Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte zuletzt im Juni dieses Jahres im Fall Aquilina ua gegen Malta (Appl. no. 28040/08; siehe dazu im Blog hier) zugunsten einer Gerichtsreporterin erkannt, die bei einer turbulenten Verhandlung den Eindruck gewonnen hatte, dass der nicht erschienene Anwalt der Missachtung des Gerichts für schuldig befunden wurde (obwohl das Gericht tatsächlich nur festgehalten hat, dass das anwaltliche Verhalten an Missachtung des Gerichts grenze).
Auch im Fall Semik-Orzech gegen Polen (Appl. no. 39900/06) ging es um einen Zeitungsbericht über einen nicht zu einer Verhandlung erschienenen Anwalt. In seinem heutigen Urteil in dieser Rechtssache stellte der EGMR allerdings (einstimmig) fest, dass durch die Verurteilung einer polnischen Journalistin wegen des in ihrem Prozessbericht enthaltenen Vorwurfs, der Anwalt sei nachlässig gewesen, keine Verletzung des Art 10 EMRK erfolgte.
Zum Verfahren vor den nationalen Gerichten
Ausgangspunkt war ein Strafprozess über einen großangelegten Betrugsfall, der auch auf heftiges Medieninteresse stieß. Angeklagt waren mehrere Personen, zwei von ihnen wurden (exklusiv) vom Anwalt J.Z. vertreten, ein dritter Angeklagter zunächst gemeinsam von J.Z. und einer anderen Anwältin (D.K.). J.Z. erteilte dieser Anwältin auch Untervollmacht. In der ersten Verhandlung wurde heftig darüber debattiert, ob es Interessenkonflikte im Hinblick auf die Verteidigung der beiden von J.Z. exklusiv vertretenen Angeklagten einerseits und des dritten Angeklagten andererseits gäbe; J.Z. legte daraufhin die Verteidigung des dritten Angeklagten nieder.
An der nächsten Verhandlung konnte J.Z. nicht teilnehmen und informierte seine Klienten über die an D.K. erteilte Substitutionsvollmacht. In dieser Verhandlung sprach das Gericht jedoch aus, dass die Vertretung aller drei Angeklagten durch D.K. wegen eines Interessenkonflikts nicht zulässig sei. Die Verhandlung musste daher vertagt werden. Die Beschwerdeführerin vor dem EGMR veröffentlichte daraufhin in der Zeitung Dziennik Zachodni einen Artikel unter der (vom EGMR so ins Englische übersetzten) Überschrift "A Lawyer's Nonchalance?" ("Nachlässigkeit eines Anwalts?"). Darin behauptete sie, der Anwalt J.Z. sei zur Verhandlung unentschuldigt nicht erschienen und habe lediglich eine andere Anwältin gebeten, ihn zu vertreten. Das Gericht habe wegen des Interessenkonflikts, der dem Anwalt J.Z. bewusst gewesen sei, vertagen müssen. Es sei schwer, die Abwesenheit des Anwalts nicht als Missachtung des Gerichts zu sehen, schließlich hätte er wissen müssen, wie er eine Abwesenheit hätte rechtfertigen müssen.
Der Anwalt verlangte eine Richtigstellung, die von der Zeitung allerdings nicht vorgenommen wurde. Ein paar Tage später wurde das Schreiben des Anwalts als Leserbrief veröffentlicht, mit einem ablehnenden Kommentar der Journalistin, die darin die Vorwürfe im Wesentlichen wiederholte. Der Anwalt klagte wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte und erhielt das Recht auf Entschuldigung und Richtigstellung in der Zeitung zugesprochen; die Journalistin und der Chefredakteur mussten 30.000 Zloty (ca. 6.800 Euro) zugunsten wohltätiger Zwecke zahlen.
Das Gericht stellte im Wesentlichen fest, dass das mögliche Vorliegen eines Interesenkonflikts zwar bei der ersten Verhandlung erörtert worden war, dass aber nach dem Protokoll dieser Verhandlung vom Gericht festgehalten worden war, dass zu diesem Zeitpunkt keine Grundlage für die Annahme eines Interessenkonflikts bestanden habe. Erst bei der zweiten Verhandlung sei vom Gericht ausgesprochen worden, dass ein Interessenkonflikt vorliege. Auch habe der Anwalt bereits bei der ersten Verhandlung gewusst, dass er an der zweiten Verhandlung nicht werde teilnehmen können und habe deshalb die Untervollmacht erteilt, die von der anderen Anwältin auch angenommen worden sei. Der Anwalt habe keinen Grund für die Annahme gehabt, dass sein Fernbleiben bei der zweiten Verhandlung den Verfahrensablauf stören könnte. Der Vorwurf, der Anwalt habe sich unprofessionell verhalten, sei daher nicht zutreffend gewesen, er sei weder unentschuldigt der Verhandlung ferngeblieben, noch habe er seine Klienten erst kurzfristig informiert. Die Reporterin hatte den Anwalt vor der Berichterstattung auch nicht kontaktiert.
Das Urteil des EGMR
Der EGMR rekapituliert wie üblich die grundlegenden Rechtsprechungslinien, und hier würde ich zunächst einmal den Absatz 45 des Urteils insbesondere jenen ans Herz legen, die sich aus Anlass aktueller Entscheidungen Wiener Gerichte ("journalistischer Bettnässer", "durch Inserate beeinflusste Berichterstattung"; die Links gegen jeweils zu Standard-Berichten, die - erstinstanzlichen - Urteile sind nicht veröffentlicht) über Begriffe wie "Tatsachensubstrat" und "Wertungsexzess" lustig gemacht haben. Der EGMR hatte - da sowohl das Vorliegen eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit, als auch die gesetzliche Grundlage und das legitime Ziel unstrittig waren - nur mit der Frage zu befassen, ob die konkrete Einschränkung auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Der EGMR betonte, wie schon im Fall Aquilina, dass das Verhalten des Anwalts in der öffentlichen Verhandlung eine Angelegenheit öffentlichen Interesses ist. Der als Tatsache berichtete Vorwurf der Nachlässigkeit war faktisch unrichtig. Weiter war festzustellen, dass die Beschwerdeführerin selbst nicht mit der notwendigen Sorgfalt vorgegangen war: sie hatte - obwohl es sich um einen schwerwiegenden Vorwurf handelte - nicht einmal versucht, den Anwalt zu erreichen und auch nicht, was ihr möglich gewesen wäre, die Gerichtsprotokolle konsultiert."The applicant, in her desire to get the news out quickly, failed to consult trustworthy sources". Und schließlich hatte die Zeitung die Veröffentlichung einer Richtigstellung abgelehnt.
Ausdrücklich befasst sich der EGMR mit der Argumentation des zweitinstanzlichen polnischen Gerichts, wonach Journalisten bei der Gerichtsberichterstattung nur die Fakten berichten und nicht eigene Meinungen präsentieren sollten. Dies wird, wenig überraschend, deutlich abgelehnt:
62. The Court notes that the appellate court suggested that journalists in judicial reporting were obliged to limit their reports to statements of fact and abstain from presenting their own opinions [...]. There is no authority in the Court’s case-law for such a statement and such an approach does not appear to be compatible with the role of the press in ensuring the public character of judicial proceedings and their transparency and fairness. While the Court has stressed the importance of journalistic objectivity and balance in the context of judicial reporting [..], it is of the view that it is of primary importance for the proper functioning of judicial systems that journalists are free not only to inform the general public about the factual aspects of cases examined by the courts, but also to formulate and disseminate their views and opinions on important issues involved in or connected with the subject-matter of cases under judicial consideration. In the same vein, it is important that the courts have an opportunity to obtain feedback on how their acts and judicial decisions are understood and regarded by the public. Such knowledge contributes to the quality of judicial decision-making and to a better understanding by society at large of the complexity of the issues involved in the administration of justice." (Hervorhebung hinzugefügt)Dennoch konnte in der Verurteilung der polnischen Journalistin keine Verletzung des Art 10 EMRK gesehen werden, denn vor allem das erstinstanzliche Gericht hatte erkannt, dass ein Konflikt zwischen dem Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung und dem Schutz des guten Rufs und der Rechte des Anwalts vorlag und eine sorgfältige Abwägung der beteiligten Interessen vorgenommen. Ausschlaggebend war schließlich vor allem, dass die Journalistin im hier vorliegenden Fall, anders als die Journalistin im Fall Aquilina, nicht sorgfältig gewesen war, und dass auch keine Richtigstellung oder eine Entschuldigung gedruckt worden war:
"In particular, the first-instance court adopted the test of adequate diligence in assessing whether the journalist had discharged her obligations. The approach taken by the courts is therefore compatible with freedom of expression guaranteed by Article 10 of the Convention [..]. The Court notes that the present case is to be distinguished from the case of Aquilina and Others v. Malta, [...] , where all the evidence heard by the domestic courts in the defamation proceedings against the applicants clearly indicated that the magistrate [...] had made a finding of contempt of court in respect of the lawyer appearing for the accused. In that case, however, the domestic courts (in the defamation proceedings) paid little or no attention to this evidence, preferring to rely on the brief and apparently incomplete record of the proceedings before the Court of Magistrates [...]. Moreover in that case the court reporter had shown due diligence in attempting to verify the facts, and the newspaper had published an apology two days later [...]."
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