Art 10 Abs 2 EMRK ermöglicht aber ausdrücklich (gesetzliche) Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung, wenn diese in einer demokratischen Gesellschaft zur Verfolgung bestimmter legitimer Ziele, unter anderem zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung, notwendig sind. Daher sind auch gesetzliche Bestimmungen über "contempt of court", durch die zB beleidigende Schriftsätze oder abschätzige Äußerungen in Gerichtsverfahren unter (Ordnungs-)Strafe gestellt werden, grundsätzlich mit Art 10 EMRK vereinbar (in Österreich zB §§ 86 und 199 ZPO).
Eine derartige Ordnungsstrafe wegen beleidigender Schreibweise in einem Berufungsschriftsatz war auch Gegenstand des Verfahrens Žugić gegen Kroatien (Appl. no. 3699/08), in dem der EGMR heute sein Urteil verkündet hat. Der Beschwerdeführer, ein Jurist, der sich in einem - für ihn erfolglos verlaufenen - Verfahren gegen einen Wasserversorger selbst vertreten hat, hatte im Berufungsschriftsatz gegen das erstinstanzliche Urteil unter anderem Folgendes geschrieben (Wiedergabe aus dem EGMR-Urteil):
"It is indicative to mention here that the judge, before dictating the operative provisions of the judgment, asked the defendant whether 'he would pay this' to which the defendant replied 'where did you get that idea?' ['što Vam pada na pamet? '] and asked whether she had examined the case file.... The judge angrily turned sideways in her chair and dictated the operative provisions of the judgment in the name of the Republic of Croatia to the typist, using a funny expression [navodeći komičan izraz] that the parties were asking for a reasoned judgment – as if in adversarial proceedings judgments without reasons or instruction on remedies available against them existed. Unfortunately, the court did not record these dialogues between the judge and the defendant in the minutes. What judicial professionalism this is! [Kakva li je ovo sudačka profesionalnost!]"
Wegen dieser Ausführungen wurde über ihn eine Ordnungsstrafe von 500 Kuna (ca. 65 Euro; das war auch die Mindeststrafe) verhängt. Das kroatische Gericht - durch die betroffene Erstrichterin - kam zur Auffassung, dass der Beschwerdeführer durch diesen Text das Gericht und im besonderen die Richterin persönlich beleidigt habe; er habe impliziert, dass die Richterin unwissend und ungeeignet sein, die Pflichten als Richterin zu erfüllen ("ignorant and incompetent to exercise the duty of a judge"). Innerstaatliche Rechtsmittel blieben erfolglos.
Der EGMR stellte - insoweit einhellig - einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung fest, der auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhte und einem legitimen Ziel im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK diente. Nur vier der sieben Richter kamen aber darauf aufbauend zum Ergebnis, dass der Eingriff ausreichend begründet, verhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK festgestellt wurde.
Die Mehrheitsmeinung betont die Notwendigkeit der klaren Unterscheidung zwischen Kritik und Beleidigung. Wenn eine Äußerung nur auf die Beleidigung eines Gerichts oder seiner Mitglieder abziele, verletze eine angemessene Sanktion nicht Art 10 EMRK. Der EGMR hält fest, dass das nationale Gericht, bestätigt auch durch das Berufungsgericht, zum Ergebnis gekommen ist, dass die Ausführungen beleidigend waren, und er sieht keinen Grund, davon abzuweichen. Der Fall sei vergleichbar den Fällen Saday gegen Türkei ("Folterer in Talaren") und den von der Kommission entschiedenen Fällen W.R. gegen Österreich (ein Anwalt hatte die Rechtsansicht eines Richters als "lächerlich" bezeichnet) und Mahler gegen Deutschland (hier hatte ein Anwalt gemeint, die Anklageschrift sei "im Zustand der Volltrunkenheit" verfasst worden). Wörtlich heißt es im EGMR-Urteil:
Die Mehrheitsmeinung wurde getragen von den RichterInnen Kovler (Russland), Vajić (Kroatien), Steiner (Österreich) und Malinverni (Schweiz). Die abweichende Meinung wurde verfasst von Richter Spielmann (Luxemburg), ihr angeschlossen haben sich die Richter Hajiyev (Aserbaidschan) und Nicolaou (Zypern). Richter Spielmann schreibt, dass seiner Ansicht nach nichts im Wortlaut des Berufungsschriftsatzes über die Grenze der Annehmbarkeit hinausgegangen sei, insbesondere auch verglichen mit Vorwürfen wie "Folterer in Talaren", "lächerlichen" Rechtsansichten oder Verfassen von Anklagen "im Zustand der Volltrunkenheit":"In the instant case the impugned statements, framed in belittling and impertinent terms, were not only a criticism of the first-instance judgment of 15 November 2005 and the way Judge J.G.F. had conducted the proceedings, but also, as found by the domestic courts, implied that she was ignorant and incompetent. There is nothing to suggest that the applicant could not have raised the substance of his criticism without using the impugned language (see A. v. Finland (dec.), no. 44998/98, 8 January 2004)."
"In the case at hand, the applicant only described, albeit in strong words, what had happened during the hearing. His misgivings concerning the judge's attitude during the hearing were part and parcel of his grounds of appeal and were characterised in legal terms under section 354, paragraph 2, subparagraphs 6 and 11, of the Civil Procedure Act."Tatsächlich hätte ich nicht erwartet, dass der EGMR hier doch vergleichsweise restriktiv bleibt - der Beschwedeführer hat mE auch durchaus zutreffend auf ein altes lateinisches Sprichwort hingewiesen: "Irasci iudicem non decet" (etwa: es schickt sich für den Richter nicht, zornig zu werden). Abzuwarten bleibt, ob der Beschwerdeführer vor die große Kammer ziehen möchte (und ob ein solcher Wunsch gewährt würde - dafür spricht die knappe Mehrheit, dagegen wohl der Umstand, dass es letztlich eine sehr sachverhaltsbezogene Frage ist, in der die Mehrheitsmeinung der Kammer betonte Zurückhaltung gegenüber dem nationalen Gericht geübt hat, was von den Konventionsstaaten durchaus gern gesehen wird).
Ordnungsstrafe betrifft keine strafrechtliche Anklage iSd Art 6 EMRK
Das Urteil ist - für die juristisch Interessierten - aus einem weiteren Grund von Bedeutung: der Beschwerdeführer hatte sich auch wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art 6 EMRK beschwert. Art 6 EMRK kommt aber nur bei zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen oder bei strafrechtlichen Anklagen zur Anwendung. Weder das eine noch das andere lag bei der hier verhängten Ordnungsstrafe vor, so der EGMR (diesbezüglich einstimmig).
PS: ich schreibe übrigens nicht über alle Art 10 EMRK Urteile oder Entscheidungen eigene Blogposts; ich verlinke aber die Urteile und Entscheidungen in der Regel in meiner Übersichtsseite zur EMRK-Rechtsprechung zu Art 10 EMRK; aus letzter Zeit möchte ich vor allem auch auf die (noch) nicht gesondert besprochene Unzulässigkeitsentscheidung vom 8. Februar 2011 Yleisradio Oy gegen Finnland (Appl. no 30881/09) hinweisen.
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