Tuesday, November 22, 2011

Beleidigter Toter? Der EGMR zum Schutz der Ehre eines seit über 30 Jahren toten Politikers

De mortuis nil nisi bene: die alte lateinische Redensart, dass man über Tote nur Gutes (oder gar nichts) sagen soll, hat ein Sohn und Erbe des 1962 verstorbenen früheren maltesischen Ministerpräsidenten Sir Paul Boffa offenbar nicht nur als moralische, sondern auch als rechtliche Maxime genommen. Denn als eine maltesische Zeitung 1994 einen Leserbrief  veröffentlichte, in dem - eher nebenbei - behauptet wurde, eine Änderung der Flächenwidmung in Xemxija sei erfolgt, weil Sir Boffa dort bauen wollte, klagte der Sohn auf Entschädigung wegen Beleidigung: seinem Vater sei damit eine verwerfliche Absicht unterstellt worden.

Das Verfahren zog sich über mehrere Gerichtsebenen, bis mit einem endgültigen Urteil des Verfassungsgerichtshofs im Oktober 2009 feststand, dass der Leserbriefschreiber John Mizzi (übrigens selbst Journalist, der überdies mit Sir Boffa befreundet gewesen war) dem Sohn von Sir Boffa eine Entschädigung von 700 € wegen der Beleidigung zahlen musste.

Die daraufhin von John Mizzi erhobene Beschwerde hatte vor dem EGMR Erfolg (Urteil vom 22.11.2011, Mizzi gegen Malta, Appl. no. 17320/10; Pressemitteilung des EGMR): Außer Streit stand, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorlag und dass dafür eine ausreichende gesetzliche Grundlage bestand, die dem legitimen Ziel diente, den guten Ruf und die Rechte anderer zu schützen. Der EGMR verneinte aber, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Dazu prüfte er zunächst den inkriminierten Satz des Leserbriefs (auch im Original in englischer Sprache, erschienen in der englischsprachigen Sunday Times of Malta): "After the war, during the administration of Dr Boffa, permission was given for buildings to be erected on the northern part of the bay because Dr Boffa wanted to build there".Während die maltesischen Gerichte angenommen hatten, damit sei Sir Boffa die Absicht unterstellt worden, er habe persönlich dort bauen wollen, kam der EGMR - dem Beschwerdeführer folgend - zum Ergebnis, dass man das vernünftig auch dahin verstehen könnte, dass Sir Boffa nicht selbst hätte bauen wollen. Tatsächlich war in der Folge dort gebaut worden, sodass auch eine ausreichende Tatsachengrundlage vorlag. Die Aussage müsse zudem im Zusammenhang des Leserbriefs gelesen werden, zu berücksichtigen wäre, dass es sich bei der beleidigten Person um eine "public fugure" gehandelt hat, und schließlich sollte auch nicht unbeachtet bleiben, dass diese Person zum Zeitpunkt der "Beleidigung" schon mehr als 30 Jahre tot war. Im Detail heißt es im Urteil:
"37. [...] The Court notes that the impugned statement, whatever its meaning may be, was a mere historic sideline to an article which dealt with a totally different subject matter. It held no prominence in the writing; it was of little significance, was written in the calmest of tones and could hardly be considered as provocative or exaggerated in that specific context.
38. Furthermore, the domestic courts did not give any weight to the fact that the person who they found to have been defamed was a former prime minister, and thus a politician and public figure who was subject to wider limits of acceptable criticism (see Lombardo and Others v. Malta, no. 7333/06, § 54, 24 April 2007) and that the article covered a subject of at least some public interest.
39. The Court further notes that the said prime minister was deceased at the time the letter was written. Indeed, the person who sued the applicant and to whom damages were awarded was not the defamed person, but his heir. In this respect, although the possibility of bringing such an action existed in the Maltese legal system, like in other countries, and though this has never raised an issue, as such, before the Court [...], it is of the view that this element should have been considered by the domestic courts when assessing the proportionality of the interference. [...]
40. In conclusion, the Court considers that the domestic courts’ decisions, narrow in scope, reiterating what, in their view, was implied by the impugned statement, and upholding the right of reputation without explaining why this outweighed the applicant’s freedom of expression and without taking into consideration other relevant factors, cannot be considered to fulfil the obligation of the courts to adduce 'relevant and sufficient' reasons which could justify the interference at issue."
Weniger bemerkenswert als das Ergebnis, dass der Beschwerdeführer durch die Verurteilung demnach in seinen Rechten nach Art 10 EMRK verletzt worden war, ist der Umstand, dass das Urteil nicht einstimmig zustandekam, sondern gegen die Stimme des für Malta tätig gewordenen (ad hoc-)Richters David Scicluna (sonst Richter am Strafberufungsgericht in Malta). Seine dem Urteil beigefügte abweichende Meinung zeigt große Entfernung zu allem, was am EGMR in Artikel 10-Fällen mehrheitsfähig ist.

Der Präsident des EGMR und Vorsitzende der hier entscheidenden 4. Kammer, Sir Nicolas Bratza, gab hingegen ein zustimmendes Separatvotum ab, in dem er sich kritisch mit der grundsätzlichen Frage befasst, ob bei Verstorbenen überhaupt eine - von ihren Nachkommen geltend zu machende - Beleidigung in Frage kommt. Er verweist darauf, dass die Veröffentlichungen in den Fällen Editions Plon und Hachette Filipacchi Associés, in denen der EGMR Ansprüche von Hinterbliebenen anerkannt hat, direkte und unmittelbare Auswirkungen auf das Privat- und Familienleben der unmittelbaren Familie des Verstorbenen gehabt hatten; außerdem war es dabei nicht um Beleidigungen gegangen. Bei Beleidigungen müsse anderes gelten:
"In the case of defamation, the situation appears to me to be different: the defamatory statement, while doubtless affecting the reputation of the deceased ancestor, has in my view no direct impact on the private or family life of the descendants. The exposure of an individual in such a case to an action in damages for defaming the deceased ancestor of a family is likely to have a seriously chilling effect on the right of freedom of expression, particularly in a case where many years have passed since the death and the burden of proving the truth of the allegation lies on the defendant in any such action. In my view, even if such an action is in principle compatible with the requirements of Article 10, when striking the balance between the competing interests, the weight to be attached to the reputation of the deceased individual must diminish with the passing of the years and that attaching to freedom of expression must correspondingly increase."

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