Die Angelegenheit betraf eine im Juli 2000 in einer Mitglieder- und Sympathisanten-Zeitschrift der Wiener Grünen veröffentlichte Persiflage auf ein Wahlplakats der FPÖ Wien. Das Originalplakat hatte den damaligen Wiener FPÖ-Landesparteiobmann Mag. Hilmar Kabas umringt von Frauen und Kindern gezeigt, dazu mit dem Text: "Unser Angebot: Kindergarten kostenlos". In der Zeitschrift der Grünen wurde diese Vorlage so verändert, dass die Abbildung "den von Frauen und Kindern umringten Antragsteller [Mag. Hilmar Kabas] mit einer Adjustierung zeigt, die an die nationalsozialistische Uniform der SA erinnert. Er trägt einen Leibgurt und eine mit einem auffallenden Emblem - allerdings nicht in Form des Hakenkreuzes, sondern des Grußbuchstabens „F" auf weißem Grund - versehene Krawatte. Neben dem solcherart verfremdeten Foto des Antragstellers findet sich unter der Bezeichnung F***** der in Frakturschrift gehaltene Satz 'Unser Angebot: Ehre & Treue'." (zitiert aus dem OGH-Urteil vom 08.05.2008; der OGH anonymisierte in seinem Urteil auch die Parteien und das Druckwerk; da der EGMR die Parteien namentlich nennt und die Anonymisierung "Mag. Hilmar K." den Betroffenen nicht gerade nachhaltig vor Identifizierung schützt, habe ich die Angaben hier auch nicht weiter anonymisiert).
Im Jänner 2001 wurde die Grüne Alternative Wien als Medieninhaberin der Zeitschrift auf Antrag von Mag. Hilmar Kabas in erster Instanz zu einer Entschädigung gemäß § 6 MedienG sowie zur Urteilsveröffentlichung gemäß § 8a Abs 6 MedienG verurteilt. Der Erstrichter meinte, der Leser könne den Bedeutungsinhalt der inkriminierten Publikation "nur dahin auffassen, dass Mag. Hilmar K***** durch die Darstellung in einer Uniform der SA, sohin als Mitglied einer nationalsozialistischen Kampforganistation, eine nationalsozialistische Gesinnung unterstellt, er zumindest in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt bzw ihm geradezu eine Betätigung im nationalsozialistischen Sinn zugeschrieben werde." (wieder zitiert nach dem OGH-Urteil). Vorbringen und Beweisanträge der Grünen wurden vom Erstrichter verworfen. Das OLG Wien gab mit Urteil vom 26.9.2001 der von den Grünen erhobenen Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil nicht Folge.
Die Grüne Alternative Wien wandte sich wegen dieser Verurteilung an den EGMR, der mit Entscheidung vom 2.2.2006 die Zulässigkeit der Beschwerde bejahte. In der Folge behob der OGH aufgrund einer Nichtigkeitsbeschwerde der Generalprokuratur mit Urteil vom 8.5.2008, 15 Os 6/08h, 15 Os 7/08f, das erst- und zweitinstanzliche Urteil und fand darin recht klare Worte:
Unberücksichtigt blieb demnach nicht nur, dass ein Parteigänger des Antragstellers, nämlich Ernest W***** auf dem Landesparteitag der F***** Niederösterreich im Juni 2000 im Zuge der Ehrung langjähriger FPÖ-Mitglieder die dem SS-Leitspruch abgeleitete Parole "Unsere Ehre heißt Treue" verwendet hatte, sondern auch, dass weitere hochrangige Parteifunktionäre diesen durch Äußerungen wie: "Ehre und Treue seien 'Primärtugenden'" (Landesrat Dr. Ewald S*****) und "Es könne 'keine schlechte Sache sein, wenn sich jemand zu Anständigkeit, Treue, Ehrlichkeit und Leistungsbewusstsein bekennt'" (Landeshauptmann Dr. Jörg H*****) unterstützt hatten. In gleicher Weise wurde der Umstand ausgeklammert, dass der gegenständlichen Publikation ein aktuell affichiertes Wahlplakat als Vorlage diente, auf welchem der Antragsteller als Spitzenkandidat der F***** in Wien - mithin als Repräsentant derselben politischen Partei, der auch Ernest W*****, Dr. Ewald S***** und Dr. Jörg H***** angehörten - mit dem Werbeslogan "Unser Angebot: Kindergarten kostenlos" zu sehen war.Nach diesem Urteil betrieb Hilmar Kabas das Verfahren verständlicher Weise nicht mehr weiter, zahlte die bereits erhaltene Entschädigung zurück und erstattete die Verfahrenskosten.
Diese Aspekte wären jedoch von entscheidender Bedeutung gewesen, hätten sie doch - im Einklang mit den oben dargestellten Interpretationskriterien, insbesondere zu politischer Karikatur und Vorwissen des angesprochenen Leserkreises - die Konstatierung eines anderen Bedeutungsinhalts der inkriminierten Veröffentlichung dahin ermöglicht, dass die aktuellen Äußerungen und die Haltung der (damaligen) Führungsschicht der F*****, welcher auch der Antragsteller angehörte und welche die öffentliche Verwendung einer aus dem Leitspruch des SS stammenden Wortfolge anlässlich der Ehrung von Parteimitgliedern als völlig unbedenklich eingestuft hatte, angesichts der darüber zum Veröffentlichungszeitpunkt geführten breiten Diskussion - insbesondere durch Bezugnahme auf die Worte "Ehre" und "Treue" (als Angebot der F*****) - im Rahmen eines angemessenen Kommentars über eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses einer kritischen Betrachtung unterzogen wurden. Davon ausgehend hätte die Frage, ob fallbezogen ein im Sinn des § 111 StGB nicht tatbestandsmäßiges, auf Spitzenfunktionäre einer politischen Partei bezogenes Werturteil, dem ein entsprechendes Tatsachensubstrat zugrunde lag, in nicht exzessiver Form zum Ausdruck gebracht wurde, zu Gunsten der Antragsgegnerin beantwortet werden können.
Wie der EGMR in seinem heutigen Urteil ausführt, hatten die Wiener Grünen damit eine Position erreicht, wie sie normalerweise - nach Feststellung einer Verletzung des Art 10 EMRK durch den EGMR - im Rahmen einer Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO erreicht werden könnte. Die Folgen einer Verletzung des Art 10 EMRK seien durch das Urteil des OGH ausgeglichen worden. Der EGMR konnte daher das Verfahren aus dem Register streichen und über die noch geltend gemachten Verfahrenskosten nach freiem Ermessen entscheiden; dabei fand er es angemessen, die Republik Österreich zum Kostenersatz gegenüber den Wiener Grünen zu verurteilen.
Im Ergebnis hat sich damit auch bewährt, dass das Justizministerium unter der damaligen Justizministerin Maria Berger bei der Generalprokuratur angeregt hat, in den Fällen, in denen nach rechtskräftigen Strafurteilen der Oberlandesgerichte Beschwerden unter Art 10 EMRK an den EGMR erhoben wurden, die Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde zu prüfen (siehe zB diese Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage). In den von der Generalprokuratur aufgegriffenen Fällen konnte damit schon vor einem Urteil des EGMR die Verletzung des Art 10 EMRK aufgegriffen und der Fall vor dem EGMR damit bereinigt werden; dies betraf neben dem nun erledigten Fall Grüne Alternative Wien auch die Fälle Verlagsgruppe News GmbH (Nr. 3), Standard Verlags GmbH sowie Standard Verlags GmbH und Rottenberg (medienrechtliche Antragsteller in den Ausgangsverfahren in Österreich waren übrigens Siegfried Kampl, Peter Westenthaler und Nikolaus Amhof); siehe dazu auch die Übersicht über Art 10 EMRK-Verfahren betreffend Österreich hier.
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