verstoßes gegen den Gedanken der Völkerverständigung in den durch die RL koordinierten Bereich fällt und daher gemäß Art 2a der Richtlinie ausgeschlossen ist (und, falls ja, unter welchen Voraussetzungen).
Generalanwalt Bot bestätigt zunächst, dass Art 2a der RL Fernsehen ohne Grenzen (hier noch in der Fassung der RL 97/36/EG, siehe nun Art 3 AVMD-RL) anzuwenden ist, wonach Mitgliedstaaten die Weiterverbreitung von Fernsehsendungen aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet aus Gründen, die Bereiche betreffen, die durch diese Richtlinie koordiniert sind, nicht behindern dürfen ("Sendestaatskontrolle"). Von diesem Grundsatz können Mitgliedstaaten nur vorübergehend und nur dann abweichen, wenn mit einer Fernsehsendung aus einem anderen Mitgliedstaat "in offensichtlicher, ernster und schwerwiegender Weise gegen Artikel 22 Absatz 1 oder 2 und/oder Artikel 22a verstoßen" wird und überdies ein komplexes Verfahren eingehalten wird (mindestens zweifacher Verstoß in zwölf Monaten, Mitteilung an Veranstalter und Kommission, ergebnislose Konsultation mit Sendestaat und schließlich neuerlicher Verstoß); zudem muss die Kommission dann innerhalb einer Frist von zwei Monaten eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit dem Unionsrecht treffen. Nach Art 22a der RL "Fernsehen ohne Grenzen" (vgl nun Art 6 der AVMD-RL) tragen die Mitgliedstaaten "dafür Sorge, dass die Sendungen nicht zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität aufstacheln." Da die Bestimmungen im hier wesentlichen Kern von der Fernseh-RL in die AVMD-RL übernommen wurden, ist die Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache auch für die Auslegung der aktuellen Rechtslage relevant.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte Zweifel, ob der Verbotsgrund nach Art 22a Fernseh-RL ("Aufstachelung zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität") auf Sendungen, die gegen das in Deutschland geltende "Gebot der Völkerverständigung" verstoßen, anwendbar ist: die RL, die sich auf die "Aufstachelung zu Hass" beziehe, betreffe eine "Botschaft stärkerer Intensität" als eine "bloße Völkerverständigungswidrigkeit".
Der Generalwalt teilt diese Zweifel nicht, und er greift in der Auslegung insbesondere auch auf Art 11 der Grundrechtecharta zurück; wörtlich schreibt er (Hervorhebung hinzugefügt):
67. Entgegen dem vorlegenden Gericht sehe ich in diesen Definitionen keine Gründe, die die Annahme rechtfertigten, dass der Begriff der Aufstachelung zum Hass einen merklich anderen Inhalt hätte als der der Völkerverständigungswidrigkeit. Denn zum Hass aufstacheln bedeutet, Anstrengungen zu unternehmen, ein feindliches oder ablehnendes Gefühl dem anderen gegenüber herbeizuführen, aufgrund dessen derjenige, der dieses Gefühl verspürt, nicht mehr in der Lage ist, in Harmonie mit der anderen Person zusammenzuleben, also sich mit ihr zu verstehen.Weiters legt der Generalanwalt auch dar, weshalb "Aufstachelung zum Hass aufgrund von Rasse oder Nationalität" auch dann vorliegt, wenn "bloß" kurlturelle oder ethnische Unterschiede bestehen; er verweist darauf, dass "Rasse" keinerlei objektiven wissenschaftlichen Inhalt hat und das Unionsrecht jede Theorie, die vom Bestehen unterschiedlicher menschlicher Rassen ausgeht, verwirft. Der RL-Gesetzgeber beziehe sich mit dem Verbot jeder Aufstachelung zum Hass "auf die Formen von Diskriminierung, die sich auf ein Kriterium stützen, das es nach den von ihm verurteilten Theorien ermöglichen würde, die Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen und einen oder mehrere Menschen als von Natur aus als anderen überlegen oder unterlegen anzusehen." Es könne auch nicht darauf ankommen, ob die "aufstachelnden" Sendungen tatsächlich Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung haben. Der Generalwalt kommt daher zu folgendem Zwischenergebnis:
68. Dem Begriff der Völkerverständigungswidrigkeit einen erweiterten Sinn dahin zu geben, dass er Botschaften umfasst, die nicht geeignet sind, ein Gefühl der Intoleranz zu erzeugen, liefe außerdem dem Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung zuwider. Mit anderen Worten ist die in Art. 11 der Charta garantierte Freiheit der Meinungsäußerung, wie sich aus Art. 54 der Charta ergibt, dann nicht mehr anwendbar, wenn die Botschaft andere von der Charta anerkannte Grundsätze und Grundrechte beeinträchtigt, wie den Schutz der Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot.
69. Die Begriffe Aufstachelung zum Hass und Völkerverständigungswidrigkeit beziehen sich meines Erachtens demnach auf dasselbe Verhalten.
85. Das Ziel, das die Richtlinie mit der durch ihren Art. 22a vorgenommenen Harmonisierung verfolgt, führt meiner Ansicht nach dazu, den Begriff der Aufstachelung zum Hass aufgrund von Rasse und Nationalität weit auszulegen, so dass davon auch Sendungen erfasst werden, die die Verständigung zwischen unterschiedlichen ethnischen oder kulturellen Gemeinschaften wie die in Deutschland lebenden kurdischen und türkischen Gemeinschaften beeinträchtigen könnten.Der Generalanwalt räumt ein, dass die Beurteilung des diskriminierenden Charakters einer Fernsehsendung legitimerweise von einem Mitgliedstaat zum anderen variieren könne und dass auch die Auswirkungen, die zum Hass zwischen unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Gemeinschaften aufstachelnde Fernsehsendungen auf die öffentliche Ordnung haben, selbstverständlich von der Anwesenheit dieser Gemeinschaften im nationalen Hoheitsgebiet abhängen. Das rechtfertige aber keine restriktive Auslegung von Art. 22a der RL. denn erstens bestehe eben "das Ziel einer harmonisierten Vorschrift gerade darin, dass diese allen Mitgliedstaaten gemein ist und somit von jedem von ihnen angewandt wird", und:
90. Zweitens fehlt einem Mitgliedstaat, der davon ausgeht, dass die von einem anderen Mitgliedstaat aus verbreiteten Sendungen die in Art. 22a der Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, nicht jegliche Handlungsmöglichkeit. Ihm steht, wie dargelegt, das in Art. 2a Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Verfahren zur Verfügung, das es ihm unter den in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen ermöglicht, beschränkende Maßnahmen gegen derartige Sendungen zu ergreifen.Diese Garantie diene dazu, die Ausübung des Grundrechts auf Freiheit der Meinungsäußerung bestmöglich mit dem ebenfalls legitimen Recht der Mitgliedstaaten, ihre öffentliche Ordnung zu schützen, in Einklang zu bringen. Außerdem können die Maßnahmen im Sendestaat wirksamer sein als diejenigen, die einseitig von einem Empfangsmitgliedstaat ergriffen werden:
So könnte die Durchführung des Verfahrens nach Art. 2a Abs. 2 der Richtlinie in den vorliegenden Rechtssachen gegebenenfalls zu einem Verbot jeglicher Verbreitung von die PKK verherrlichenden Fernsehsendungen der Mesopotamia Broadcast METV durch das Königreich Dänemark führen, während die streitigen deutschen Maßnahmen konkret nur zur Folge haben, dass ihre Weiterverbreitung an öffentlichen Orten in Deutschland inkriminiert würde und nicht der dortige Empfang in einem privaten Rahmen.Der Generalanwalt schlägt daher vor, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:
Art. 22a der RL 89/552/EWG idF 97/36/EG, wonach die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Fernsehsendungen nicht zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität aufstacheln, ist dahin auszulegen, dass er auch Sendungen verbietet, die aufgrund der Verherrlichung einer von der Union als „terroristisch“ eingestuften Vereinigung geeignet sind, bei Gemeinschaften unterschiedlicher ethnischer oder kultureller Herkunft feindliche oder ablehnende Reaktionen hervorzurufen.Mit den Verbotsverfügungen des Innenministeriums wird den Sendungen von Roj TV in Deutschland also nicht beizukommen sein; stattdessen wird man, will man das Verbot erreichen, wohl den mühsameren, aber im Ergebnis wirksameren Weg nach (nunmehr) Art 3 AVMD-RL einschlagen müssen. Ob das aber noch notwendig sein wird, könnte sich auch in einem anderen Verfahren herausstellen, das derzeit gegen die Rundfunkveranstalter in Dänemark geführt wird (siehe jüngst diesen Bericht über eine Äußerung der dänischen Außenministerin).
Update 22.09.2011: zum Urteil des EuGH vom 22.09.2011 siehe hier.
No comments :
Post a Comment