Herr Saliyev war Vorsitzender einer NGO von Investoren aus Kolyma. Für die im Besitz der Stadt Magadan stehende Zeitung Vecherniy Magadan schrieb er einen Artikel unter der Überschrift "Aktien für den Mohren von Moskau", in dem er sich kritisch mit seiner Ansicht nach krummen Geschäften beim Erwerb von Aktien eines lokalen Energieunternehmens durch Moskauer Firmen auseinandersetzte. Die Zeitung wurde an die Abonennten versandt und ging auch über ein Vertriebsunternehmen in den Einzelverkauf, aber dann überkam den Chefredakteur, der den Artikel zunächst angenommen hatte, eine "unspezifische Angst" vor möglichen negativen Konsequenzen dieses Artikels. Daher veranlasste er die Zurückziehung der noch unverkauften Restauflage aus dem Einzelverkauf; gemeinsam mit der Vertriebsfirma konnte er noch zwischen 100 und 200 Stück zurückholen.
Der Autor des Artikels wehrte sich und erstattete Strafanzeige wegen Eingriffs in die Pressefreiheit und wollte zudem mit einer Klage vor dem Zivilgericht erzwingen, dass 2000 Stück der Zeitungsausgabe mit seinem Artikel nachgedruckt und verkauft werden. Weder straf- noch zivilrechtlich hatte er Erfolg; das Zivilgericht kam zum Ergebnis, dass der Zeitungsverlag als Eigentümer der Zeitungsexemplare diese nach Belieben zurückholen und vernichten könne. Also wandte sich der Autor an den EGMR, der tatsächlich (einstimmig) eine Verletzung des Art 10 EMRK feststellte.
Das mag auf den ersten Blick überraschend wirken, erklärt sich aber im Wesentlichen aus der besonderen Art der Zeitung: diese stand im Besitz der Stadtgemeinde, also einer "state authority", und sollte ein "public service" erbringen, nämlich die Bewohner der Stadt über offizielle und andere Ereignisse in der Stadt informieren. Einnahmen aus Werbung waren nur von geringer Bedeutung und die Zeitung existierte vor allem aufgrund öffentlicher Finanzierung. Dem Chefredakteur kam eine doppelte Rolle zu, einerseits war er professioneller Journalist, andererseits musste er die Loyalität der Zeitung zur Stadt und deren politischer Linie sicherstellen. Und obwohl sich kein Vertreter der Stadt oder einer anderen staatlichen Autorität über den Artikel beschwert oder die Zurückziehung verlangt hatte, hatte der Chefredakteur aufgrund seiner eigenen Einschätzung möglicher negativer Konsequenzen die Zurückziehung veranlasst:
"Given the overall context of the case, and the dual role played by the editor-in-chief, his decision to withdraw the newspapers can be characterised as an act of policy-driven censorship. The Court concludes that in the circumstances the editor-in-chief implemented the general policy line of the municipality and acted as its agent."Damit lag also eine dem Staat zuzurechnende Handlung vor, die vom EGMR auch als Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung beurteilt wurde: der Artikel war durch die Versendung an Abonennten und Bibliotheken schon in der public domain (es geht also nicht um den nur in Ausnahmefällen geschützten Zugang eines Autors zur Presse) und die Zurückziehung erfolgte aufgrund des Inhalts dieses Artikels, nicht etwa weil die Zeitung nicht verkauft worden wäre (immerhin das ließe der EGMR zu: "If a part of the print run remained unsold after a while, the information in the newspaper would become outdated and, for that reason, the editor-in-chef would have every reason to withdraw the newspaper from sale. In such case there would be no interference with the applicant’s freedom of speech."). Kritisch beurteilte der EGMR allerdings das Handling des Falles durch die Zivilgerichte:
"The courts which examined the applicant’s civil claims ... simply treated the public information business like any other form of business, and the copies of the newspaper like any other product for sale. For them, the newspaper had an unqualified right to dispose of its property (the print run); therefore, the reasons for the withdrawal were irrelevant. However, those reasons are relevant for the Court’s analysis under Article 10 of the Convention."
Der EGMR hält fest, dass sich der Artikel mit einer wichtigen Angelegenheit des öffentlichen Interesses (Verwaltung öffentlicher Ressourcen) befasste, die höchsten Schutz unter Art 10 EMRK genießt; dass der Artikel unwahr gewesen wäre, war nie behauptet worden. Nochmals kommt der EGMR dann auf die Zivilgerichte zurück, die die Besonderheit des Informationsgeschäfts nicht beachtet haben:
Wären vergleichbare Fälle in Österreich denkbar? Der ORF wurde vom EGMR im Fall Österreichischer Rundfunk gegen Österreich (Appl. no. 35841/02) - entgegen dem österreichischen Vorbringen - nicht als "state authority" beurteilt. Anders wäre die Situation wohl bei der im Eigentum der Republik stehenden Wiener Zeitung zu beurteilen: zwar ist Medieninhaber nicht die Republik selbst, sondern eine in ihrem Eigentum stehende GmbH, aber das war auch bei Vecherniy Magadan der Fall. Herausgeber - und damit für die grundlegende Richtung bestimmend (§ 1 Abs 1 Z 9 MedienG) - ist aber die Republik Österreich. Und die Einnahmen kommen zwar nicht direkt von der Republik, aber doch überwiegend aus Pflichteinschaltungen. Würde also der Chefredakteur nach Veröffentlichung eines Artikels unspezifische Angst vor negativen Konsequenzen bekommen und die schon an den Grossisten ausgelieferte Druckauflage zurückrufen wollen, dann könnte man Parallelen zum Fall Saliyev ziehen. Ähnliches gälte natürlich für die diversen Gemeindezeitungen und Amtsblätter."75 [...] in the specific case at hand the domestic courts did not analyse the content or the form of the article at all. In the eyes of the domestic courts the withdrawal had been ordered by the owner of the product (the newspaper) who had no contractual obligation vis-à-vis its producer (the author, that is, the applicant) to continue the sale. In other words, they treated the situation as just another purely business case, possibly coming within the ambit of Article 1 of Protocol no. 1 to the Convention, but not of Article 10 thereof.76. The Court points out that the relationship between a journalist and an editor-in-chief (or publisher, producer, director of programmes, and so on) is not only or always a business relationship. In the present case at least it was not so, since Vecherniy Magadan was publicly owned and was created not as a profit-making business but as a public utility institution used as a forum for informing the population about the 'social, political and cultural life' of the town [...]. [T]he domestic courts did not consider that the rights of the author of the article required any special protection under Article 10 of the Convention. Basing their findings on the mistaken assumption that the case was basically about the right of the owner to freely dispose of his property, they failed to examine the reasons for the withdrawal of the copies and to balance the applicant’s freedom of expression under Article 10 of the Convention against any other interests that may have been at stake (for instance, the reputation of the person targeted by the article). Accordingly, the decision-making process in this case was deficient from the standpoint of Article 10 of the Convention." (Hervorhebung hinzugefügt)
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