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Tuesday, February 26, 2013

Etwas off topic: EuGH zu Anwendungsbereich und Durchsetzung der Grundrechtecharta

Der EuGH hat heute in zwei Urteilen der Großen Kammer zu Vorlagefragen betreffend die Grundrechtecharta Stellung genommen (C-617/10 Åkerberg Fransson und C-399/11 Melloni).

In beiden Verfahren geht es zwar um strafrechtliche Fragen, die für die Themen dieses Blogs keine Bedeutung haben. Vor allem das Urteil in der Rechtssache C-617/10 Åkerberg Fransson enthält aber wesentliche Aussagen zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta und zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, entgegenstehendes nationales Recht unangewandt zu lassen, sodass ich hier - etwas off topic - doch kurz darauf hinweisen möchte.

Anwendungsbereich der Grundrechtecharta
Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta ist in ihrem Art 51 festgelegt; sie gilt "für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union." Das war für manche - durchaus auch namhafte - Juristen Anlass, über eine mögliche Einschränkung des Grundrechtsschutzes zu spekulieren. Denn man unterstellte den Mitgliedstaaten (vielleicht nicht ganz unbegründet), dass sie mit der Charta keinen ausufernden Grundrechtsschutz durch den EuGH hatten schaffen wollen, der schließlich in weite Teile des nationalen Rechts "überschwappen" würde. Die Worte "ausschließlich" und "Durchführung" wären demnach als Einschränkung gegenüber der früheren Grundrechtsjudikatur des EuGH zu sehen, die sich auf einen weit verstandenen "Anwendungsbereich des Unionsrechts" bezog - der EuGH solle damit gewissermaßen auf den Kernbereich des (von den Mitgliedstaaten durchgeführten) Unionsrechts beschränkt bleiben sollen.

Mit dem heutigen Urteil in der Rechtssache C-617/10 Åkerberg Fransson hat der EuGH - dabei über die eher zurückhaltenden Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón hinausgehend - solchen Spekulationen über eine mögliche Einschränkung des Grundrechtsschutzes ein Ende gesetzt. Der EuGH setzt  "Durchführung des Unionsrechts" und "Anwendungsbereich des Unionsrechts" gleich, indem er Art 51 Abs 1 der Charta als Bestätigung der Rechtsprechung des EuGH (auch vor der Grundrechtecharta) sieht und dazu auf eine Reihe einschlägiger Urteile verweist (beginnend mit dem Urteil ERT zu dem auch für dieses Blog interessanten Thema der Reichweite des früheren griechischen Fernsehmonopols). Dann heißt es knapp:
20   Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta bestätigt, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849, Randnr. 32). Gemäß diesen Erläuterungen „[gilt d]ie Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten … nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“.
21   Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte. [Hervorhebung hinzugefügt]
Das mag hier ein wenig abstrakt klingen, aber am konkreten Anlassfall zeigt sich, dass damit ein sehr weites Feld für die Grundrechtsjudikatur des EuGH eröffnet wird: Herr Åkerberg Fransson hatte Mehrwertsteuer-Erklärungen nicht abgegeben und wurde dafür von der Finanzverwaltung mit einem Strafzuschlag zu der von ihm zu leistenden Steuer belegt; später wurde ein gerichtliches Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung gegen ihn eingeleitet. Strittig war vor dem EuGH, ob dieser Sachverhalt dem Doppelbestrafungsverbot (Art 50 der Charta) unterliegt. Für den EuGH reichte es im Wesentlichen aus, dass das Strafverfahren "teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer" stand und dass die Mitgliedstaaten nach Unionsrecht verpflichtet sind, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen:
27   Folglich sind steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer, wie im Fall des Angeklagten des Ausgangsverfahrens, als Durchführung von Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 (früher Art. 2 und 22 der Richtlinie 77/388) sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.
28   Die Tatsache, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die den steuerlichen Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden, vermag dieses Ergebnis nicht in Frage zu stellen, da durch ihre Anwendung ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll. [Hervorhebung hinzugefügt]
Auch das Finanzstrafrecht ist daher, wenn es im Zusammenhang mit einem Mehrwertsteuerdelikt zur Anwendung kommt, "Durchführung des Unionsrechts" und an der Grundrechtecharta zu messen.

Durchsetzung der Grundrechtecharta durch nationale Gerichte
Nicht überraschend und auch nicht wirklich neu, aber doch klarstellend sind die Aussagen des EuGH zur Frage, wie die Unionsgrundrechte von nationalen Gerichten gegen entgegenstehendes nationales Recht oder Gerichtspraxis durchgesetzt werden können. Im Falle eines Widerspruchs zwischen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und den durch die Charta verbürgten Rechten ist das nationale Gericht gehalten, "für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste"

Damit stellt der EuGH - erstmals ausdrücklich auch zur Grundrechtecharta - klar, dass die nationalen Gerichte (und das betrifft alle Gerichte, vom Bezirksgericht bis zu den Höchstgerichten!) nationale Rechtsvorschriften, die mit der Grundrechtecharta unvereinbar sind, erforderlichenfalls unangewandt lassen müssen (bei Zweifeln über die Auslegung der Charta ist zuvor natürlich eine Vorabentscheidung durch den EuGH einzuholen). Eine Verpflichtung, zuvor die nationale Rechtsvorschrift durch ein verfassungsgerichtliches Verfahren aus dem nationalen Rechtsbestand zu beseitigen, besteht nicht. In Österreich prüft der Verfassungsgerichtshof neuerdings - seit seinem Erkenntnis vom 14.03.2012, U 466/11 und U 1836/11 - zwar nationale Rechtsvorschriften im Anwendungsbereich des Unionsrechts auch am Maßstab (mancher Bestimmungen) der Grundrechtecharta und kann damit eine gewisse Bereinigungsfunktion wahrnehmen. Eine Verpflichtung anderer Gerichte, Rechtsnormen wegen eines Widerspruchs zur Grundrechtecharta anzufechten, besteht freilich nicht - und dürfte nach der Melki-Rechtsprechung des EuGH, die nun auch für die Charta bestätigt wurde, auch nicht eingeführt werden. Zitat aus dem heutigen Urteil:
46   Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führt, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
PS (update 01.03.2013): Der österreichische Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 17.12.2012, 9 Ob 15/12i, dem EuGH eine Vorlagefrage im Zusammenhang mit Art 47 GRC gestellt, die im Hinblick auf das oben dargestellte Urteil C-617/10 Åkerberg Fransson meines Erachtens nicht schwer zu beantworten ist (beim EuGH anhängig zu C-112/13 Aliyev (update 02.04.2014: mittlerweile zu "A." anonymisiert). Dem OGH will (in seiner ersten Frage) wissen, ob für das österreichische System - in dem die ordentlichen Gerichte eine gegen manche Bestimmungen der GRC verstoßende nationale Bestimmung beim Verfassungsgerichtshof anfechten können - aus dem "Äquivalenzprinzip" abzuleiten ist, "dass die ordentlichen Gerichte beim Verstoß eines Gesetz es gegen Art 47 GRC während des Verfahrens auch den Verfassungsgerichtshof zur allgemeinen Aufhebung des Gesetzes anrufen müssen und nicht bloß das Gesetz im konkreten Fall unangewendet lassen können."

Dass dieser Beschluss des OGH  ein Akt besonderer Freundlichkeit gegenüber dem VfGH wäre, kann man nicht wirklich behaupten; das wird auch in seiner Bergründung (ab Punkt 5.5) deutlich, in der nicht nur die in der Rechtswissenschaft geübte Kritik am oben erwähnten "Grundechtecharta-Erkenntnis" des VfGH erwähnt wird, sondern dem VfGH auch, etwas verklausuliert, ein Verstoß gegen die Vorlageverpflichtung vorgeworfen wird. Freilich: dass umgekehrt der VfGH in letzter Zeit gegenüber dem OGH besonders freundlich gewesen wäre (siehe etwa das Erkenntnis vom 13.12.2011, G 137/11), ist genausowenig zu erkennen.

Update 02.04.2014: in seinen heute veröffentlichten Schlussanträgen kommt Generalanwalt Bot zu folgendem Ergebnis (zur hier interessierenden Frage):
Im Geltungsbereich des Unionsrechts verpflichtet der Äquivalenzgrundsatz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die nationalen Gerichte nicht, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen.
Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine solche Verpflichtung vorsieht, verstößt nicht gegen Unionsrecht, sofern die Aufgabe des nationalen Richters, die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten, indem er erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, sowie seine Befugnis, den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung zu ersuchen, weder beseitigt noch ausgesetzt, geschmälert oder aufgeschoben werden.

Monday, June 11, 2012

Medienvielfalt garantieren oder (bloß) achten? Noch eine Anmerkung zum Urteil Centro Europa 7 des EGMR

Zum Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 07.06.2012 im Fall Centro Europa 7 habe ich schon am Tag der Verkündung ausführlich geschrieben (hier). Der EGMR hat darin eine positive Verpflichtung der Konventionsstaaten angenommen, einen angemessenen Rechtsrahmen zur Gewährleistung effektiver Medienvielfalt zu schaffen. Einen Aspekt habe ich in meiner ersten Darstellung noch nicht angesprochen: die Frage nämlich, ob der EGMR in dieser Leitentscheidung zur Medienvielfalt über den Standard des Art 11 Abs 2 der  EU-Grundrechtecharta ("Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet") hinausgegangen ist.

Nicht dass ich missverstanden werde: der EGMR ist natürlich kein EU-Gericht und hat auch die Grundrechtecharta (GRC) nicht anzuwenden. Doch die GRC baut ganz wesentlich auf der EMRK auf, und soweit die GRC Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben sie "die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird" (Art 52 Abs 3 GRC). Art 11 GRC lautet:
Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.
(2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.
In den Erläuterungen, die gemäß Art 52 Abs 7 GRC  "von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen" sind, heißt es dazu: "Artikel 11 entspricht Artikel 10 EMRK". Zu Art 11 Abs 2 sagen die Erläuterungen darüber hinaus noch Folgendes (Verlinkung hinzugefügt):
"Absatz 2 dieses Artikels erläutert die Auswirkungen von Absatz 1 hinsichtlich der Freiheit der Medien. Er stützt sich insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich des Fernsehens, insbesondere in der Rechtssache C-288/89 (Urteil vom 25. Juli 1991, Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a.; Slg. 1991, I-4007), und auf das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, das dem EGV und nunmehr den Verträgen beigefügt ist, sowie auf die Richtlinie 89/552/EWG des Rates (siehe insbesondere Erwägungsgrund 17)."
Eine Verpflichtung der Union oder - in Durchführung des Unionsrechts - der Mitgliedstaaten, Medienvielfalt tatsächlich zu garantieren, sollte demnach mit Art 11 Abs 2 GRC wohl kaum begründet werden. Immerhin war in einer Entwurfsfassung der Grundrechtecharta auch noch ausdrücklich davon die Rede, dass Freiheit und Pluralitä der Medien "gewährleistet" werden sollte, was dann auf mitgliedstaatlichen Druck hin auf "geachtet" abgeschwächt wurde (dafür gibt's auch eine juristisch argumentierende Begründung, nämlich dass die Union mangels einschlägiger Kompetenzgrundlagen die Vielfalt gar nicht garantieren könnte, dies sei Sache der Mitgliedstaaten; siehe zur Diskussion zB hier).

Dass sich eine positive Verpflichtung zur Gewährleistung - nicht bloß zur "Achtung" - von Medienvielfalt schon aus Art 11 Abs 1 GRC ergeben würde, dürfte man zum Zeitpunkt der Schaffung der GRC auch nicht angenommen haben, zumal sie sich damals auch noch nicht aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art 10 EMRK ergab. Erst im Urteil Manole vom 17.09.2009 (im Blog dazu hier) hat der EGMR - allerdings fallbezogen nur im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks - ausdrücklich eine positive Pflicht des Staates angenommen, einen pluralistischen audiovisuellen Dienst zu garantieren: "Where the State decides to create a public broadcasting system, the domestic law and practice must guarantee that the system provides a pluralistic audiovisual service."

Und nun hat die Große Kammer des EGMR im Centro Europa 7-Urteil erstmals auch abseits des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems eine positive Verpflichtung des Staates im Hinblick auf Pluralismus in den Medien angenommen. Diese "Gewährleistungsverpflichtung" wird in den Absätzen 130 und 134 des Urteils formuliert; in Abs 156 wird darauf zusammenfassend verwiesen. Das Urteil betrifft audiovisuelle Medien, ob sich daraus die Verpflichtung zur Gewährleistung von Medienvielfalt auch für Printmedien ableiten lässt, scheint aus meiner Sicht offen; der Rückverweis in Abs. 156 enthält die Einschränkung auf audiovisuelle Medien nicht). Die relevanten Passagen des Urteils gebe ich unten in den vorliegenden englischen und französischen Sprachfassungen wörtlich wieder (der entscheidende Begriff ist "pluralism" bzw "pluralisme"; diese Begriffe werden auch in den englischen bzw französischen Sprachfassungen der GRC in deren Art 11 Abs 2 verwendet).

Wie schon in meinem ersten Blogpost zu diesem Urteil angemerkt, hat der EGMR sehr ausführlich "internationales Material" zitiert (darunter auch die ausdrücklich schon in ihrem Titel auf Art 11 Abs 2 GRC abstellende Entschließung des Europäischen Parlaments zu Gefahren des Rechts auf freie Meinungsäußerung, vor allem in Italien); Art 11 Abs 2 GRC erwähnt er aber in seinem Urteil nicht. Ein zusätzliches Argument für eine staatliche Pflicht, ein pluralistisches Mediensystem zu garantieren, ließe sich angesichts der vorsichtigen Formulierung in Art 11 Abs 2 GRC ("werden geachtet") daraus auch kaum ableiten.

Geht man nun aber davon aus, dass schon Art 11 Abs 1 GRC - der ja Art 10 EMRK entsprechen soll - die positive Verpflichtung beinhaltet, einen geeigneten Rahmen zur Gewährleistung effektiver Medienvielfalt zu schaffen (wenn man die Auslegung des Art 10 EMRK durch den EGMR zugrundelegt), dann scheint für den "vorsichtigeren" Art 11 Abs 2 GRC insofern kein Anwendungsbereich mehr zu bleiben.

Natürlich hätte die Union damit weiterhin nicht mehr Kompetenzen, als ihr in den Verträgen eingeräumt werden; ihre Möglichkeiten, im Bereich der Medienvielfalt tätig zu werden, bleiben also weiter beschränkt. Aber überall dort, wo sich ihre legislative und administrative Tätigkeit - etwa im Bereich der Dienstleistungsfreiheit, der Regulierung audiovisueller Medien und/oder elektronischer Kommunikationsnetze im Rahmen der Binnenmarktkompetenz, oder in der Wettbewerbspolitik - auf Medien auswirkt, wären sowohl Union als auch - in Durchführung von Unionsrecht - die Mitgliedstaaten verpflichtet, auch das Ziel der Schaffung und Wahrung von Medienvielfalt zu beachten.

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Hier nochmals zum Nachlesen die relevanten Passagen aus dem englischen Urteilstext sowie danach aus dem französischen Urteilstext:
130. In this connection, the Court observes that to ensure true pluralism in the audiovisual sector in a democratic society, it is not sufficient to provide for the existence of several channels or the theoretical possibility for potential operators to access the audiovisual market. It is necessary in addition to allow effective access to the market so as to guarantee diversity of overall programme content, reflecting as far as possible the variety of opinions encountered in the society at which the programmes are aimed.[...]
134. The Court observes that in such a sensitive sector as the audiovisual media, in addition to its negative duty of non-interference the State has a positive obligation to put in place an appropriate legislative and administrative framework to guarantee effective pluralism (see paragraph 130 above). [...]
156 [...] positive obligation to put in place an appropriate legislative and administrative framework to guarantee effective media pluralism (see paragraph 134 above).

130. A cet égard, la Cour observe que dans une société démocratique, il ne suffit pas, pour assurer un véritable pluralisme dans le secteur de l’audiovisuel, de prévoir l’existence de plusieurs chaînes ou la possibilité théorique pour des opérateurs potentiels d’accéder au marché de l’audiovisuel. Encore faut-il permettre un accès effectif à ce marché, de façon à assurer dans le contenu des programmes considérés dans leur ensemble une diversité qui reflète autant que possible la variété des courants d’opinion qui traversent la société à laquelle s’adressent ces programmes. [...]
134. La Cour souligne que, dans un secteur aussi sensible que celui des médias audiovisuels, au devoir négatif de non-ingérence s’ajoute pour l’Etat l’obligation positive de mettre en place un cadre législatif et administratif approprié pour garantir un pluralisme effectif (paragraphe 130 ci-dessus). [...]
156 [...] obligation positive de mettre en place un cadre législatif et administratif approprié pour garantir un pluralisme effectif dans les médias (paragraphe 134 ci-dessus).

Thursday, November 24, 2011

EuGH: generelle Internetsperre mit Unionsrecht nicht vereinbar

In der Rechtssache C-70/10 Scarlet Extended hatte sich der EuGH mit der Frage zu befassen, ob eine gerichtliche Anordnung an einen Internet Provider, seinen Kunden generell den Zugang zu urheberrechtlich geschützten Daten aus dem Repertoire einer Verwertungsgesellschaft zu verunmöglichen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. In seinem heutigen Urteil folgt der EuGH den Schlussanträgen des Generalwalts und ist zum Ergebnis gekommen, dass das Unionsrecht einer derartigen generellen Anordnung entgegensteht.

Konkret hat der EuGH ausgesprochen, dass die Richtlinien 2000/31/EG (E-Commerce RL), 2001/29/EG (Urheberrecht-HarmonisierungsRL), 2004/48/EG (Urheberrecht-DurchsetzungsRL),  95/46/EG (DatenschutzRL) und 2002/58 (DatenschutzRL für elektronische Kommunikation)
"in Verbindung miteinander und ausgelegt im Hinblick auf die sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergebenden Anforderungen, [...] dahin auszulegen [sind], dass sie der Anordnung an einen Anbieter von Internetzugangsdiensten entgegenstehen, ein System der Filterung 
– aller seine Dienste durchlaufenden elektronischen Kommunikationen insbesondere durch die Verwendung von „Peer-to-Peer“-Programmen,
– das unterschiedslos auf alle seine Kunden anwendbar ist,
– präventiv,
– auf ausschließlich seine eigenen Kosten und
– zeitlich unbegrenzt
einzurichten, das in der Lage ist, im Netz dieses Anbieters den Austausch von Dateien zu identifizieren, die ein Werk der Musik, ein Filmwerk oder audiovisuelles Werk enthalten, an denen der Antragsteller Rechte zu haben behauptet, um die Übertragung von Dateien, deren Austausch gegen das Urheberrecht verstößt, zu sperren.
Nun überrascht nicht wirklich, dass der EuGH den ausführlich begründeten Schlussanträgen von Generalanwalt Cruz Villalón (dazu hier) im Ergebnis gefolgt ist, zumal die zur Debatte stehende Sperrverpflichtung tatsächlich besonders umfassend war und keine Abwägung, wie sie bei einem Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen Standard ist, erkennen ließ. Mit Spannung war aber erwartet worden, ob sich der EuGH auch grundsätzlicher mit der Reichweite und Bedeutung der Informationsfreiheit nach Art 11 der Grundrechtecharta (GRC) im Hinblick auf Internetsperren bzw Internetfilter auseinandersetzen würde.

Generelle Sperrverpflichtung als Verstoß gegen Art 15 Abs 1 E-Commerce-RL
Zur grundrechtlichen Dimension ist das Urteil aber zunächst einmal recht zurückhaltend und handelt die Fragen im Wesentlichen auf der Richtlinienebene ab, vor allem auch unter Bezug auf das Urteil in der Rs C-324/09 L'Oréal (dort ging es um Markenschutz im Hinblick auf Online-Marktplätze, konkret eBay). Demnach müssen die Mitgliedstaaten "Vermittlern" (zu denen der EuGH in Rn 30 pauschal auch "Provider" zählt) zwar auch Maßnahmen auftragen können, die Verletzungen an Rechten des geistigen Eigentums vorbeugen sollen. Die dafür zu schaffenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften müssen aber (unter anderem) die Beschränkungen der E-Commerce-RL beachten und dürfen daher einen vermittelnden Dienstleister wie einen Provider nicht verpflichten, "sämtliche Daten jedes Einzelnen seiner Kunden aktiv zu überwachen, um jeder künftigen Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums vorzubeugen" (Rn 36).

Da im konkreten Fall feststand, dass die dem ISP aufgetragene "präventive Überwachung eine aktive Beobachtung sämtlicher elektronischen Kommunikationen im Netz des betreffenden Providers erfordern und mithin jede zu übermittelnde Information und jeden dieses Netz nutzenden Kunden erfassen" würde, steht der Anordnung schon Art 15 Abs 1 der E-Commerce-RL entgegen (Rn 41).

Grundrechtliche Abwägung: Eigentumsrecht / unternehmerische Freiheit
Grundrechtliche Positionen waren von beiden Verfahrensparteien des Ausgangsverfahrens ins Spiel gebracht worden und das vorlegenden Gericht hatte ausdrücklich auf Art 8 und 10 EMRK Bezug genommen. Der EuGH prüfte daher weiter, ob dieses - auf Grund der E-Commerce-RL erzielte - Ergebnis mit den Grundrechten im Einklang stand. Dabei liegt der Schwerpunkt - auf den ersten Blick eher überraschend - auf einer Abwägung zwischen dem Eigentumsrecht nach Art 16 GRC und der unternehmerischen Freiheit nach Art 17 GRC.

Zunächst hält der EuGH fest, dass mit der strittigen Anordnung das Ziel verfolgt wurde, den Schutz der Urheberrechte sicherzustellen. Der Schutz des Rechts am geistigen Eigentum ist zwar in Art 17 Abs 2 der Grundrechtecharta verankert, dieses Recht ist jedoch, wie der EuGH in Rn 43-45 des Urteils darlegt, nicht schrankenlos und sein Schutz daher nicht bedingungslos zu gewährleisten (der EuGH verweist dazu insbesondere auf Rn 62 bis 68 des Urteils Promusicae; zu diesem Urteil siehe hier). Weiter heißt es:
"46   Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens müssen die nationalen Behörden und Gerichte daher u. a. ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Rechts am geistigen Eigentum, das Inhaber von Urheberrechten genießen, und dem Schutz der unternehmerischen Freiheit, der Wirtschaftsteilnehmern wie den Providern nach Art. 16 der Charta zukommt, sicherstellen."
Abgewogen wird also zunächst nicht mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit nach Art 11 GRC, sondern mit dem für den betroffenen Provider unmittelbarer relevanten Schutz der unternehmerischen Freiheit (für Juristen interessant: Art 17 GRC gewährt kein Recht auf unternehmerische Freiheit, diese Freiheit wird vielmehr nur "nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt; Dogmatiker sehen darin ganz bedeutende Unterschiede, die den EuGH hier aber offensichtlich nicht an einer direkten Abwägung gehindert haben). Der EuGH stellt jedenfalls fest, dass die strittige Anordnung
"zu einer qualifizierten Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit des Providers führen [würde], da sie ihn verpflichten würde, ein kompliziertes, kostspieliges, auf Dauer angelegtes und allein auf seine Kosten betriebenes Informatiksystem einzurichten, was im Übrigen gegen die Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 verstieße, wonach die Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein dürfen. 
49   Somit ist davon auszugehen, dass die Anordnung, das streitige Filtersystem einzurichten, das Erfordernis der Gewährleistung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen dem Schutz des Rechts am geistigen Eigentum, das Inhaber von Urheberrechten genießen, und dem Schutz der unternehmerischen Freiheit, die Wirtschaftsteilnehmern wie den Providern zukommt, nicht beachtet."
Weitere Grundrechtsdimension: Datenschutz und Informationsfreiheit
Erst in einem dritten Schritt kommen dann die in der Vorlagefrage primär angesprochenen Rechte auf Datenschutz und Informationsfreiheit ins Spiel (das vorlegende Gericht hatte auf Art 8 und Art 10 EMRK als "Gemeinschaftsgrundrechte" Bezug genommen, wohl weil die Grundrechtecharta zum relevanten Zeitpunkt der Ausgansgverfahrens noch nicht in Kraft war; der EuGH erwähnt Art 8 und 10 EMRK in diesem Zusammenhang aber gar nicht mehr und bezieht sich ausschließlich auf Art 8 und 11 GRC). Dass der EuGH erst am Ende seiner Analyse auf diese Bestimmungen eingeht, ist allerdings durchaus folgerichtig: denn die tragenden Gründe für das Ergebnis des konkreten Vorabentscheidungsverfahrens ließen sich schon auf Richtlinienebene finden, im zweiten Schritt war zu prüfen, ob dieses Ergebnis die betroffenen Verfahrensparteien als Grundrechtsträger beeinträchtigte, und erst im dritten - nicht mehr fallentscheidenden! - Schritt ging der EuGH auf die vom vorlegenden Gericht vorrangig angesprochenen Grundrechte ein.

Vor diesem Hintergrund ist natürlich keine umfassende Auseinandersetzung mit den exakten Grenzen eines Eingriffs in die Rechte auf Datenschutz und Informationsfreiheit erforderlich. Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass sich die Wirkungen der Anordnung nicht auf den betroffenen Provider beschränken würden, "weil das Filtersystem auch Grundrechte der Kunden dieses Providers beeinträchtigen kann, nämlich ihre durch die Art. 8 und 11 der Charta geschützten Rechte auf den Schutz personenbezogener Daten und auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen." Zum einen handle es sich bei den zu prüfenden IP-Adressen um personenbezogene Daten, da sie die genaue Identifizierung der Nutzer ermöglichen. Zum anderen könnte die Anordnung die Informationsfreiheit beeinträchtigen, weil das Filtersystem "möglicherweise nicht hinreichend zwischen einem unzulässigen Inhalt und einem zulässigen Inhalt unterscheiden kann, so dass sein Einsatz zur Sperrung von Kommunikationen mit zulässigem Inhalt führen könnte." Das Ergebnis der grundrechtlichen Abwägung zusammenfassend (Rn 53):
"Somit ist festzustellen, dass das fragliche nationale Gericht, erließe es die Anordnung, mit der der Provider zur Einrichtung des streitigen Filtersystems verpflichtet würde, nicht das Erfordernis beachten würde, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen einerseits dem Recht am geistigen Eigentum und andererseits der unternehmerischen Freiheit, dem Recht auf den Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf freien Empfang oder freie Sendung der Informationen zu gewährleisten."
Achtung: wer als ISP selbst filtert, ist nach diesem Urteil nicht geschützt
Der EuGH hat mit diesem Urteil generellen Sperren eine Absage erteilt, konkrete Anordnungen - auf der Grundlage einer entsprechenden gesetzlichen Basis und einer Abwägung der berührten Grundrechtspositionen - sind damit aber keineswegs unzulässig.

Besonders hinweisen möchte ich darauf, dass der Schutz des ISPs in diesem Zusammenhang daran hängt, dass er lediglich die reine Durchleitung im Sinne des Art 12 der E-Commerce-RL anbietet. Das Privileg nach Art 15 Abs 1 der E-Commerce-RL, dass solchen Providern keine allgemeine Überwachungspflicht auferlegt werden darf, fällt weg, wenn der Provider (ua) die übermittelten Informationen auswählt oder verändert. Beginnt der ISP, aus eigenem - sei es auch in vorauseilendem Gehorsam oder im Rahmen einer ihm vielleicht nahegelegten "Selbstregulierung" - ein inhaltliches Filter- oder Sperrsystem aufzubauen, dann verliert er dieses Privileg nach Art 15 Abs 1 E-Commerce-RL, auf dem das ganze hier besprochene EuGH-Urteil aufbaut. 

PS: weitere Blogbeiträge zB bei Telemedicus, RA Stadler, Technollama, s.a. die Pressemitteilung von EDRI mit Q&As; Update 26.11.2011: "5 Fragen zum Netzsperren-Urteil des EuGH" bei Telemedicus, lesenswert auch RA Stadler zur etwas eigenwilligen Interpretation des Urteils durch Prof. Schwartmann (der übrigens relevant genug ist, einen eigenen Wikipedia-Eintrag zu haben, was in Deutschland ja etwas heißen will; erstellt hat den Eintrag übrigens eine studentische Hilfskraft des Professors); zum Verhältnis zur Newszbin-Fall im UK lesenswert auch iOverlord; weiters aus dem UK kNOwfuture, Glyn Moody (der aus meiner Sicht etwas überzogen von einem "turning point in law" schreibt) und IPKat.

Thursday, March 18, 2010

EuGH: Grundsätzliches zur Zulässigkeit obligatorischer Streitschlichtungsverfahren

Der Friedensrichter aus Ischia mag seine Vorlagefragen sehr pauschal und am Rande der Unzulässigkeit formuliert haben (dazu schon hier und in Rn 23-30 des heutigen Urteils), der EuGH hat - den Schlussanträgen von Generalanwältin Kokott (zu diesen hier) folgend - dennoch die Gelegenheit ergriffen, eine ins Grundsätzliche gehende Entscheidung zu obligatorischen Streitschlichtungsverfahren zu treffen. Das heutige Urteil in den verbundenen Rechtssachen C‑317/08, C‑318/08, C‑319/08 und C‑320/08, Alassini ua, betrifft nämlich nicht nur Art 34 der UniversaldienstRL 2002/22/EG, sondern generell die Frage, ob bzw unter welchen Umständen der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes beeinträchtigt sein könnte, wenn ein Mitgliedstaat für die Durchsetzung von Rechten, die durch das Unionsrecht gewährt werden, vor Klagseinbringung zwingend die Durchführung eines Streitschlichtungsverfahrens vorsieht.

Der EuGH folgt in der Sache der stringenten Analyse der Generalanwältin (sodass ich dazu im Wesentlichen auf mein Posting zu den Schlussanträgen verweisen kann), beantwortet die (so nicht gestellte, sondern notwendigerweise kräftig umformulierte) Vorlagefrage aber noch ausführlicher und deutlicher. Demnach steht Art 34 der RL 2002/22/EG einer Regelung eines Mitgliedstaates nicht entgegen, "die in Streitfällen zwischen Endnutzern und Dienstanbietern auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikationsdienste, in denen von dieser Richtlinie verliehene Rechte in Frage stehen, als Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Klage einen obligatorischen Versuch der außergerichtlichen Streitbeilegung vorschreibt."

Daran war ohnehin nicht zu zweifeln. Von größerer Bedeutung ist allerdings der zweite Absatz des Urteilsspruchs:
"Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes stehen einer nationalen Regelung, die für solche Streitfälle die vorherige Durchführung eines außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahrens vorschreibt, gleichfalls nicht entgegen, wenn dieses Verfahren nicht zu einer die Parteien bindenden Entscheidung führt, keine wesentliche Verzögerung für die Erhebung einer Klage bewirkt, die Verjährung der betroffenen Ansprüche hemmt und für die Parteien keine oder nur geringe Kosten mit sich bringt, vorausgesetzt jedoch, dass die elektronische Kommunikation nicht das einzige Mittel des Zugangs zu diesem Streitbeilegungsverfahren bildet und dass Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes in Ausnahmefällen möglich sind, in denen die Dringlichkeit der Lage dies verlangt."
Zur besseren Lesbarkeit hier eine gegliederte Übersicht der vom EuGH postulierten Voraussetzungen, unter denen ein zwingendes Streitschlichtungsverfahren vor Klagseinbringung zulässig ist, wenn es um Rechte geht, die durch Unionsrecht verliehen wurden:
  1. keine bindende Erledigung
  2. keine wesentliche Verzögerung 
  3. Hemmung der Verjährung der betroffenen Ansprüche 
  4. keine oder nur geringe Kosten für die Parteien  
  5. keine reinen "Online-ADR-Verfahren" (elektronische Kommunikation darf nicht das einzige Mittel sein, um Zugang zu diesem Streitbeilegungsverfahren zu erhalten)
  6. Maßnahmen des (gerichtlichen) vorläufigen Rechtsschutzes müssen in dringlichen Fällen möglich bleiben
Die Punkte 2 bis 5 wurden auch bereits von Generalanwälting Kokott formuliert, Punkt 1 dient meines Erachtens eher der Klarstellung, materiell neu gegenüber den Schlussanträgen ist allerdings die Betonung der Notwendigkeit, dass trotz obligatorischem Streitschlichtungsverfahren das Gericht weiterhin in der Lage sein muss, Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zu erlassen.

Zusätzlich zu den oben ausdrücklich genannten Punkten gilt natürlich, dass die Durchsetzung der durch die Union gewährten Rechte nicht gegenüber der Durchsetzung der aus dem nationalen Recht hergeleiteten Rechte benachteiligt sein darf (vgl Rn 51 des Urteils bzw Rn 41 der Schlussanträge).

Im Übrigen fällt auf, dass der EuGH, auch wenn es nicht wirklich entscheidungswesentlich ist, Art 47 der Grundrechte-Charta ("Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht") ausdrücklich zitiert. Die Ausgangsfälle dieses Verfahrens betrafen zwar klassische Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche im Sinne des Art 6 EMRK, sodass sich aus der Bezugnahme auf Art 47 GRC keine materielle Änderung gegenüber dem schon bisher als "Gemeinschaftsgrundrecht" ("gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten") anerkannten Art 6 EMRK ergibt. In Fällen aber, in denen keine "civil rights" iSd EMRK, wohl aber sonstige Rechte, die sich aus Unionsrecht herleiten, gegenständlich sind, kann Art 47 GRC jedoch durchaus zu erweiterten Anforderungen an den Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten führen (rein administrative Instanzenzüge ohne volle gerichtliche Kontrolle scheinen damit jedenfalls nciht mehr vereinbar).