Monday, November 22, 2010

"Neuwahlen" und andere Marginalien (in Sachen ORF)

Nein:  zu den aktuellen ORF-(Personal-)Debatten werde ich mich in diesem Blog aus guten Gründen auch weiterhin nicht näher äußern. Hier nur ein paar Anmerkungen auf eher abstrakter Ebene zu Nebenaspekten:

1. Wer die Wahl hat ...
Mich irritieren die Begriffe "Wahl" bzw. "Neuwahl" oder "Abwahl", die derzeit praktisch durchgängig von allen verwendet werden, die sich zur Bestellung und/oder Abberufung des Generaldirektors und der Direktoren des ORF äußern, und zwar vor allem von den involvierten Organen/Organmitgliedern selbst (Wrabetz, Oberhauser, Lorenz, Grasl, Kulovits-Rupp, Medwenitsch, Moser, etc.), aber auch von Politikern (zB Kopf, Cap) und - folgerichtig - natürlich auch von den Journalisten, die über diese Debatte berichten.

"Wahl" ist aber ein vor allem politisch besetzter Begriff, er impliziert eine Auswahl, bei der von den Wählern Repräsentanten bestellt werden, die ihre jeweiligen Interessen vertreten sollen; Wahlen finden zum Nationalrat, zum Landtag, zum Gemeinderat statt, in Interessenvertretungen, zum Betriebsrat, zur Schülervertretung, oder - im ORF - auch zur Vertretung der journalistischen Mitarbeiter (§ 33 Abs 1 ORF-G). Bei den Organen des ORF (Stiftungsrat, Generaldirektor, Publikumsrat) gibt es in diesem Sinne aber nur eine Wahl, nämlich jene, in der von den Rundfunkteilnehmern sechs Publikumsratsmitglieder gewählt werden (§ 28 Abs 6 bis 10 ORF-G).

Der Generaldirektor, die Direktoren und die Landesdirektoren werden hingegen nicht "gewählt", sondern bestellt, und sie werden gegebenenfalls nicht "abgewählt", sondern abberufen (siehe § 21 Abs 1 Z 2 und 4 ORF-G, § 22 ORF-G, § 24 ORF-G).

Natürlich kann man die Unterscheidung zwischen Wahl und Bestellung als juristisch/semantische Spitzfindigkeit abtun (die zudem vom Gesetzgeber auch nicht durchgehalten wird: bezeichnenderweise bei den Übergangsbestimmungen aus dem Jahr 2001 - § 45 ORF-G - heißt es, dass der Stiftungsrat "unverzüglich einen Generaldirektor zu wählen" und der "neu gewählte Generaldirektor" bestimmte Maßnahmen zu veranlassen hat). Dennoch: wer ständig von "Wahl/Abwahl/Neuwahl" spricht, denkt vielleicht eher an Mehrheiten und Minderheiten, Wahlgewinner und Wahlverlierer, an Wahlkampf, Wahlwerbung und Wahlversprechen (manchmal wohl auch an Wahlgeschenke). Bei der Betrauung mit einer Leitungsfunktion geht es aber nicht um eine interessengeleitete Auswahl unter mehreren grundsätzlich gleichrangigen Bewerbern, sondern um die Bestellung der für die Exekutivfunktion am besten geeigneten Person (das Kriterium der fachlichen Eignung betont übrigens auch § 27 Abs 2 ORF-G). Bei einer Aktiengesellschaft - und vieles im ORF-G wurde dem Aktienrecht nachgebildet - käme wohl kaum jemand auf die Idee, die Bestellung des Vorstands als "Wahl" zu bezeichnen.

2. Weisungsfreie Stiftungsräte - aber wer spricht mit wem?
Die Mitglieder des Stiftungsrates sind bekanntlich gemäß § 19 Abs 2 ORF-G "bei der Ausübung ihrer Funktion im Österreichischen Rundfunk an keine Weisungen und Aufträge gebunden". Zur Unabhängigkeit und Verschwiegenheitspflicht der Stiftungsratsmitglieder habe ich vergangenen April etwas angemerkt, was ich in der aktuellen Situation durchaus wiederholen könnte.

Zusammenfassend: natürlich dürfen Stiftungsratsmitglieder nicht nur keine Weisungen annehmen (ich kann mir - anders offenbar als ORF-Journalisten in einem offenen Brief - auch nicht vorstellen, dass jemand so naiv wäre, Weisungen erteilen zu wollen), sie dürfen vor allem aber ORF-Interna nicht mit Außenstehenden - und dazu zählen auch Politiker und deren Berater/Mitarbeiter, egal in welcher Funktion oder Partei - besprechen. Wenn Stiftungsräte am Rande von Stiftungsratssitzungen telefonieren, geht es daher sicher nie und nimmer um ORF-Interna - aber ist es nicht doch bemerkenswert, wie gut manchmal Menschen "in der Politik" über die Debatten im Stiftungsrat informiert sind?

Nur am Rande: medien- bzw. rechtspolitisch gäbe es gute Gründe für mehr Transparenz der Beratungen im Stiftungsrat, denn der "Öffentlichkeit", die ja Begünstigte der Stiftung ORF sein soll, könnte durchaus ein Interesse an genaueren Informationen über die Entscheidungen und die Entscheidungsfindung im Stiftungsrat zugebilligt werden (mir gefällt zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen der Bevölkerung und dem ORF bzw den Organen des ORF das Bild einer Art Treuhandschaft besser: der Treugeber hat ein berechtigtes Interesse, über das Verhalten des Treuhänders informiert zu werden). Aber nach der geltenden Rechtslage besteht eben eine Verschwiegenheitspflicht, an die alle Stiftungsratsmitglieder gebunden sind.

3. Aufgaben des Stiftungsrats - und der Ruf nach der "Politik"
Zur Qualifikation der Stiftungsratsmitglieder habe ich auch schon einmal etwas geschrieben, worauf ich aus gegebenem Anlass wieder hinweisen möchte (hier, im zweiten Teil des Posts). Gemäß § 20 Abs 2 ORF-Gesetz haben die Mitglieder des Stiftungsrats dieselbe Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit wie Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft (nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs muss bei jedem Aufsichtsratsmitglied unter anderem "eine das Durchschnittsniveau übersteigende, besondere 'intelligenzmäßige Kapazität' vorausgesetzt werden").

Aufgabe des Stiftungsrates ist unter anderem "die Bestellung und Abberufung des Generaldirektors" (§ 21 Abs 1 Z 2 ORF-G). Nun liest man, dass im Stiftungsrat "derzeit ein Brief an die Klubobleute der Parlamentsparteien in Arbeit" sei, in dem diese "um die notwendigen gesetzlichen Schritte" für eine "Neuwahl" der ORF-Geschäftsführung ersucht würden. Einig ist man sich offenbar darüber, dass eine "Neuwahl" so rasch als möglich stattfinden solle, aber abweichende Auffassungen bestehen über den Zeitpunkt, zu dem die Funktionsperiode der neu bestellten Geschäftsführung beginnen solle.

Ein derartiger Brief des Stiftungsrats wäre ein bemerkenswertes Eingeständnis: denn es ist Aufgabe des Stiftungsrats, die Geschäftsführung des ORF zu überwachen (§ 21 Abs 1 Z 1 ORF-G) - und wenn der Stiftungsrat zur Auffassung käme, dass trotz bester Überwachung die Geschäftsführung nicht funktioniert, so könnte er den Generaldirektor (mit 2/3-Mehrheit) abberufen. Wollte der Stiftungsrat also eine "Verkürzung der Funktionsperiode" - er könnte sie herbeiführen. Wollte aber der Stiftungsrat eine vorgezogene "Neuwahl", damit man, wie Generaldirektor Wrabetz meint, "bis zum Amtsantritt der neuen Geschäftsführung per 1. Jänner 2012 bereits die Strukturmaßnahmen auf Schiene bringen kann", dann stellt sich die Frage, weshalb es dafür eine "Neuwahl" braucht: denn die notwendigen Strukturmaßnahmen müsste wohl auch die gegenwärtige Geschäftsführung des ORF, sofern sie das Vertrauen des Stiftungsrats hat, auf Schiene bringen können (und wenn nicht, würde sie wohl das Vertrauen des Stiftungsrats verlieren). Ein "Zuruf" des Stiftungsrats an die Politik, wie er derzeit offenbar im Raum steht, würde die Grenzen der Problemlösungskapazität des Stiftungsrats deutlich aufzeigen.

Wie das mit  Zurufen an die "Politik" so sein kann, zeigt ein kleiner Exkurs: Ex-Informationsdirektor Oberhauser hat, einige Zeit vor seiner Abberufung, dafür plädiert, "auch einmal die Politik daran [zu] erinnern, dass sie eine Eigentümerfunktion hat." [Oberhauser hat freilich später, diesmal zutreffend, auch das Gegenteil gesagt]. An seine eigene Abberufung dürfte er beim Wunsch, die Politik an ihre angebliche Eigentümerfunktion zu erinnern, eher nicht gedacht haben.

4. Stiftungsrat: ein Ehrenamt - unter Freunden
Wie schon gesagt, ich glaube nicht, dass das Abstimmungsverhalten einzelner (oder gar aller) Stiftungsratsmitglieder auf Weisungen oder Aufträge zurückgeht. Blockbildungen bei Abstimmungen im Stiftungsrat können schlicht das Ergebnis von - nicht unzulässigen - Beratungen unter befreundeten Stiftungsratsmitgliedern sein, die eben zu einer gemeinsamen Problemsicht kommen (aber nochmals: werden dabei Interna besprochen, haben Außenstehende im Freundeskreis nichts verloren). Was es im ORF-Gesetz allerdings nicht gibt - im Unterschied etwa zu parlamentarischen Regeln - sind offizielle Fraktionsbildungen oder gar Funktionen als "Fraktionsführer" oder Ähnliches. Auch die "Funktion des Sprechers eines Freundeskreises", die etwa Nikolaus Pelinka nach eigenem Bekunden übernommen hat, ist im ORF-G nicht vorgesehen.

Nun ist es selbstverständlich zulässig, dass sich Menschen in ähnlicher Situation, wie es eben Stiftungsratsmitglieder sind, lose zu Freundeskreisen zusammenfinden und sogar einen "Sprecher" bestimmen. Rechtlich interessant wird es, wenn Folgen daran geknüpft werden: so bekommen laut einem Beitrag in der Zeitschrift Datum die Leiter eines Freundeskreises "sogar ein erhöhtes Sitzungsgeld ... Selbst wenn das nur rund 200 Euro pro Sitzung ausmacht." Dazu nur soviel: Nach § 19 Abs 3 ORF-G ist die Funktion als Mitglied des Stiftungsrates ein Ehrenamt, die Mitglieder "haben Anspruch auf angemessenen Ersatz der angefallenen Kosten." Eine Bestimmung über Sitzungsgelder oder gar erhöhte Sitzungsgelder für Freundeskreisleiter habe ich noch nicht entdeckt. (Dass Stiftungsratsmitglieder nicht angemessen honoriert werden, halte ich übrigens für eine medienpolitisch nicht glückliche Entscheidung, ohne das in diesem ohnehin schon überlangen Post näher ausführen zu wollen.)

5. Veröffentlichungen nach dem novellierten ORF-Gesetz: 
Nach der überwiegend am 1.10.2010 in Kraft getretenen Novelle zum ORF-G ist der ORF nun zu etwas mehr Transparenz verpflichtet - die auf der Website vorzunehmenden Pflichtveröffentlichungen sind hier aufzufinden. So ist insbesondere erstmals auch der Jahresbericht gemäß § 8 ORF-G elektronisch verfügbar (siehe zur bisherigen Situation hier), auch der Jahresabschluss (ohne Lagebericht) ist direkt abrufbar.

Derzeit aktuell nachzulesen ist auch der "Vorschlag für ein Informations- und Kulturspartenprogramm sowie ein Online-Angebot (Arbeitstitel: ORF Info Plus)", zu dem Stellungnahmen bis zum 21.12.2010 möglich sind. In diesem Vorschlag wird übrigens der derzeitige Marktanteil von TW1 auf Seite 7 der Beilage D ("Gutachten zum Angebotskonzept ORF Info Plus (AT)" von Prof. Bretschneider) mit 0,2% angegeben - bemerkenswert nach einer Reihe außergewöhnlich erfolgreicher Jahre mit "Rekordzahlen" (siehe dazu näher hier).

6. Internetfreie Minuten
Erwähnenswert ist, dass der ORF (noch) einen Programmdirektor hat - und dieser hat es geschafft, zum Namensgeber eines Gedenkpreises zu avancieren. Der "Wolfgang Lorenz Gedenkpreis für internetfreie Minuten" wird auch dieses Jahr wieder vergeben - die Eventankündigung für den 26.11.2010 ist hier zu lesen.

1 comment :

Anonymous said...

Für internetfreie Minuten ist allerdings seit der jüngsten Novelle des ORF-G nicht Herr Lorenz, sondern der VÖZ zuständig. Vielleicht sollte der "Standard" einen entsprechenden Preis für sich selbst ausloben.