Art 5 der VO 1/2003 über die Durchführung der EU-Wettbewerbsregeln sieht vor, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Artikel 81 und 82 EG (nun Art 101 und 102 AEUV) in Einzelfällen zuständig sind, und dass sie unter anderem die Abstellung von Zuwiderhandlungen oder einstweilige Maßnahmen anordnen können; weiters heißt es: "Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden." Viel Spielraum für Zweifel bleibt hier eigentlich nicht, und der EuGH konnte in einer recht knappen Entscheidung klarstellen, dass Negativentscheidungen der Kommission vorbehalten sind:
"27 Erlaubte man den nationalen Wettbewerbsbehörden, Entscheidungen zu treffen, mit denen ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV verneint wird, würde das durch die Verordnung eingeführte System der Zusammenarbeit in Frage gestellt und die Zuständigkeit der Kommission beeinträchtigt.Zur zweiten Vorlagefrage hielt der EuGH fest, dass Art 5 der VO 1/2003 natürlich unmittelbar awendbar ist und dass eine nationale Wettbewerbsbehörde nur dann ihre nationalen Vorschriften anwenden kann, wenn das Unionsrecht keine besondere Vorschrift enthält (siehe zum Urteil auch die Presseaussendung des EuGH).
28 Eine solche „negative“ Sachentscheidung könnte nämlich die einheitliche Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV beeinträchtigen, die eines der im ersten Erwägungsgrund der Verordnung hervorgehobenen Ziele dieser Verordnung ist, weil sie die Kommission daran hindern könnte, später festzustellen, dass die fragliche Verhaltensweise eine Zuwiderhandlung gegen diese unionsrechtlichen Bestimmungen darstellt.29 Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik der Verordnung und dem mit dieser verfolgten Ziel geht somit hervor, dass die Feststellung des Nichtvorliegens eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV der Kommission vorbehalten ist, selbst wenn dieser Artikel in einem von einer nationalen Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren angewandt wird."
Das Ergebnis ist wenig überraschend, aber das Verfahren ist in gewisser Weise doch auch signifikant, zeigt es doch deutlich die Grenzen für mitgliedstaatliche Versuche, das Wettbewerbsrecht der Union auf nationaler Ebene auszuhebeln. Und das wiederum bringt mich zum Ministerialentwurf für die Novellierung des TKG 2003, zu dem die Begutachtungsfrist vor kurzem abgelaufen ist (zum Entwurf siehe hier).
In diesen Entwurf hat das BMVIT ja, angeblich einem Wunsch der Branche folgend, kryptische Bestimmungen über "Kooperationsvereinbarungen zur Teilung des Investitionsrisikos für neue und verbesserte Infrastrukturen" aufgenommen (§ 38 Abs 5 TKG 2003 in der Entwurfsfassung). Der Text ist legistisch so schlecht gemacht, dass er erkennbar nicht von den zuständigen Legisten stammen kann (die Regulierungsbehörde kann demnach die Vereinbarungen nur untersagen, aber in die - eigentlich nicht vorgesehene - "Genehmigung" auch Nebenbestimmungen aufnehmen; außerdem steht die Bestimmung an systematisch vollkommen falscher Stelle im Gesetz, bei den spezifischen Verpflichtungen für Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht). Abgesehen davon ist die Bestimmung aber klar als Angriff auf die parallele Anwendung von allgemeinem und sektorspezifischem Wettbewerbsrecht gedacht, soll doch de facto eine kartellrechtliche Freistellungsentscheidung durch die Regulierungsbehörde getroffen werden. Das ist nicht nur eine Abkehr von der bisherigen Aufgabenverteilung zwischen Regulierungsbehörde und Wettbewerbsbehörden, sondern auch ein Systembruch im Kartellrecht, in dem solche "Genehmigungen" von Kooperationen nicht mehr vorgesehen sind.
Vor allem aber berücksichtigt diese Bestimmung nicht die unionsrechtliche Dimension: sobald nämlich der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden könnte (und wenn zB ein in ganz Österreich vertretenes marktmächtiges Unternehmen an solchen Vereinbarungen beteiligt ist, wird dies in der Regel der Fall sein), wäre der Sachverhalt nach Art 101 AEUV zu beurteilen - und hier helfen nationale "Schutzschilde" für Kartellabreden gar nichts; eine "Freistellungserklärung" oder "Negativentscheidung" könnte nämlich weder die nationale Wettbewerbsbehörde noch die - nach § 38 Abs 5 TKG 2003 in der Entwurfsfassung - vielleicht als sektorspezifische nationale Wettbewerbsbehörde einschreitende Regulierungsbehörde wirksam treffen, wie der EuGH im oben beschriebenen Urteil Tele2 Polska deutlich gemacht hat (zu § 38 Abs 5 im Entwurf siehe übrigens auch die Kritik etwa in den Stellungnahmen des BMJ, BMWFI, der Bundeswettbewerbsbehörde und des Bundeskartellanwalts).
Update: Nicolas Petit kritisiert die Entscheidung heftig (zB hier); wi ich versteht auch Johannes Zöttl im Kartellblog seine Aufregung nicht.
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